Cevdet Erek

«À bruit secret»: Der Hörsinn im Museum Tinguely

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Unter dem Titel «A bruit secret» lädt das Museum Tinguely in Basel vom 22. Februar bis 14. Mai 2023 zur Erkundung der künstlerischen Auseinandersetzung mit unserem Hörsinn ein. Die Ausstellung ist die vierte eines Zyklus, der den fünf menschlichen Sinnen gewidmet ist. Mit grosser Sorgfalt kuratiert von Annja Müller-Alsbach, demonstriert die Schau mit Arbeiten von 25 Künstlerinnen und Künstlern die ganze Breite unserer auditiven Erfahrungen. Zu sehen sind Skulpturen, multimediale Installationen, Fotografien, Papierarbeiten und Gemälde vom Barock bis in die Gegenwart. Besonders interessant sind die Überschneidungen von bildender Kunst und musikalischer Kreation. Der kanadische Musiker und Komponist Raymond Murray Schafer (1933-2021) unterschied drei verschiedene «Soundscapes» (Klanglandschaften): natürliche, technische und menschliche. «R. Murray Schafer», heisst es in der Einführung zur Ausstellung, «forderte eine Sensibilisierung unseres Hörsinns und legte auch wichtige Grundlagen für die sogenannte Ökoakustik, das Festhalten und Erforschen der sonoren Veränderungen unserer Ökosysteme durch Umwelteinflüsse und menschliche Eingriffe.» Diese akustische Sensibilisierung soll auch das Publikum im Museum Tinguely erleben. Zunächst durch Arbeiten mit Naturgeräuschen, aber auch anhand von Schlüsselwerken der Moderne, darunter das titelgebende Readymade «À
Duchamp
bruit secret (With Hidden Noise)» von Marcel Duchamp (1887-1968) aus dem Jahr 1916 oder die Werke italienischer Futuristen, die für ihre Arbeiten Verkehrsgeräusche verwendeten und – Vorbote ihrer späteren faschistischen Verirrung – den Schlachtenlärm des Ersten Weltkriegs bewunderten. Praktisch gleichzeitig erforschten die Dadaisten, mit ihnen auch Kurt Schwitters (1887-1948), die Möglichkeiten von Lautgedichten. Andere wie Robert Rauschenberg (1925-2008) oder Jean Tinguely (1925-1991) verwendeten in ihren Schrott-Installationen Töne als bildhauerisches Material, indem sie Maschinen konstruierten, die, animiert durch das anwesende Publikum, Musik oder wenigstens Geräusche erzeugten.

Für seine raumgreifende (und zum ersten Mal in der Schweiz ausgestellte) Installation «Oracle» von 1962/1965 liess Rauschenberg zum Beispiel von Billy Klüver (der 1960 Jean Tinguely geholfen hatte, die sich selbst zerstörende Skulptur «Homage to New York» zu bauen) und seinem Ingenieurkollegen Harold Hodges in jedes der fünf Elemente
Rauschenberg
Transistorradios, Verstärker und Lautsprecher einbauen, die einen undefinierbare Klangteppich aus Radiopprogramm-Fetzen erzeugten. Auch hier kam dem Publikum eine mitwirkende Rolle zu. Dasselbe gilt für das «Fernquartett» von Dieter Roth (1930-1998), eine Art Jukebox, mit der einzelne, von Roth selbst (Klavier) und seinen Kindern Vera (Violine), Karl (Viola) und Björn (Cello) auf Tonband festgehaltene Musikstücke abgespielt werden können. Von einem harmonischen Quartett kann dabei nie die Rede sein, vielmehr erzeugt die Maschine eine dissonante Melange aus Tonfolgen dilettantisch gespielter Instrumente.

Sind in den ersten Räumen der Ausstellung, die sich über ein Dutzend Stationen auf drei Stockwerken des Museums erstreckt, grosso modo die erwartbaren Artefakte zu sehen, so wartet die Kuratorin im weiteren Verlauf des Parcours mit zahlreichen Überraschungen auf. Sie zeigt, wie in den zahlreichen jüngeren Arbeiten die Kunst mit einer
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wissenschaftlichen Fundierung auftritt. Der Zürcher Marcus Maeder (geb. 1971 in Zürich), der zunächst Kunst und Philosophie studierte, sich für elektronische Musik engagierte und derzeit in Umweltwissenschaften doktoriert, gestaltet aus Schallemissionen eines Urwaldbaumes und seiner Regenwald-Umgebung eine eigene Komposition, die in einem kegelförmigen Gehäuse zu hören und in einer Videoprojektion zu sehen ist. Die Tonaufnahmen, die während drei Tagen im Zehnminuten-Intervallen aufgenommen wurden, kombiniert Maeder mit einem flötenartigen Sound, in den er die Messdaten über die Kohlendioxid-Konzentration auf drei verschiedenen Höhen des Baumes übersetzt hat.

Auch Dominique Koch (geb. 1983 in Luzern) nutzt naturwissenschaftliche Forschung für ihre künstlerische Arbeit. Zusammen mit ihrem Bruder, dem Musiker und Komponisten Tobias Koch, machte sie im Erdreich von La Becque am Genfersee mit Spezialmikrofonen Aufnahmen von gewöhnlich unhörbaren Geräuschen. Anschliessend materialisierte sie das bioakustische Material in einer Glaswerkstatt zu zufällig geformten Artefakten, indem sie den durch die Schallwellen erzeugten Luftdruck zum Glasblasen verwendete. So erstarrten flüchtige Töne und Geräusche zu festen, dauerhaften «Sound Fossils».

Biemann
Der Forschung verpflichtet fühlt sich auch Ursula Biemann (geb. 1955 in Luzern), die sich für ihre künstlerischen Projekte in abgelegene Gegenden begibt. Ihre Video-Arbeit «Acoustic Ocean», welche den Sound des Ozeans erlebbar machen will, spielt auf den Lofoten. Ihre Protagonistin, eine fiktive Meeresforscherin gespielt von der schwedisch-samischen Sängerin Sofia Jannock, bereitet zu Beginn des Films die technischen Geräte für die Tonaufnahmen vor. Wir hören sie singen, und in der Folge ist die ozeanische Tonlandschaft mit ihr zu hören.

Zwei weitere Arbeiten, die wässerige Klanglandschaften erlebbar machen, haben uns besonders beeindruckt: Christina Kubisch (geb. 1948 in Bremen), auch sie musikalisch und künstlerisch ausgebildet, installierte eigens für die Ausstellung ihre Arbeit «Il reno», eine 12-Kanal-Komposition mit Tonaufnahmen, die sie in Basel mit Unterwassermikrofonen an verschiedenen Orten im Rhein gemacht hat. Gleich zu Beginn der Ausstellung erhält das Publikum Gelegenheit, per Induktionskopfhörer diese
Kubisch
Wassermusik zu hören, indem es auf der Barca, der verglasten Passerelle zum Rhein hin, den am Boden verlegten blauen Kabeln folgt.

Das zweite besonders eindrückliche Werk ist das letzte der Ausstellung: Auf einem Tisch liegt ein Buch mit Anweisungen des Künstlers Cevdet Erek (geb. 1974 in Istanbul), so mit kreisenden Handbewegungen über den an der Wand hängenden Teppich zu streichen, dass dabei das Geräusch von Meereswellen evoziert wird. Die ganz einfache, auf den ersten Blick irritierende Installation ist ein Musterbeispiel für die Fähigkeit, mit einem Kunstwerk ein subjektives künstlerisches Erlebnis zu schaffen, das ohne Mitwirkung des Publikums nicht zustande käme.

Die Fülle der Eindrücke, welche die Ausstellung «À bruit secret» für die Besucherinnen und Besucher bereit hält, ist mit diesen wenigen Beschreibungen nicht erschöpft. Es gibt sehr viel zu sehen und zu hören. Die Künstlerinnen und Künstler stellen mit ihren Werken viele Fragen. Es lohnt sich, sich für sie Zeit zu nehmen, auch wenn viele nicht gültig zu beantworten sind. Hilfreich sind die ausführlichen Saaltexte,
die hier auch als PDF zur Verfügung stehen.

Illustrationen: Ausstellungsbanner (Website des Museums). Marcel Duchamp: «À bruit secret» ©Association Marcel Duchamp/2023 ProLitteris, Zürich. Robert Rauschenberg: «Oracle». Robert Rauschenberg Foundation/2023 ProLitteris, Zürich. Marcus Maeder:«Espirito da floresta/Forest spirit Florest» Courtesy of the artist/2023 ProLitteris, Zürich. Ursula Biemann: «Acoustic Ocean» Installationsansicht (Ausschnitt) ©Ursula Biemann; Foto: Margot Montigny. Christina Kubisch: «Il reno». Installationsansicht Museum Tinguely. ©Museum Tinguely, Basel; Foto: Daniel Spehr.

Radiophonic Spaces im Muesum Tinguely

Einmal mehr profiliert sich das Museum Tinguely in Basel als eine besonders experimentierfreudige Institution der Kunstvermittlung. In Zusammenarbeit mit der Bauhaus-Universität in Weimar und dem medienwissenschaftlichen Institut der Uni Basel lädt das Museum vom 23. Oktober 2018 bis zum 27. Januar 2019 zur Erkundung der Radiokunst-Geschichte ein. Unter dem Titel «Radiophonic Spaces» gibt es in der Ausstellung nichts zu sehen, dafür umso mehr zu hören. Besucherinnen und Besucher erhalten beim Eingang ein speziell präpariertes Smartphone und Kopfhörer, mit deren Hilfe sie 210 sorgfältig ausgesuchte Programme erleben können. Wer will, kann sich wie eine menschliche Sendersuchnadel auf einem klassischen Radiogerät durch den vom Multimedia-Künstler Cevdet Erek gestalteten Raum bewegen und dabei Ausschnitte von Radiostücken hören. Bei besonderem Interesse ist es möglich, das ganze Werk zu hören und an Bildschirm-Stationen zusätzliche Informationen und Querverweise abzufragen. Es ist unschwer vorauszusagen, dass nur eine Minderheit des Publikums die Fülle von Möglichkeiten nutzen kann. Das aufwändige Vermittlungskonzept, das aus einem dreijährigen, von Prof. Nathalie Singer geleiteten wissenschaftlichen Forschungsprojekt der Weimarer Bauhaus-Universität hervorging, wird viele überfordern. Denn das Fehlen von Bild-Elementen im Ausstellungsraum und der Einsatz technischen Geräts machen das Eintauchen in die Geschichte der Radiokunst zu einem anspruchsvollen Abenteuer. Wer den Mut (und die Zeit) aufbringt, sich darauf einzulassen, wird allerdings reich belohnt.

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Eine grosse Hilfe bietet eine kostenlose Begleitbroschüre mit einer Anleitung zur Benutzung der technischen Gerätschaften und der eindrücklichen Liste aller 210 Archivstücke. Darunter sind Hörspiele und experimentelle Musikstücke sowie beispielhafte historische Tonaufnahmen, die weit über die akademische Radioforschung hinaus ein breites Publikum interessieren können: Da ist zum Beispiel Kaiser Wilhelm II. mit einem «Aufruf an das Deutsche Volk» zu hören oder Adolf Reichenberg, der seiner Frau 1899 einen Phonographen zum Geschenk machte und ihr die Neuigkeit auf einer von ihm besprochenen Wachswalze gleich selbst mitteilte. Zum Angebot gehören sodann Grammophonplatten-Experimente von Paul Hindemith und John Cage, oder das epochemachende Hörspiel «The War of the Worlds» von Orson Welles, das 1938 den Überfall von Ausserirdischen auf New York so realistisch erlebbar machte, dass in der Stadt Panik ausbrach. Besondere Beachtung verdienen auch die Hörspiele aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, darunter das Rückkehrer-Drama «Draussen vor der Tür» von Wolfgang Borchert, das am 13. Februar 1947 vom NWDR gesendet wurde. (Die Hamburger Uraufführung der Bühnenfassung am 21. November desselben Jahres erlebte Borchert nicht mehr. Er starb, 26-jährig, am Tag davor im Claraspital in Basel.) Die Liste der Preziosen liesse sich fast beliebig erweitern…

Das Museum Tinguely und der verantwortliche Kurator Andres Pardey verlassen sich allerdings nicht darauf, dass ein wissenschaftlich oder historisch weniger interessiertes Publikum automatisch in die Ausstellung drängen wird. Deshalb gruppierten sie rund um die Ausstellung 15 begleitende Themenwochen. In der ersten sind zum Beispiel jeden Tag um 11.30 Uhr und um 15 Uhr zwei Spielfilme zum Thema Radio zu sehen, und in der zweiten können Besucherinnen und Besucher mit Hilfe von Amateurfunkern der Station «Notfunk Birs HB9NFB» selbst Radiosignale senden und empfangen. Auf grosses Interesse wird in der neunten Themenwoche auch die Möglichkeit stossen, unter Anleitung einen eigenen Radioapparat zu bauen. Auch viele weitere Angebote setzen auf die aktive Teilnahme des Publikums. Alle Details sind der
Website des Museums zu entnehmen.

Nicht überraschend gibt es in der Ausstellung auch ein eigenes Radiostudio. «RadioTinguely» (
www.tinguely.ch/radiotinguely) geht jeden Sonntag um 17 Uhr auf Sendung und berichtet live, moderiert vom bekannten Basler Radiojournalisten Roger Ehret, über die Höhepunkte der vergangenen Themenwoche.