Kunst und Kultur

«Dan Flavin – Widmungen aus Licht» im Kunstmuseum Basel

Porträt Flavin
Unter dem Titel «Widmungen aus Licht» zeigt das Kunstmuseum Basel vom 2. März bis zum 18. August 2024 eine grosse Retrospektive auf das Werk des Künstlers Dan Flavin (1933-1996). Berühmt wurde der Amerikaner ab 1963 mit ersten Lichtskulpturen aus industriell gefertigten Leuchtstoffröhren. Der Kurator Josef Helfenstein, bis Ende 2023 Direktor des Museums, und die Kuratorinnen Olga Osadtschy und Elena Degen präsentieren 58 Werke, von denen einige noch nie in der Schweiz zu sehen waren, und eine kleine Anzahl von Werken, die zu Beginn der künstlerischen Karriere entstanden sind. Zu den in neun Räumen arrangierten Werken. Flavin wuchs mit seinem Zwillingsbruder im New Yorker Stadtteil Queens in einem streng katholischen Milieu auf. Wäre es nach seinen Eltern gegangen, hätte er Priester werden sollen.Stattdessen gingen die Brüder 1953 nach dem Schulabschluss zur Luftwaffe, wo Dan während des Koreakriegs im Hauptquartier in Südkorea zum Flugwetter-Techniker ausgebildet wurde und später auf einem Stützpunkt im Staat New York Dienst leistete. In seiner Freizeit widmete sich Flavin intensiv der Kunst: Er skizzierte und zeichnete viel, wie seit seiner Jugend schon; er besuchte Museen und Galerien. Auf einer Dienstreise nach Japan, wo er eine Zeichnung von Auguste Rodin erwarb, fing er an, eine eigene Kunstsammlung anzulegen. Nach dem Ende seiner Dienstzeit schrieb er sich an der Columbia University für ein Studium der Kunstgeschichte ein und begann, sich ernsthaft künstlerisch zu betätigen, indem er Zeichnungen, Aquarelle und Collagen anfertigte. Einige dieser frühen Arbeiten, darunter «Apollinaire wounded», eine Assemblage mit einer zerdrückten Aluminiumdose, Ölfarbe und Bleistift auf einer Unterlage aus Hartfaser, Gips und Holz, sind in der Ausstellung zu sehen.

Während seiner weitgehend autodidaktischen künstlerischen Lehrjahre hielt sich Flavin mit Aushilfsjobs in New Yorker Museen über Wasser. Er arbeitete in der Poststelle des Guggenheim-Museums, wo er den Maler Ward Jackson (1928-2004) kennenlernte, der zu einem wichtigen Berater und Freund wurde. Später jobbte er im Museum of Modern Art als Aufseher und Liftboy und machte Bekanntschaft mit den Künstlern Sol LeWitt (1928-2007), Michael Venezia (geb. 1937), Robert Ryman (1930-2029), Ralph Iwamoto (1927-2013) und Robert Mangold (geb. 1937). Einige Zeit später begegnete er auch Donald Judd (1928-1994), mit dem er immer freundschaftlich verbunden blieb.

the diagonal of May 25, 1963 (to Constantin Brancusi)
Man darf es bedauern, dass Flavins frühen Arbeiten und besonders seinen Zeichnungen in der aktuellen Ausstellung nur eine Nebenrolle zukommt, denn die Licht-Installationen, welche die Schau naturgemäss dominieren, sind für das interessierte, aber nicht fachkundige Publikum schon nach kurzer Zeit nicht viel mehr als «more of the same»: Die Präsentation derart zahlreicher farbiger Leuchtstoffröhren-Arrangements wirkt verwirrend, das Flimmern und das Knistern der Lichtquellen irritiert. Und wer sich die Mühe nimmt nachzusehen, wem die eineinzelnen Werke zugeeignet sind, bleibt auf der Suche nach einer Verbindung zumeist ratlos. Flavin selbst warnte davor, diese Widmungen allzu ernst zu nehmen: «Manche Leute», sagte er in einem Interview, das Arthur Fink in seinem Katalogbeitrag zitiert, «ärgern sich über die Widmungen. Sie sollten einfach damit aufhören. Es ist eine nette Nebensächlichkeit.…» Es gibt allerdings eine Ausnahme: Die Hommage an Vladimir Tatlins (1885-1953) Entwurf für ein «Moument für die Dritte Internationale» von 1920. In seinem Essay für den Katalog erwähnt Simon Baier, dass Flavin zwischen
Monument for V. Tatlin  VII (1964)
1964 und 1990 das Thema in nicht weniger als 50 Arbeiten variierte. (In der Ausstellung ist die Installation «monument 7 for V. Tatlin» von 1964 zu sehen, die – anders als im Saaltext angegeben – aus sechs weissen und einer gelben Leuchtstoffröhre besteht.) Zurück zur Problematik der Retrospektive: Da die Werke individuell konzipiert wurden, entfalten sie auch ihre Wirkung als Einzelstück und an einem bestimmten Platz. Ein Massenauftritt war nie vorgesehen.

In späteren Jahren integrierte der Künstler seine Werke oft in einen bestimmten architektonischen Kontext – so wie im Innenhof des Basler Kunstmuseums. Die peinliche Geschichte dieser Installation dokumentiert Arthur Fink im Katalog. Sie beginnt mit einer vom damaligen Direktor Carlo Huber (1932-1976) kuratierten Ausstellung von Installationen Flavins in der Basler Kunsthalle und einer parallel von Direktor Franz Meyer (1919-2007) eingerichteten Präsentation grafischer Arbeiten im Kunstmuseum, die der Künstler mit Federzeichnungen des Reisläufers, Goldschmids und Künstlers Urs Graf (1485-1528) aus dem Kupferstichkabinett ergänzte. Für die Ausstellung entwickelte Flavin für den Innenhof des Museums die Installation «untitled (in memory of Urs Graf)». Am 9. Mai 1975 lehnte die Kunstkommission der Öffentlichen Kunstsammlung das Angebot ab, das Werk zu erwerben, und Ende Juni fand auch das Angebot einer Schenkung «durch eine Stiftung in Amerika» einstimmig kein Gehör. Als Grund sind im Protokoll nicht weiter ausgeführte «künstlerische Gesichtspunkte» erwähnt. Flavin war enttäuscht und schrieb das Debakel in einem Brief an Carlo Huber internen Machtkämpfen in der Kommission zu. Dabei, so seine Überzeugung, hätten die leuchtenden Röhren verdammt gut gepasst: «But after all, all of those lofty and low-down tubes seemed to me to exist oh so definitely dramatically well in that damned drab setting. Amen!» Dabei blieb es – vorerst. Die «Dia Art Foundation», die sich der Unterstützung zeitgenössischer Kunst verschrieben hatte, kaufte das Werk schliesslich an und bat 1980 die Kommission um Wiedererwägung ihres Entscheids. Diesmal war die Mehrheit der Meinung, man könne nicht ein zweites Mal nein sagen. «Mehr aus diplomatischen Erwägungen denn aus inhaltlicher Überzeugung», wie Fink schreibt, akzpetierte das Gremium das Geschenk. Es bestehe damit ja keine Verpflichtung, heisst es schlaumeierisch im Protokoll vom 11. August 1980, «die Installation anzuzünden». Und: Das Werk sei «ohnehin nur am Abend sichtbar, also zu einer Zeit, in der das Museum in der Regel geschlossen ist.» Das ist falsch, wie jetzt, wenn die Lichtskulptur leuchtet, zu sehen ist. (Übrigens: Die naheliegende Vermutung, dass die Kunstkommission Flavins Werk aus Furcht vor öffentlicher Aufregung ablehnte, ist wahrscheinlich falsch. Denn ebenfalls 1980 erwarb sie, mit einem Zusatzkredit der öffentlichen Hand, Brancusis «Torso einer jungen Frau» und nahm einen Shitstorm inklusive Fasnachtsspott ohne weiteres in Kauf.)

Flavin im Hof des Kunstmuseums
Wie Dan Flavin, der einstige Luftwaffen-Soldat im Koreakrieg, der ein Leben lang zeichnete und sich mit den Möglichkeiten beschäftigte, das Licht als künstlerisches Gestaltungsmittel einzusetzen, formierte auch der fünf Jahre ältere und am Ende des Zweiten Weltkriegs als Flakhelfer eingesetzte Otto Piene (1928-2014), mit Zeichnungen seine Ideen. Es ist ein lohnender Gedanke, die bis 12. Mai vom Museum Tinguely mit einer grossen Piene-Werkschau gebotene Gelegenheit zu nutzen, die beiden, vom Licht und vom Fliegen faszinierten Künstler zu vergleichen. Ja, anders als Flavin, der sich mit der Entdeckung der Möglichkeiten begnügte, die ihm ein Universum aus Leuchtstoffröhren bot, fächerte Piene, ein Mitgründer der Düsseldorfer Künstlergruppe «Zero», sein Repertoire weit auf. Gleichwohl ist beachtenswert, wie sehr der Deutsche, der lange in den USA wirkte, und der Amerikaner, der in seinen späteren Jahren oft in Europa arbeitete, ihre Kunst zur Veränderung von Räumen, innen und aussen, einsetzten. Eine oberflächliche Recherche ergibt, keine persönliche Bekanntschaft der beiden Künstler. In einem Beitrag für die Zeitschrift Artforum unter dem Titel «Some other comments» schrieb Flavin 1967 über die ihm bis dahin unbekannte, im Bauhaus verankerte Geschichte der Lichtkunst: «By the way, at the start (of my use of electric light), I knew nothing of the Moholy-Nagy sculpture or, for that matter, all of the output of the European solo systems and groupings like Zero which were introduced to New York relatively recently or not at all.» (Den Hinweis verdanken wir der Heidelberger Dissertation von Brigitta Heid «Dan Flavins installations in fluorescent light im Kontext der Minimal Art und der Kunstlicht-Kunst», Online-Veröffentlichung 2004, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/4940/6/I-Textteil.pdf)

Zur Ausstellung ist im Verlag Walther König, Köln, für Mai ein Katalog angekündigt: Helfenstein, J., Osadtschy, O. (Hrsg): Dan Flavin - Widmungen aus Licht / Dedications in Lights. Köln 2024, 256 Seiten, €49.00.
Der Presse standen die Fahnen der Katalog-Texte zur Verfügung.

Illustrationen von oben nach unten: Porträt Dan Flavin (Ausschnitt, Foto: Stephen Flavin https://www.spiegel.de/fotostrecke/lichtmaler-dan-flavin-minimaler-aufwand-maximaler-effekt-fotostrecke-17497.html 21.11.2006); «the diagonal of May 25, 1963 (to Constantin Brancusi)», Flavins erste Leuchtstoffröhren-Installation, die ihn als Künstler etablierte. (Foto: https://www.spiegel.de/fotostrecke/lichtmaler-dan-flavin-minimaler-aufwand-maximaler-effekt-fotostrecke-17497.html, 21.11.2006); «Monument for V. Tatlin VII (1964)» (Foto aus der Ausstellung, © 2024, Jürg Bürgi, Basel); «untitled (in memory of Urs Graf)» (1975) im Innenhof des Kunstmuseums Basel (Foto © 2024 Jürg Bürgi, Basel).

Wege zum Paradies – Otto Piene im Museum Tinguely

Vom 7. Februar bis 12. Mai 2024 zeigt das Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «Wege zum Paradies» eine umfangreiche Retrospektive auf das Werk des deutschen Künstlers Otto Piene (1928-20214). Seine riesigen, raumgreifenden Installationen waren Ausdruck seiner Überzeugung, dass Kunstschaffende eine Verantwortung für den Zustand der Welt im Allgemeinen und für das Zusammenleben der Menschen im Besonderen zu tragen haben. Zusammen mit dem Bildhauer und Maler Heinz Mack (geb. 1931) gründete Piene 1958 in Düsseldorf die Gruppe ZERO, der sich drei Jahre später auch der Objektkünstler Günther Uecker (geb. 1930) anschloss. Das gemeinsame Ziel sah die Gruppe darin, die materiellen und seelischen Verheerungen des Zweiten Weltkriegs hinter sich zu lassen und an einem Nullpunkt neu anzufangen. «Ja», schrieb Otto Piene 1961 in der dritten Nummer der Zeitschrift «ZERO», «Ich träume von einer besseren Welt. Sollte ich von einer schlechteren träumen?» Nach Angaben der Kuratorinnen Sandra Beate Reimann und Lauren Elizabeth Hanson stellt die thematisch aufgebaute Ausstellung den Wunsch Peines in den Mittelpunkt, eine harmonischere, friedvollere und nachhaltige Welt zu gestalten. Dabei wird – unter anderem anhand von 24 seiner Skizzenbücher – versucht, die Schaffensperioden bis 1966 in Düsseldorf und anschliessend am Center for Advanced Visual Studies (CAVS) am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge näher als bisher üblich zusammenzusehen.

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Das Publikum lernt Piene zunächst auf der Barka, die zu den ersten Ausstellungsräumen führt, in einer ausführlichen Präsentation seiner Lebens- und Schaffensdaten kennen, bevor ihm anhand von Zeichnungen aus einem frühen seiner insgesamt 72 Skizzenbüchern die Faszination des Künstlers für Dunkelheit und Licht vermittelt wird. Kein Zweifel die Zeit, die der erst 16-Jährige als Flak-Helfer ab 1944 in der Wehrmacht verbrachte, prägten sowohl seine Persönlichkeit als auch seine künstlerische Inspiration. Die Arbeit «Lichtraum mit Mönchengladbachwand» (1963-2013) zeigt beispielhaft, was damit gemeint ist. Das Werk weist nicht nur auf die Erinnerungen an die intensive Beobachtung des (immer bedrohlich erscheinenden) Nachthimmels zurück, sondern auch auf die Beschäftigung mit Rasterpunkten voraus. Er nutzte sie einerseits, um Bildflächen dreidimensional zu strukturieren, anderseits aber auch, um sie in Form ausgestanzter Löcher zum Lichtmalen zu nutzen.

Piene, Tinguely, Spoerri u.a.
Am Ende der 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre begann sich die Avantgarde zu vernetzen, und Düsseldorf war eines ihrer Zentren: 1959 eröffnete Otto Piene seine erste Einzelausstellung, auf der er Rasterbilder und Rauchzeichnungen zeigte und sein «archaisches Lichtballett» aufführte».Ab 1961 sorgte Joseph Beuys als Professor der Kunstakademie mit ersten Happenings und im Februar1963 mit einem internationalen FLUXUS-Fest für Aufsehen. Mit dabei war damals auch Daniel Spoerri, mit Jean Tinguely einer der Begründer der Bewegung des Nouveau Réalisme, zu der die ZERO-Bewegung früh Beziehungen pflegte, wie ein Bild aus dem Jahr 1959 von der Vernissage der Ausstellung «Vision in Motion – Motion in Vision» im Antwerpener Hessenhuis belegt. (Zu sehen sind Margaret und Heinz Mack und Otto Piene, daneben Jean Tinguely und Daniel Spoerri, Pol Bury, Yves Klein und Emmett Williams.)

Bei allen Verschiedenheiten waren sich die jungen Künstlerinnen und Künstler einig, dass die Kunst in die Öffentlichkeit gehört – ganz im Sinne der Gruppe ZERO im Streben nach einer besseren Welt. 1964 übernahm Otto Piene in Philadelphia eine Gastprofessur, und ein Jahr später zog er weiter nach New York. 1968 etablierte Piene, inzwischen Direktor des »Center for Advanced Visual Studies (CAVS)» auf einem Sportfeld des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge mit dem «Light Line
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Experiment» die «Sky Art». 1972 entstand für die Schlusszeremonie der Olympischen Spiele in München der «Olympische Regenbogen». In späteren Jahren entwickelte sich die Idee, ganz im Sinn des CAVS-Konzepts, zu mannigfaltigen Interventionen mit zum Teil riesigen luftgefüllten Ballonskulpturen in der Landschaft. (Die Verwandtschaft mit einzelnen von Christos Projekten wäre vielleicht einer näheren Betrachtung wert.) Pienes Arbeiten, sowohl in den USA als auch in Europa, wo ihm sein Düssledorfer Atelier immer zur Verfügung blieb, zeigten im Lauf der Jahre eine grosse Vielfalt. Gemeinsam blieb ihnen, dass sie in ihrer grossen Mehrheit den öffentlichen Raum bespielten. Die in der Ausstellung gezeigten «Fleurs du Mal» oder auch die «Lichtblumen» gehören zu den Ausnahmen. So eindrücklich sie sind, können sie die Wirkung der Openair-Skulpturen – neben den bereits erwähnten – zum Beispiel, besonders eindrücklich, die «Black Stacks Helium Sculptures», die am 30. Oktober 1976 in Form von 90 Meter hoch in den Himmel ragenden heliumgefüllte Polyethylen-Schläuche über den vier Kaminen der Southeast Steam Plant in Minneapolis schwebten. (Das Basler Publikum kennt die Bilder bereits aus der Ausstellung «Territories of Waste», die – ebenfalls kuratiert von Sandra Beate Reimann – vom 14.9.2022 bis 8.1.2023 zu sehen waren.) Nun werden auch die Ideenskizzen Pienes zu diesem spektakulären Projekt gezeigt. Das ist nur ein Beleg dafür, wie fruchtbar sich die Zusammenarbeit der Basler Kuratorin mit ihrer amerikanischen Kollegin Lauren Hanson, einer eminenten Kennerin von Pienes gezeichnetem Ideen-Fundus, auswirkte.

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Der umfassende Ansatz ermöglicht dem Publikum auf dem Ausstellungsparcours immer wieder Déjà-Vu-Begegnungen. So übertrug der Künstler das Konzept der Rasterbilder vom Ende der 1950er-Jahre 1973 auf den Entwurf zur Fassadengestaltung des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Münster. Ein anderes Motiv, Ikarus’ Traum vom Fliegen und sein Sturz in den Tod, ist in mannigfacher Form im Werk Pienes präsent: in Zeichnungen aus den 1970er- und 1980er-Jahren, aber auch in verschiedenen Happenings, bei denen Piene zum Beispiel am 9. Januar 1969 für einen lokalen TV-Sender in Boston unter dem Titel «Manned Helium Sculpture» ein Lichtballett inszenierte, bei dem die 17jährige Susan Peters an Helium-Ballons 13 Meter hoch am Nachthimmel schwebte. Eine Weiterentwicklung dieses Konzepts war 1982 der – später auch andernorts gezeigte – «Sky Event», bei dem die Cellistin Charlotte Moorman, angegurtet und und durch Hilfskräfte gesichert, 30 Meter über dem Boden auf ihrem Instrument atonale Improvisationen zum Besten gab.

Insgesamt ist der Rückblick auf Otto Piene und sein Werk als eine überaus gut gelungene Hommage zu werten. Das betrifft sowohl das Konzept, das gesamte Werk in seiner Vielfalt darzustellen, als auch das Bestreben, die thematischen Kontinuitäten – unter anderem anhand der Skizzenbücher – sichtbar zu machen.

Zur Ausstellung erschien ein sehr schön gestalteter zweisprachiger Katalog mit einem ausführlichen biografischen Teil sowie Aufsätzen der Kuratorinnen und anderen Expertinnen:
Lauren Elizabeth Hanson (Hrsg. für Das Museum Tinguely, Basel): Otto Piene – Wege zum Paradies/Paths to Paradise. Basel/München 2024 (Hirmer Verlag), 288 Seiten, €49.90

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung unter Berücksichtigung des Katalogs ist geplant.

Illustrationen (von oben): Otto Piene, Lichtraum mit Möchengladbachwand (1963-2013), Otto Piene Estate, Courtesy Sprüth Magers, ©Pro Litteris, Zürich, 2024. Eröffnung der Ausstellung «Vision in Motion – Motion in Vision» im Hessenhuis, Antwerpen 1969, ©bpl, Foto Charles Wilp. Otto Piene, Testinstallation Olympischer Regenbogen, 1972, St. Paul, MN, USA, 1. Augsut 1972, ©Pro Litteris, Zürich, Otto Piene Estate, Foto: Jean Nelson, Otto Piene Archiv. Otto Piene: Untitled (bleed-through of previous page, left page); Untitled (fall of Icarus, right page), Harvard Art Museums/Busch-Resinger Museum, Schenkung von Elizbeth Goldring Piene ©2024 Pro Litteris Zürich, Otto Piene Estate, Foto © President and Fellows of Harvard College 2019.35.9

Delphine Reist im Museum Tinguely

Delphine Reist Porträt
Delpine Reist, 1970 in Sion geboren, präsentiert vom 18. Oktober 2023 bis 14 Januar 2024 im Museum Tinguely in Basel eine Übersicht über ihr künstlerisches Schaffen. Unter dem (etwas irreführenden) Titel «ÖL [oil, olio, huile]» zeigt die Künstlerin, die in Genf lebt, arbeitet und an der Haute Ecole d’Art et de Design (HEAD) unterrichtet, 20 Arbeiten, die sich um das Thema der Arbeit drehen. Öl als Triebkraft der Wirtschaft spielt dabei zwar eine wichtige Rolle, aber es ist nicht die bestimmende Dominante der Ausstellung, die von Sandra Beate Reimann mit Engagement kuratiert wurde. Wir haben uns beim Rundgang durch die Schau
Betoneimer
mehrfach unsicher gefühlt, ob wir Ähnliches nicht schon anderswo gesehen haben: In einander verschlungene Reifen. Maschinen, die plötzlich losgehen. Tröpfelnde Flüssigkeiten, die ihre Spuren hinterlassen. Gebrauchsgegenstände, die lebendig wirken. Aber spielt das eine Rolle? Delphine Reist nützt das ganze Arsenal technischer Möglichkeiten. Sie arrangiert zum Beispiel aus 40 liegenden Kunststoffeimern, deren Inhalt – grober Beton – ausgeleert und eingetrocknet ist eine ornamentale Installation. Sie inszeniert Bürostühle und ihre kreisrunden Spuren auf einem weissen Büroboden zu einem erstarrten Ballett. Sie macht aus einem Werkstattgestell mit Handwerkermaschinen, die unvermittelt in Aktion treten, ein lärmendes Raubtierhaus. Besonders symbolkräftig ist eine Videoinstallation: Sie zeigt eine verlassene Fabrikhalle, von deren Decke sich, eine nach der andern, die Neonröhren in die Tiefe stürzen und auf dem Betonboden zerschellen. Der Witz der im Museum Tinguely zum Genius loci gehört, Ist in den Werken der Westschweizerin ständig präsent. Das macht die Ausstellung der Werke von Delphine Reist, die das ganze Spektrum der künstlerischen Techniken beherrscht, sehenswert, auch wenn umwerfend Neues nicht zu sehen ist.

Illustrationen: Porträt Delphine Reist (Foto ©Jürg Bürgi, 2023); «La pente (das Gefälle), 2023 (Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi)

Temitayo Ogunbiyi im Museum Tinguely

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Seit Mai 2023 gibt es im Solitudepark, unweit vom Eingang zum Museum Tinguely in Basel, eine Spiel-Skulptur aus merkwürdig unregelmässig geborgenen, mit Manilaseil umwickelten Stahlstangen. Die 1984 in den USA geborene und aufgewachsene Künstlerin und Kunsthistorikerin Temitayo Ogunbiyi, die seit zehn Jahren in Lagos (Nigeria) lebt und arbeitet, hat das Gerät eigens für diesen Ort entworfen. Vom 18. Oktober 2023 bis zum 14. Januar 2024 sind jetzt im Museum weitere Arbeiten zu sehen. Auffallend ist in der Ausstellung, die von Roland Wetzel kuratiert wurde, wie sehr die Amerikanerin auf die Umgebung eingeht, in der sie arbeitet. Sie reflektiert das für sie Ungewohnte, indem sie zum Beispiel die Angebote von Supermärkten, die Speisekarten von Gaststätten oder die Möblierung von Wohnungen erforscht. Es ist offensichtlich, dass sie sich als Brückenbauerin zwischen Kulturen sieht – in diesem Fall zwischen der nigerianischen ihres Wohn- und Arbeitsortes Lagos und der von Basel.
Wickelfisch
Den Auftakt der Schau im Untergeschoss des Museums bildet ein improvisiertes Ladenregal mit Produkten aus zahlreichen fremden Ländern. Sie symbolisieren die Vielfalt der hiesigen multikulturellen Bevölkerung. Für Rheinschwimmerinnen und Rheinschwimmer entwarf die Künstlerin für das Museum, das über einen eigenen Strand verfügt, einen Wickelfisch in ihrer Lieblingsfarbe Orange. Eine Sammlung aus Brockenhaus-Möbeln mit vielen Schubladen, deren Inhalt vom Publikum erkundet werden soll, sind mit zahlreichen Zeichnungen und Texten bestückt. Darunter ist auch ein neu kreiertes Rezept für ein Freiburger Fondue moitié-moitié. Statt dem gewohnten trockenen Weisswein wird der Käse nach der Vorgabe Ogunbiyis im Agbalumo- oder im Mango-Wein aufgelöst. Als Ersatz für die hierzulande sparsam verwendete Mais- oder Kartoffelstärke als Bindemittel sieht die Künstlerin einen Suppenlöffel Cassava-Mehl vor, und statt Kirsch schlägt sie einen Suppenlöffel des in Nigeria «Ogogoro» genannten Palmwein-Schnapses vor. Gewürzt wird mit Alligator-Pfeffer und Muskatnuss. Exotisch ist auch die Bestückung der Fonduegabeln mit Stücken halbreifer Papaya, englischen Birnen, Meeresfrüchte oder Bananenchips. Für die Ausstellung erfand Temitayo Ogunbiy auch ein eigenes Musikinstrument: An einem Gestell mit einer langen geborgenen Stange hängen zahlreiche einfache Küchengeräte – Kellen, Kochlöffel, Salatbesteck aus Holz und Metall –
Instrument
aber auch zwei hölzerne Wetzsteinfässer, die von Perkussionisten zum Klingen gebracht werden können. Die Installation daneben besteht aus gebogenen Stäben aus Stahl, Mesing und Bronze, welche Wanderwege zwischen Basel und anderen europäischen Städten nachzeichnen, wie der Saaltext erläutert. Den im Vordergrund platzierten Sitzelemente diente eine Wok-Pfanne als Gussform. Die Ausstellung, die auch zahlreiche Zeichnungen und Gemälde von Früchten und anderen botanischen Elementen präsentiert, führt im letzten Stück die Faszination der Künstlerin für gemeinschaftsbildende Funktion von Spielplätzen und ihrer Liebe zur Natur zusammen: Unter dem Titel «You will follow the Rhein and compose play» ist eine auf Spielplätzen häufig installierte Fallschutzmatte mit einer Kakaofrucht.

P.S. «Agbalumo» heisst in der Sprache der Yoruba eine afrikanische apfelförmige Frucht (Gambeya albida), der mannigfaltige Heilkräfte zugesprochen werden. Wie daraus Wein wird, ist uns nicht bekannt. Hingegen gibt es im Internet Rezepte für Mango-Wein (
https://fruchtweinkeller.de/rezepte/mangowein/).

Illustrationen von oben nach unten: Temitayo Ogunbiyi vor ihrer Installation «You will follow the Rhein and compose play» im Solitude Park, 2023. © Museum Tinguely, Foto: Matthias Willi; «Healing Verb», 2023. © Courtesy of the artist. Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi. «You will follow the Rhein and compose play (instrument), 2023. Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi.

Niko Pirosmani in der Fondation Beyeler

Pirosmani klein
Niko Pirosmani (geboren als Nikolos Pirosmanaschwili, 1862-1918) ist ein Solitär in der Kunstgeschichte der Moderne. Über den Autodidakten, in einem kleinen Dorf in Kachetien, im äusserten Süden Georgiens geboren, gibt es nur wenige zuverlässige biografische Angaben. Gleichwohl wird er seit den 1920er-Jahren von vielen Malern der Avantgarde zugerechnet und in seiner georgischen Heimat als Nationalkünstler verehrt. Dem heutigen Publikum im Westen ist Pirosmani weitgehend unbekannt geblieben – obgleich zahlreiche seiner Werke 1969 in Paris, 1995 auch in Zürich und zuletzt 2019 in Wien im Kontext zeitgenössischen Kunstschaffens zu sehen waren. Das dänische Louisiana Museum für moderne Kunst in Humblebæk (im vergangenen Sommer) und die Fondation Beyeler in Riehen (vom 17. September 2023 bis 28. Januar 2024) unternehmen es nun, unterstützt vom Georgischen Nationalmuseum und dem georgischen Kulturministerium, die eigenartige Magie dieses Œuvres endlich auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. In Dänemark ist dies anscheinend gelungen: «Ein Knüller von einer Ausstellung!», schrieb die Wochenzeitung «Weekendavisen». «Pirosmani ist ein Geschenk an die Weltkunst.» Wie ein Rundgang durch die in neun Räumen von Gastkurator Daniel Baumann, dem Direktor der Zürcher Kunsthalle, inszenierte Ausstellung zeigt, trifft die Einschätzung der Kopenhagener Kollegen den Nagel auf den Kopf.
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Zu sehen sind in Riehen 49 Arbeiten, die mit Ölfarbe meist auf schwarzes Wachstuch oder Karton gemalt wurden. Da die meisten Werke nicht datiert sind, ist eine chronologische Abfolge, die Aufschluss über Schaffensperioden oder Motiv-Präferenzen geben könnte, nicht möglich. Typisch für Pirosmani ist seine Porträtkunst, wobei es keinen offensichtlichen Unterschied zwischen menschlichen und tierischen Modellen gibt. Sehr oft stammen sie aus dem Umfeld des Malers: Der Fischer, der Koch, der Hausmeister, die Amme, der Doktor auf seinem Esel, das Wildschwein, die Ziege, der Bär, der Hirsch. Menschen und Tiere treten uns nicht als einzigartige Individuen entgegen, sondern als Exempel ihrer Art. Die Figuren füllen den ganzen Bildraum aus. Für einige, wie die berühmte «Giraffe» scheint sogar der nötige Platz zu fehlen, weshalb sie mit einem kurzen Hals vorlieb nehmen muss. Ein Hintergrund ist meist nur angedeutet. Man kann sich vorstellen, dass solche Helgen als Schilder hätten dienen können, für ein «Gasthaus zum Eber» zum Beispiel oder für eine «Wirtschaft zum Hirschen», Tatsächlich hingen zahlreiche Bilder Pirosmanis in Tavernen und Gasthäusern – Auftragsarbeiten des zeitweise obdachlosen Künstlers im Tausch für Kost und Logis. Eine zweite Motivreihe ist als Erzählung konzipiert:
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Männer beim Trinkgelage, das «Fest des heiligen Georg in Bolnissi», das «Fest am Fluss Zcheniszkali», ein Personenzug an einer Haltestelle in Kachetien, auf der Fracht – mit Wein gefüllte Bälge und amphorenartige Tongefässe – auf- und abgeladen wird, oder (nicht in der Ausstellung zu sehen, aber im Katalog abgebildet) ein detailreiches «Gastmahl während der Weinlese». Vor allem die Festbilder enthalten zahlreiche kleine Szenen und erinnern so an Wimmelbilder, wie wir sie aus Kinderbüchern kennen. Eine dritte Kategorie von Arbeiten sind Stillleben, die möglicherweise das Angebot in Gastwirtschaften illustrierten. Von Niko Pirosmani ist eine einzige Fotografie aus dem Jahr 1916 überliefert. Wir sehen einen bärtigen, selbstbewusst in die Kamera blickenden Mitvierziger. Sechs Jahre zuvor waren der georgische Kunststudent Ilja Sdanewitsch und sein russischer Kommilitone Michail Le-Dantju im Tbilisser Wirtshaus «Waräger» auf Gemälde Pirosmanis gestossen: «Der Maler war Autodidakt, seine Technik und sein Verständnis von Malerei zeugten von Meisterschaft und eigenwilliger Methodik», erinnerte sich Iljas Bruder Kirill, der Pirosmani einige Wochen nach der Entdeckung auf der Strasse antraf. Kurze Zeit später publizierte Ilja Sdanewitsch in einer Lokalzeitung unter dem Titel «Ein autodidaktischer Maler» eine erste Hommage und rief dazu auf, den Künstler, der bei schlechter Gesundheit war, zu unterstützen. Auf seiner Rückreise zur Kunsthochschule in St. Petersburger traf Sdanewitsch in Moskau die russische Malerin Nataljia Gontscharowa (1881-1962) und ihren Freund Michail Larionow (1881-1964), die Anführer der russischen, als «Neoprimitivismus» und «Rayonismus» bezeichneten Avantgarde-Bewegung, und brachte ihnen Bilder Pirosmanis. Im März/April 1913 wurden sie, zusammen mit Arbeiten Marc Chagalls, Kazimir Malewitschs sowie Le-Dantjus in der epochemachenden Ausstellung «Zielscheibe» («Mischen») präsentiert. Damit hatte es sich. Niko Pirosmanis Kunst blieb – im Gegensatz zu den Werken der russischen Avantgarde – im Westen unentdeckt. Eine in Paris geplante Ausstellung fiel 1914 dem Kriegsbeginn zum Opfer. Und die Bemühungen, ihm wenigstens in Georgien den ihm gebührenden Platz in der Kunstszene einzuräumen, endeten in einer Blamage. Die neue gegründete Gesellschaft der georgischen Künstler nahm den Aussenseiter 1916 zu seiner grossen Freude in ihren Kreis auf. Man gab ihm zehn Rubel und liess
Fest des heiligen Georg in Bolnissi
ihn vom Fotografen Eduard Klar ablichten. Im Gegenzug präsentierte er den Kollegen sein Bild «Georgische Hochzeit in alten Zeiten». Beides zusammen, Foto und Gemälde, wurden in der Zeitung «Sachalcho purzeli» mit dem Bildtext: «Der Volksmaler Niko Pirosmanaschwili» publiziert. Die Glücksblase platzte, als der so Geehrte kurze Zeit später in der illustrierten Beilage derselben Zeitung eine Karikatur von sich entdeckte: Barfüssig und in abgerissener Kleidung war darauf ein Künstler mit Palette und Pinsel zu sehen, der gerade dabei war, die «Giraffe» zu malen. Ein bürgerlich gekleideter Mann stand daneben und gab dem Maler Anweisungen: «Du musst lernen, mein Freund. In deinem Alter kann einer noch einiges schaffen…» Beleidigt brach Pirosmani alle Kontakte zur Künstlergesellschaft ab und bezog ein anderes Wohnquartier. Kollegen, die ihm helfen wollten, hatten die grösste Mühe, ihn ausfindig zu machen. Er lebte praktisch auf der Strasse, war krank, depressiv und verwirrt. Er starb in der Osternacht 1918. Wo er begraben wurde, ist unbekannt. Was von ihm geblieben ist, sind seine Bilder, zahlreiche Legenden und ein Nachruhm als Nationalkünstler, dessen Porträt und das Bild eines Rehs bis 2006 die Ein-Lari-Banknote zierte. Die Ausstellungen in Dänemark und der Schweiz werden das Interesse an Pirosmanis Kunst mit Sicherheit weiter stärken. Als überaus erfreulicher Nebeneffekt ermöglichten sie die Restauration der ausgestellten Gemälde. Zudem entstand ein Katalog mit zahlreichen kenntnisreichen Aufsätzen, die den aktuellen Stand der Pirosmani-Forschung dokumentieren.

S. Keller und D. Baumann (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Niko Pirosmani. Berlin 2023 (Haje Cantz Verlag), 208 Seiten, CHF 62.50/€ 58.00.

Illustrationen: Porträt des Fotografen Eduard Klar. © Infinart Foundation/George Chubinashvili National Research Centre for Georgian Art History and Heritage Preservation. (Es ist zweifelhaft, ob dies tatsächlich das einzige Konterfei Pirosmanis ist. Der Wikipedia-Text
https://de.wikipedia.org/wiki/Niko_Pirosmani zeigt das Bild eines bartlosen, jüngeren Mannes.) «Fischer», «Giraffe», «Fest des heiligen Georg in Bolnissi» (Foto aus der Ausstellung) © Infinitart Foundation.

Matisse, Derain und ihre Freunde im Kunstmuseum Basel

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Vom 2. September 2023 bis 24. Januar 2024 stellt das Kunstmuseum Basel unter dem Titel «Matisse, Derain und ihre Freunde» 160 Arbeiten der ersten bedeutenden Avantgarde-Bewegung des 20. Jahrhunderts aus: «Les Fauves». Die Häuptlinge der «Wilden» – Henri Matisse (1869-1954) und André Derain (1880-1954) – machten mit den gültigen Gesetzen der Malerei Schluss. Im Zentrum ihrer Arbeiten stand, repräsentiert durch reine, ungemischte Farben, der emotionale Gehalt des Dargestellten. Beispielhaft für diese Haltung steht das Gemälde «La Plage rouge», das 1905 in Collioure in Südfrankreich entstand. Dort, am Fuss der Pyrenäen, nahe der spanischen Grenze, verbrachte Matisse mit seiner Familie und mit Derain den Sommer. Gefragt, weshalb er den gelben, allenfalls beige-braunen Sandstrand rot gemalt habe, gab er zu, dass ihn dies auch irritiert habe. Er hielt aber an der Farbgebung fest, weil sie, wie er sagte, seine Stimmung beim Betrachten des Strandes entsprach. Diese und andere neue Arbeiten mit bis dahin gänzlich ungewohnten Farbkombinationen, machten im Herbstsalon in Paris Skandal. Der ebenso einflussreiche wie scharfzüngige konservative Kritiker Louis Vauxcelles (1870-1943) verhöhnte die Maler dieser
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Avantgarde als «Fauves» – und erfand damit die in den folgenden Jahren erfolgreiche Marke des «Fauvisme». Die vom Berner Kunsthistoriker Arthur Fink, von Claudine Grammont, der früheren Direktorin des Musée Matisse in Nizza und heutigen Leiterin der Grafiksammlung des Centre Pompidou in Paris sowie dem Basler Museumsdirektor Josef Helfenstein kuratierte Ausstellung zeigt auf eindrückliche Weise, wie vielgestaltig die Gruppe der Fauvisten auftrat. Zum Teil handelte es sich um Schüler des Symbolisten Gustave Moreau (1826-1898) – Henri Matisse, Albert Marquet (1875-1947), Henri Charles Manguin (1874-1949), Charles Camoin (1879-1965) und Jean Puy (1876-1960) – , zum Teil um Malerfreunde, die im Pariser Vorort Chatou, wo sie aufgewachsen waren, in einem gemeinsamen Atelier arbeiteten – André Derain (1880-1954) und Maurice de Vlaminck (1876-1958) – und zum Dritten um junge Künstler aus Le Havre, die sich der Bewegung nach dem Herbstsalon von 1905 anschlossen – Raoul Dufy (1877-1953), Georges Braque (1882-1963) und Othon Friesz (1879-1949). Die Arbeiten dieser heterogenen Gesellschaft, die ohne Manifest auskam und in erster Linie durch ein Netzwerk von Freundschaften verbunden war, werden in neun Kapiteln präsentiert. Im ersten Raum dominieren die Schüler Moreaus, die gemeinsam Aktmalerei betrieben. Dort entstand 1900 im trüben Winterlicht Henri Matisse’ «Nu aux souliers roses», das Bild eines auf einem Podest stehenden Aktmodells mit rosaroten Schuhen. Der Kollege Jean Puy beschrieb die gänzlich ungewohnte Farbgebung – ein «kräftiges, schwer lastendes Blau … und die Formen des Modells in Orange» als «Grausamkeit gegenüber dem Auge».
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In den weiteren Sälen zeigen spektakuläre Landschaftsbilder aus der Normandie und aus Südfrankreich die ungebrochene Begeisterung der «Fauves» für die Freiluft-Malerei und ihr gleichzeitiges Interesse für Stillleben und Familienszenen. Dass die jungen Männer gerne Motive des Stadt- und Nachtlebens abbildeten, das sie aus eigenem Erleben besonders gut kannten, ist keine Überraschung. Gleichzeitig zeigten sie sich aber auch fasziniert von idyllischen ländlichen Freizeitszenen, die sich mit exotischen Motiven und symbolischer Gestik aufladen liessen. Beispielhaft für diese Malerei ist das grösste Bild der Schau, André Derains «La danse» von 1906: Da ist Gauguin drin, aber auch kambodschanische Tempelzier und weitere koloniale Motive. Die beiden letzten Räume zeigen, wie früh die «Fauves» Skulpturen und bemalte Keramik in ihr Repertoire aufnahmen und wie stark sie im Kunstschaffen der folgenden Jahre ihre Spuren hinterliessen.

Illustrationen von oben nach unten: Henri Matisse «La Plage rouge», 1905 (Scan aus dem Katalog); Henri Matisse «Nu aux souliers roses», 1900 (Scan aus dem Katalog); André Derain «La danse», 1906 (Privatsammlung, © 2023, Pro Litteris, Zürich).

Die Ausstellung wird begleitet von einem sorgfältig gestalteten Katalog mit kenntnisreichen Aufsätzen, die den didaktischen Anspruch der Ausstellung unterstreichen,
auch ökonomische und soziale Aspekte des französischen Kunstschaffens zu Beginn des 20. Jahrhunderts einzubeziehen.

Fink, A., Grammont, C., Helfenstein, J. (Hrsg.): Matisse, Derain und ihre Freunde. Die Pariser Avantgarde 1904-1908. Basel/Berlin 2023 (Kunstmuseum Basel/Deutscher Kunstverlag), 266 Seiten, €58.00.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
ist hier zu finden.

«Out of the Box» zum Schaulager-Jubiläum

Vom 10. Juni bis zum 19. November 2023 zelebriert das Schaulager der Laurenz-Stiftung in Münchenstein mit der von Heidi Naef kuratierten Ausstellung «Out of the Box» sein 20-Jahre-Jubiläum. Zu sehen sind 90 Werke von 25 Künstlerinnen und Künstlern. Für die zahlreichen «zeitbasierten Medienwerke», wie Maja Oeri, die Präsidentin der Laurenz- und der Emnauel-Hoffmann-Stiftung, die Videoarbeiten im Vorwort des Ausstellungshefts nennt, wurden im Erd- und im Untergeschoss grosszügige Projektionsräume eingerichtet. So durchwandert das Publikum eine vielgestaltige Landschaft von Boxen und stösst in den Gängen und auf Plätzen dazwischen auf traditionelle Kunstwerke – Gemälde, Fotografien, Zeichnungen, Skulpturen. Das Schaulager nutzt das Jubiläum, um in der ersten Ausstellung seit langem neu erworbene Werke zu präsentieren und gleichzeitig mit Arbeiten aus dem Sammlungsbestand zu dokumentieren, dass die Emanuel Hoffmann-Stiftung mit ihren Ankäufen keinem kurzlebigen Hype nachrennt. In der Tat wird offensichtlich, dass hier Künstlerinnen- und Künstler-Karrieren über Jahre begleitet und unterstützt werden.

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So ist es kein Zufall, dass zum Beispiel die Schwedin Klara Lidén (geb. 1979) mit vier neueren Werken vertreten ist. In drei Videoarbeiten tritt sie selbst in körperlich anstrengenden Rollen in Erscheinung, besonders witzig im kurzen Videoclip «Out to Lunch» (2018), in dem sich in einer blitzblanken Küche plötzlich die Kühlschrank öffnet und sich eine Person daraus hervorwindet. In einer weiteren (kompelexeren) Arbeit, «Closer Now» (2022), rollt die Künstlerin in Purzelbäumen die steile und enge Rue Barbaroux in Marseille hinunter. Der Film läuft in einem Raum, in dem sich auch drei von einem Discokugelmotor angetriebene Kartonschachteln unterschdiedlicher Grösse um die eigene Achse drehen. Wie im Ausstellungsheft zu lesen ist, entsprechen die drei Boxen, aufeinander gestapelt, der Körpergrösse der Künstlerin. Und die kreisende Bewegung nimmt Bezug auf den schmerzhaften Parcours auf der abschüssigen Gasse.

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Einen prominenten Auftritt hat auch die Engländerin Tacita Dean, die mit einem Video und zwei riesigen Malereien vertreten ist, welche das Bühnenbild und die Kostüme für das Tanzstück «The Dante Project» des Royal Opera House in London zeigen. Dean nutzte für die Darstellung der drei Teile der «Göttlichen Komödie» – «Inferno», «Purgatory (Threshold)», «Paradise» – ihre profunden Kenntnisse der Maltechnik, der Fotografie und der Videokunst.

Zu den Entdeckungen der Ausstellung gehören die Arbeiten des in Zug lebenden und arbeitenden Baslers Jean-Frédéric Schnyder (geb. 1945). Die ausgestelltenWerke «Handle With Care», «Reuse of this Box is Prohibited – by Law», «Do Not Drop or Turn Upside Down» und «Keep at 54°F or 14°C» sind, wie es die Titel vermuten lassen, aus gebrauchten Bananenschachteln gefertigt. Schnyder, lernen wir aus dem erläuternden Text, konstruierte aus den Kartons zuerst ein Hochhaus,
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wobei die Grifflöcher die Fenwsteröffnungen bestimmten. Dann schnitt und klebte er aus den Papperesten die Kirchen, anschliessend aus den Resten die Einfamilienhäuser, gross und klein, und schliesslich aus dem Abfall die Ruinenlandschaft. Recycling auf die Spitze getrieben, ein neues (und schöneres) Leben für banale Bananenboxen!

Ebenfalls neu und überraschend sind die Arbeiten von Thomas Ruff (geb. 1958). Für seine faszinierend farbigen, digital generierten mathematischen Strukturen, sogenannte Fraktale, erfand der deutsche Künstler eine überzeugende Darstellungsform. Anstatt als Abzüge auf Fotopapier, die der Farbpracht der Konstruktionen nicht gerecht werden konnten, machte er sich neue Möglichkeiten des Teppichdrucks zunutze. «D.o.pe», der Titel seiner Arbeiten, die alle zwei Meter breit und 267 Zentimeter hoch sind, nimmt Bezug auf den Essay «The Doors of Perception» («Pforten der Wahrnehmung»), in dem Aldous Huxley 1954 seine Erfahrungen mit dem Halluzinogen Meskalin beschrieb.

Besondere Beachtung verdient auch das Werk «Ravel Ravel Interval» des albanischen Künstlers Anri Sala (geb. 1974). In einem besonders für die Aufführung konstruierten Raum mit reduzierter Schallreflexion wird das von Maurice Ravel (1875-1937) im Auftrag des kriegsversehrten, einarmigen, österreichischen Pianisten Paul Wittgenstein
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komponierte Stück «Concerto pour la main gauche» aus dem Jahr 1930 simultan von zwei Pianisten dargeboten. Die einzeln aufgezeichneten und simultan abgespielten Videos zeigen, wie die linken Hände der Klaviervirtuosen kraftvoll über die Tastaturen ihrer Instrumente tanzen. Raffiniert auf durchsichtige Leinwände projiziert, sieht man die ganze Zeit die Hände der beiden Musiker, welche die Partitur individuell interpretieren, mal im Gleichklang mal mit minimalem zeitlichem Abstand, während die Tonspuren neben den Klavierklängen auch die des begleitenden Orchesters wiedergeben.

Zu den sicheren Werten im Schaulager gehören seit langem die Arbeiten von Peter Fischli und David Weiss, deren Projektion von 405 ebenso banaler wie irritierender Fragen («Ohne Titel», 1981-2003) – «Weiss ich alles über mich?», «Fährt noch ein Bus?» – in beispielhafter Weise das von Humor und Nachdenklichkeit geprägte Werk des Künstlerduos repräsentiert. Peter Fischli, der seit 2012, nach dem Tod von Peter Weiss, eigenständig weiter arbeitet, ist mit zwei neueren Werken vertreten: «Cans, Bags and
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Boxes» befasst sich mit Verpackungen unserer Wegwerfgesellschaft. Die 13 namenlosen Behältnisse, die auf Sockeln im freien Raum präsentiert werden, sehen aus, als wären sie aus Blech oder Plastik. In Wirklichkeit hat sie der Künstler aus Pappe und Papier gefertigt und täuscht die Betrachtenden durch eine raffinierte Bemalung.

Es ist unmöglich, im Rahmen dieses Berichts alle Stationen des Ausstellungsrundgangs zu würdigen. Er führt auch an Werken vorbei, die wir schon anlässlich früherer Ausstellungen beschreiben konnten – zum Beispiel die Werkschauen 2008 von
Andrea Zittel und Monika Sosnowska oder 2016 Arbeiten von Katharina Fritsch (mit Alexej Koschkarow) – und er endet unweigerlich bei Dieter Roth (1930-1998), der das Schaulager 2003 mit der grossen Retrospektive «Roth-Zeit» eröffnete. Jetzt sind von dem Universalkünstler einige seiner ikonischen Schokoladen-Skulpturen, darunter eine «Vogelfutterbüste» von 1968 und der «Grosse Schokoladenzwerg» von 1971, zu sehen. Im Zentrum aber steht das Alterswerk «Solo Szenen», eine Art subversives Memento Mori, das auf 128 Monitoren den Menschen Roth bei banalsten alltäglichen Verrichtungen vorführt.

Dem Schaulager ist mit «Out of the Box» eine grossartige Jubiläumsschau gelungen. Es lohnt sich, für dieses einzigartige und auch anspruchsvolle Angebot, die nötige Zeit aufzuwenden und das Angebot zu nutzen, dass
Tickets für drei Besuche gültig sind.

Als besonderes Highlight zum Jubiläum publizierte das Schaulager unter dem Titel «Dieter Roth Selbstturm; Löwenturm» eine monumentale Darstellung über Roths
Buch
Doppeltürme aus aufeinander gestapelten Schokolade- und Zuckergussbüsten. Sie kamen 1989 als Work in progress in die Sammlung der Emanuel Hoffmann-Stiftung. Das von Peter Fischli gestaltete Buch dokumentiert in Texten und mit über 1000 Fotos die Geschichte des überaus anspruchsvollen Ankaufs, bei dem von Anfang an klar war, dass das Werk über kurz oder lang durch Insektenfrass und Fäulnis dem Verfall geweiht ist. Es befindet sich in einem eigens dafür eingerichteten Atelierraum, den der Künstler bis kurz vor seinem Tod benutzte.

Laurenz-Stiftung, Schaulager Basel (Hrsg.): «Dieter Roth, Selbstturm; Löwenturm» Peter Fischli (Bildkonzept), Maja Oeri (Vorwort), Andreas Blättler, Marcus Broecker, Tom Bisig/Lea Brun und Isabel Friedli (Texte) Münchenstein/Köln (Laurenz-Stiftung/Schaulager; Verlag der Buchhandlung Walther König) 240 Seiten, CHF 59.00

Illustrationen von oben nach unten: Klara Lidén: «Out to Lunch», 2018 HD Video, Farbe, Ton, 0:22 Min., Ed. 1/3 + 1 AP, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, Foto: Tom Bisig, Basel, © Klara Lidén. Tacita Dean: «Inferno», 2019 (Detail) Kreide auf Masonit, 242 × 1219 cm, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, Foto: Stephen White and Co, Courtesy the artist and Frith Street Gallery © Tacita Dean. Jean-Frédéric Schnyder: «Handle with care», 2012 Karton von Bananenschachteln, Klebeband, 12 Kirchen, diverse Masse, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi, 2023. ©Jean-Frédéric Schnyder. Thomas Ruff: «d.o.pe. 01», 2022 Colaris Teppichdruck, 267 × 200 cm, Ed. 2/4 + 1 AP, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, Foto: David Zwirner, New York, 2022, © 2023, ProLitteris, Zurich. Peter Fischli: «Untitled», 2019 Aus der Serie «Cans, Bags & Boxes», Karton, Zeitungspapier, Emaillelack, 121 × 23.2 × 23.2 cm, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, Foto: Tom Bisig, Basel, © Peter Fischli.

Janet Cardiff und George Bures Miller im Museum Tinguely

Das kanadische Künstlerpaar Janet Cardiff (geb. 1957) und George Bures Miller (geb. 1960) arbeitet seit 30 Jahren gemeinsam an interaktiven Installationen, die Musik, Film und Theater mit einander verbinden. Das Werk von Jean Tinguely bezeichnen sie als eine ihrer wichtigsten Inspiratationsquellen. Logisch, dass das Museum Tinguely das Schaffen des Künstlerpaars (in Zusammenarbeit mit dem Lehmbruck Museum in Duisburg und kuratiert von Roland Wetzel) erstmals in der Schweiz in einer grossen Übersichtsausstellung präsentiert. Vom 7. Juni bis zum 24. September sind unter dem Titel «Dream Machines» ein gutes Dutzend ihrer raffinierten Erfindungen in Basel zu erleben.
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Ein Erlebnis bietet die Ausstellung, weil sie nicht nur alle Sinne anspricht, sondern weil das Publikum durch die Präsenstation in oft dunklen oder halbdunklen Räumen gezwungen wird, sich ganz auf die einzelnen Exponate zu konzentrieren.

In vielen Fällen erzählen die Installationen eine eigene Geschichte oder sie dokumentieren einen kreativen Prozess der Künstlerin und des Künstlers. Die Saaltexte, die jedes der Werke begleiten, geben ausführlich darüber Auskunft. So erfahren wir zum Beispiel, dass ein im Tageslicht platziertes Schubladenmöbel früher die längst obsoleten Katalogkarten einer Bibliothek enthielt. Was aber weiter für dieses «Cabinet of Curiousness» gilt, ist die Neugier, die es anstachelt. Das Publikum ist aufgefordert, ihr nachzugeben und einzelne Schubfächer zu öffnen: Sie enthalten Klänge, ganze Musikstücke oder gesprochene Texte, alles, wie Janet Cardiff beim Rundgang mit den Presseleuten berichtete, Trophäen eigener Tonjägerei. Wer mehrere Schubladen zieht, mischt die Tondokumente nach Art eines DJ.

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Um einiges elaborierter geschieht das Mitmach-Mixen mit dem «Melloton», einem in den 1960er-Jahren als technisches Meisterstück entwickelten analogen Sampler, der auf Tastendruck auf Magnetband gespeicherte Tonschnipsel abspielte. Die BBC verwendete solche Geräte, um jederzeit Jingles oder O-Töne zur Verfügung zu haben. Cardiff/Miller belegten die 72 Tasten des klavierähnlichen Manuals mit diversen Soundbytes, die sie mit farbigen Präge-Etiketten kenntlich machen. So ist es zum Beispiel möglich, einzelne oder mehrere Musikinstrumente zu spielen und Alltagsgeräusche dazu zu mischen.

Eine ganz andere, nämlich eine magische Dimension spricht das Werk «To Touch» von Janet Cardiff aus dem Jahr 1993 an: Im dunklen Raum steht ein massiver Holztisch, der das Publikum animiert, mit der Hand über die Oberfläche zu streichen. Wie durch Zauberei ertönen dabei Geräusche oder menschliche Stimmen. Und wenn mehrere Hände über die Tischplatte streichen, entsteht ein vielgestaltiger Tonteppich. Im Gegensatz zum Mellotron gibt es hier nichts zu steuern oder vorauszusehen: alles ist Zauberei.

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Der Parcours durch die Ausstellung entfaltet das ganze Spektrum der künstlerischen Interessen von Janet Cardiff und George Bures Miller. darunter sind hochkomplexe
Installationen wie «Opera for a small Room» von 2005. Wir sehen von aussen durch verschiedene Öffnungen in das Refugium eines Opern-Enthusiasten. Es ist vollgepackt mit Vinyl-Platten, Plattenspielern und Lautsprechern. Lichteffekte und Geräuschen begleiten das Abspielen von Opernmusik. Das Werk entstand nach dem Fund einer grossen Zahl von Schallplatten in einem Trödelgeschäft, die alle mit R. Dennehy, dem Namen des Besitzers, versehen waren. Anstatt diesen Royal Dennehy mithilfe eines Telefonbuchs ausfindig zu machen, verwendete das Künstlerpaar die Spuren auf der Plattensammlung und rekonstruierte daraus eine fantastische 12-Quadratmeter-Klause des Opern-Enthusiasten irgendwo in einem Kaff in British Columbia. Die Abfolge der Tonbeispiele erzählt, wie es im Saaltext heisst, «eine traumartige Handlung in verschiedenen Akten und macht Dennehys unsichtbare Präsenz im Raum spürbar».

Wie das Beispiel zeigt, lassen sich Janet Cardiff und George Bures Miller für viele ihrer Arbeiten durch eigene Erlebnisse oder die Öffentlichkeit beschäftigende Ereignisse anregen. Es ist ihre Kunst, dies so zu tun, dass Werke über den Tag hinaus ihre Gültigkeit behalten. Beispielhaft gilt dies für «The Killing Machine» von 2007, die, im Kontext des Folterskandals im irakischen US-Gefängnis von Abu-Ghraib entstanden und angelehnt an Franz Kafkas Erzählung «In der Strafkolonie», die Abgründe automatisierter Grausamkeit thematisiert. Auch die Auswirkungen der Pandemie finden im Werk von Cardiff/Miller ihren Niederschlag: 2021 konstruierten sie mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen «Escape Room» als (inzwischen wieder verlassene) Werkstatt voller unvollendeter Arbeiten. Unter den Szenerien gibt es eine Kathedrale und ein Hochhaus, eine Fabrik und ein Hafenviertel. Die Beleuchtungen sind eingeschaltet, die Pläne und Werkzeuge liegen daneben bereit. Wer sich zwischen den einzelnen Elementen bewegt, löst Licht und Toneffekte aus. Die Menschen, die hier gewöhnlich auf engem Raum zugange sind, haben offenbar Reissaus genommen. Über allem liegt der Geruch der Dystopie, der allerdings durch zahlreiche witzige Details gebrochen wird.

Witz und ironische Distanz gehören zum künstlerischen Instrumentarium des Künstlerpaars. Besonders gut gefallen hat uns in dieser Hinsicht das Werk «Experiment in F#Minor» von 2013. Dabei handelt es sich um einen – wiederum magischen – Tisch, auf dem nicht weniger als 72 Lautsprecher verschiedener Grösse und Form platziert
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sind. Bewegungsmelder an den Tischseiten lösen diverse Toneffekte aus, wenn sich jemand nähert. Je nach Position und Bewegungsgeschwindigkeit ergibt sich eine vielgestaltige Komposition in F-Moll. «Je mehr Menschen interagieren», heisst es in der Erläuterung zu dem Werk, «desto lauter und unübersichtlicher wird das Arrangement». Auch ein besonders elaboriertes und besonders kleinformatiges Kunst-Stück verdient es, speziell erwähnt zu werden. Es heisst «Sad Waltz And The Dancer Who Couldn’t Dance» von 2015 und ist eine Art Puppenstuben-Stück mit einer Klavier spielenden und einer tanzenden Marionette. Der Pianist intoniert den «Traurigen Walzer» des Komponisten Edward Mirosján und die Balletteuse, deren Fäden von einer über ihr hängenden komplexen Steuerung gezogen werden, bemüht sich Schritt zu halten. Dummerweise verheddern sich ihre Fäden und sie wird von der Apparatur in die Höhe gezogen. Hilflos rudert sie sich frei und nach einigen Momenten der Ungewissheit, steht sie wieder auf dem Boden und führt die Choreografie zu Ende.

Nicht im Museum Tinguely, sondern in der Druckereihalle im Ackermannshof an der St. Johanns-Vorstadt 19/21, ist ab 1. Juli die Installation «The Forty Part Motet» von Janet Cardiff zu sehen und zu hören. Das Publikum hört die vierzigstimmige Motette «Spem in Alium» (Hoffnung auf einen Anderen), des englischen Barock-Komponisten Thomas Tallis aus dem Jahr 1570. Ursprünglich für acht Chöre zu je fünf Stimmen a cappella komponiert, nahm Cardiff jede der 40 Stimmen einzeln auf und lässt das Stück aus 40 Lautsprechern erklingen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer können sich frei im Raum bewegen und sich neben den Lautsprechern auf eine Stimme konzentrieren oder das Chorwerk als Ganzes mitten im Raum geniessen.

Illustrationen: Janet Cardiff und George Bures Miller: «The Cabinet of Curiousness» (2010). ©2023 coutesy the artists, Foto: Museum Tinguely/Matthias Willi (Ausschnitt); janet Cardiff und George Bures Miller: «The Instrument of Troubled Dreams» (2018) © courtesy the artists, Foto Lehmbruck Museum, Duisburg/Thomas Köster. janet Cardiff und George Bures Miller: «Opera for a Small Room» (2005) © courtesy the artists, Luhring Augustine, New York, Gallery Koyanagi, Tokyo, and Fraenkel Gallery, San Francisco, photo: Seber Ugarte, Lorena López. Janet Cardiff und George Bures Miller: «Experiment in F# Minor» (2013), ©2023 Foto aus der Ausstellung (©2023, Jürg Bürgi, Basel).

Roger Ballen im Museum Tinguely: Der Ruf der Leere

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Das Museum Tinguely zeigt im Vorraum zu Jean Tinguelys ikonischer Skulpturengruppe «Mengele-Totentanz» im Zyklus «Danse macabre» vom 19. April bis 29. Oktober 2023 unter dem Titel «Call of the Void» als achten Teil Arbeiten des Fotografen Roger Ballen. 1950 in New York geboren und seit Jahrzehnten in Südafrika lebend und arbeitend, erregte der promovierte Geologe Ballen vor 30 Jahren mit Bildern von Dörfern und Menschen in seiner Wahlheimat öffentliches Aufsehen. Sein Interesse galt in dieser Zeit dem Hässlichen, Verstörenden der porträtierten Menschen, die oft dem burischen (weissen) Prekariat weitab der Städte angehörten. Später vertiefte er die irritierende Wirkung seiner Bilder, indem er in seinem Johannesburger Studio, das er sich in einer einfachen Hütte eingerichtet hatte, Tiere – Ratten, Vögel – in eigens gebauten Installationen ablichtete.
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Die schwarz-weissen Fotografien wirken – so der Kurator Andres Pardey – wie Spaziergänge ins Unterbewusste: dunkel, geheimnisvoll, durchaus auch beängstigend oder beunruhigend. Ballen entwickelte im Lauf der Zeit einen eigenen Stil, den er «ballenesque» nennt. Wie sich bei einem Rundgang mit dem Künstler zeigte, ist auch er nicht in der Lage, in wenige Worte zu fassen, was damit gemeint ist. Ein wichtiges Element, sagte er, sei die Absurdität, die sich beim Betrachten der Werke, wie im Titel der Ausstellung «Call of the Void» als «Leere» herausstelle. In der aktuellen Ausstellung steht eine Hütte im Zentrum des Raums. Sie ist innen und aussen im Stil der Art Brut bemalt und begehbar, sodass das Publikum einen Eindruck von dem gewinnen kann, was mit «ballenesque» gemeint ist. Die Behausung wird bewohnt
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von elenden Puppen: Eine der Lumpengestalten liegt in einem Abfallkübel ohne Boden und stöhnt. Andere haben den Geist schon aufgegeben, darunter eine Figur, aus deren offenem Brustkorb Drähte heraushängen, die die mit einem alten Staubsauger verbunden sind. Die Hauptrolle in der Schau spielen aber die rundum angeordneten Fotografien, schwarz-weiss und analog aufgenommen. Der Künstler präsentiert Beispiele aus der Serie «Roger’s Rats», in denen Ratten im Mittelpunkt stehen. Sie sind Bildern aus der Reihe «Asylum of the Birds» («Asyl der Vögel») gegenüber gestellt. «Ratten und Vögel», kommentiert Roger Ballen, symbolisierten «im Laufe der Menschheitsgeschichte Gut und Böse, Dunkelheit und Licht. Vögel verbinden den Himmel mit der Erde, und Ratten werden zu Unrecht mit Schmutz, Krankheit und Dunkelheit in Verbindung gebracht.
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Jede Tierart bringt ihre eigene Mythologie mit sich, und wenn man diese in eine Fotografie einfliessen lässt, bietet sie unbegrenzte Möglichkeiten, tiefere Bedeutungen zu schaffen, die für die menschliche Existenz relevant sind.» Roger Ballens Fotos, die – nicht nur wegen der lebenden Tiere, die in der sorgfältig gestalteten Kulisse tun, was sie wollen – in einem zeitaufwendigen Prozess entstehen, beeindrucken durch ihre komplexe und suggestive Wirkung. Es lohnt sich, mehrmals genau hinzuschauen und sich «ballenesque» vereinnahmen zu lassen! Zur weiteren Illustration gibt es noch zwei Filme zu sehen, einer gleich links neben der Treppe, die zur Ausstellung führt, und der andere, längere im 1. Untergeschoss in einer winzigen, einplätzigen Kabine gleich vor dem Eingang zum Bistro. Der Film steht – neben anderen – auch auf youtube.com zur Verfügung.

Anlässlich der Ausstellung «Roger Ballen. Call of the Void» erscheint im Kehrer Verlag, Heidelberg, eine englische Publikation mit Texten von Roger Ballen, Andres Pardey und einem Vorwort von Roland Wetzel. Die Publikation ist ab 13. Juni im Museumsshop für 35 CHF erhältlich.
Illustrationen: Porträt Roger Ballen (Ausschnitt) Foto Marguerite Rossouw, © coutesy Marguerite Rossouw). Installationsansicht in der Ausstellung «Call of the Void» im Tinguely Museum, Basel 2023 (©courtesy Roger Ballen 2023 Museum Tinguely, Basel; Foto: Felix Scharff). Installationsansicht in der Ausstellung «Call of the Void», ©courtesy Roger Ballen 2023 Museum Tinguely, Basel; Foto: Marguerite Roussouw. Roger Ballen: «Mouth to Mouth», 2013 ©courtesy Roger Ballen.

Charmion von Wiegand im Kunstmuseum Basel

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Im Kunstmuseum Basel, das ihr vom 23. März bis 13. August 2023 eine monografische Ausstellung widmet, präsentieren die Kuratorin Maja Wismer und der Kurator Martin Brauen die amerikanische Journalistin, Kunstkritikerin und Malerin Charmion von Wiegand (1896-1983) unter dem Titel «Expanding Modernism» als lebenslange Sinnsucherin. Die Tochter des legendären Kriegsberichterstatters und rasenden Reporters Karl Henry von Wiegand (1876-1961) verbrachte ihre Kindheit und Jugend an verschiedenen Orten in den USA und – bis 1915 – in Berlin, wo der Vater für Publikationen des Verlegers Randolph Hearst tätig war. Zurück in den USA, studierte sie zunächst ein Jahr am Barnard College in New York, einer 1889 gegründeten privaten Bildungsstätte für Frauen, und belegte anschliessend an der Columbia University Kurse in Kunstgeschichte und Journalismus. 1919 heiratete Charmion von Wiegand den Geschäftsmann Hermann Habicht. Durch ihn kam sie in Kontakt mit dem Lyriker Hart Crane (1899-1932) und der literarischen Avantgarde, in die von esoterischen Themen fasziniert ist. Charmion schreibt Theaterstücke, beginnt eine Psychoanalyse und interessierte sich durch Vermittlung des italienischen Malers Joseph Stella (1877-1946), neben Hart Crane eine ihrer künstlerischen Leitfiguren jener Jahre, für den Futurismus. 1928 stellte sie im Rahmen der «Independent Show», eine amerikanische Version des Pariser «Salon des Indépendents», zum ersten Mal eigene Gemälde aus. Nach der 1929 erfolgten Scheidung von Hermann Habicht zog Charmion von Wiegand als Kulturkorrespondentin des Hearst-Konzerns nach Moskau. Sie war vom Kommunismus begeistert, las die einschlägigen Schriften von Marx, Engels, Lenin und Trotzki. Die Kunst, war sie nun überzeugt, musste im Dienste des Volkes stehen. Als sie 1932 in die USA zurückkehrte, heiratete sie den in der Ukraine geborenen Journalistenkollegen Joseph Freeman (1897-1965), der seit 1927 die kommunistische
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Zeitschrift «New Masses» herausgab und 1934 das zeitweise einflussreiche linke Kulturblatt «Partisan Review» mitbegründete. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise unterstützte das Ehepaar neu entstehende Organisationen von Künstlerinnen und Künstlern. Spätestens mit dem Hitler-Stalin-Pakt hatte sich die kommunistische Illusion in Luft aufgelöst. Joseph Freeman sagte sich von der KP los und arbeitete freischaffend für liberale Magazine («The Nation», «Fortune») und die Illustrierte «Life». Und gleichzeitig befreite sich die amerikanische Kunstdebatte von den ideologischen Fesseln, die sie in den dreissiger Jahren eingeengt hatte. Als Entfesselungskünstler wirkte der Kritiker Clement Greenberg (1909-1994); sein Stunt in der «Partisan Review» trug den Titel «Avant-Garde and Kitsch» und wurde zur theoretischen Grundlage der Kunstrichtung des abstrakten Expressionismus. Charmion von Wiegand arbeitete derweil mit dem in Deutschland geborenen Maler Carl Holty (1900-1973) an einer (nie vollendeten) Geschichte der abstrakten Kunst. Holty der seit 1930, als er in Paris zur Gruppe «Abstraction-Création» gehörte, mit Piet Mondrian befreundet war, vermittelte den Kontakt zum emigrierten Holländer. Fasziniert von seiner neoplastischen Kunst, die sich vom Getriebe der Metropole New York eine höhere Stufe der Abstraktion eroberte, pflegte sie regelmässigen Kontakt. Sie war es, die ihn in die New Yorker Kunstszene einführte, sie redigierte seinen theoretischen Essay «Toward a True Vision of Reality», sie publizierte «The Meaning of Mondrian» im «Journal of Aesthetics», die erste umfassende Darstellung aus amerikanischer Perspektive. Und Charmion von Wiegand soll es gewesen sein, die Mondrian darauf brachte, Gemälde seiner New Yorker Zeit mit farbigen Klebestreifen zu versehen. (Es ist allerdings durchaus möglich, dass die Idee von Carl Holty stammte, der die Methode für die eigenen Bilder verwendete.) «Mondrian», erinnerte sie sich später, «war mein Guru».26_CVW_The Great Field of Action_1953_Walker
Nach seinem Tod, der sie zutiefst erschütterte, versuchte sich Charmion von Wiegand als Malerin von ihrem Vorbild zu lösen – was ihr phasenweise zu gelingen schien. Sie probierte es eine Zeitlang mit biomorphen Formen und Collagen und suchte sie Orientierung bei Hans Arp, Wassily Kandinsky und Hans Richter, doch die strengen Rasterformen kamen immer zurück. Für ihre weitere künstlerische Arbeit war die intensive Beschäftigung mit der Theosophie von entscheidender Bedeutung. Sie begann 1949, als sie und Joseph Freeman Louis James, den Präsidenten der Theosophischen Gesellschaft in New York, kennenlernten. Erst jetzt – und nicht durch Vermittlung Piet Mondrians, der ein begeisterter Anhänger der Theosophie und später der Anthroposophie Rudolf Steiners war – studierte sie die Schriften der Begründerin Helena Petrovna Blavatsky und ihrer Adepten. Einige Jahre später entdeckte sie den Zenbuddhismus für sich. Sie besuchte Vorträge und Vorlesungen und suchte für das Gehörte und Gelernte eine malerische Formsprache. Im Jahr 1953 musste sich Joseph Freeman seinem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe des Kommunistenjägers Joseph McCarthy (1908-1957) rechtfertigen. Obwohl freigesprochen, setzte dieses Erlebnis nicht nur Freemans journalistischer Karriere ein Ende, sondern bestärkte das Ehepaar auf seinem Weg in eine von Meditation geprägte, dem politischen Getriebe entrückte Erfahrungswelt. «Wir leben in einem Dschungel und können niemandem trauen», schrieb Charmion von Wiegand in einem Brief an ihren Vater. «Während ich dazu gekommen bin, Politik jeder Art zu verabscheuen, heisst das nicht, dass man zynisch werden, sondern den Menschen gegenüber mehr Mitgefühl entgegenbringen muss.»
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Die Haltung ist in den 1950er-Jahren unter Künstlern nicht ungewöhnlich. John Cage, Agnes Martin und Ad Reinhardt liessen sich vom Zenbuddhismus inspirieren. Schon früher hatte sich Mark Tobey (1890-1976) intensiv mit dem Buddhismus in China und Japan vertraut gemacht und fernöstliche bildnerische Traditionen in sein Werk aufgenommen. 1959 stellte Charmion von Wiegand Tobey im «Arts Magazine» als Brückenbauer zwischen dem Osten und dem Westen vor – eine Rolle, die sie in zunehmendem Mass auch sich selbst zuschreiben durfte. Als Publizistin, als Kuratorin von Ausstellungen und als Malerin engagierte sie sich ab 1965, dem Todesjahr von Joseph Freeman, für die tibetische Kunst und Kultur. Gut möglich, dass zu Recht beklagt wird. sie sei sowohl als Begleiterin in Piet Mondrians letzten Lebensjahren, als auch als eigenständige Künstlerin zu wenig wertgeschätzt worden. Aber dieser Ansatz bestimmt (zum Glück) nicht den Kern der Ausstellung. Beachtung verdient sie vielmehr, weil sie Charmion von Wiegands Lebensleistung als Ganzes darstellt und herausarbeitet, wie sie den eigenen Erkenntniszuwachs ein Leben lang kontinuierlich schreibend und künstlerisch gestaltend weitergab. Es ist nicht auszuschliessen, dass weitere Forschung es künftig ermöglichen wird, die Künstlerin nicht nur in einer Überblickspräsentation zu zeigen, sondern ihre Werke und ihre Schaffensphasen gewichtend einzuordnen.

Zur Ausstellung, die wegen der Pandemie erst mit Verspätung eröffnet werden konnte, erschien bereits 2021 ein Katalog mit einem grossen Bildteil und kenntnisreichen Textbeiträgen. Wismer, Maja (Hrsg. für das Kunstmuseum Basel): «Charmion von Wiegand. Expanding Modernism», München 2021 (Prestel-Verlag), 200 Seiten CHF 44.00.

Illustrationen (von oben nach unten): Arnold Newman: Porträt von Charmion von Wiegand, 1961 (Scan aus dem Katalog); Titelblatt des Magazins «New Masses» 1926 (aus Wikipedia); Charmion von Wiegand: The Great Field of Action or the 64 Hexagrams (Der Altar der Ahnen aus dem I Ging), 1953. (Collection Walker Art Center, Minneapolis, Schenkung Howard Wise, New York, 1974); Charmion von Wiegand: Triptych, Number 700. 1961 (Whitney Museum of American Art. Schenkung Alvin M. Greenstein.)

Shirley Jaffe im Kunstmuseum Basel

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Nach einer ersten Station im Centre Pompidou in Paris zeigt das Kunstmuseum Basel vom 25. März bis 30. Juli 2023 eine umfassende Retrospektive auf das Lebenswerk der amerikanischen Malerin Shirley Jaffe (1923-2016), die praktisch ihr ganzes Künstlerinnen-Leben seit 1949 in Paris verbrachte. Geboren in New Jersey als Shirley Sternstein, als älteste Tochter jüdischer Emigranten aus Osteuropa, wuchs sie nach dem frühen Tod des Vaters mit der Mutter und Geschwistern in Brooklyn auf. Ihre zeichnerische Begabung wurde in der High School gefördert, und sie konnte dank einem Stipendium an der Cooper Union School of Art studieren, wo sie 1945 ihr Abschlussexamen machte. Danach verdiente sie sich ihren Unterhalt unter anderem in einer Bibliothek und in der Reklameabteilung des Kaufhauses Macy’s. Eine umfassende Ausstellung des Werks von Pierre Bonnard im Museum of Modern Art in New York, 1948, im Jahr nach dem Tod des Künstlers, blieb ihr zeitlebens eine unvergessliche Erinnerung. Nach der Heirat mit dem Journalisten Irving Jaffe lebte das Paar kurze Zeit in Washington D.C., bevor es mit dem Kriegsteilnehmer-Stipendium (G.I.-Bill) nach Paris zog. Die französische Hauptstadt war damals für viele junge, künstlerisch begabte Amerikaner ein Sehnsuchtsort. Das Paar lebte in bescheidensten Verhältnissen und schloss sich bald einem Kreis gleichaltriger Expats an. Sam Francis (1923-1994), Al Held (1928-2005), Joan Mitchell (1925-1992), Jules Olitski (1922-2007), Kimber Smith (1922-1981) und Jean-Paul Riopelle (1923-2007) gehörten dazu. Die wichtigste Unterstützung erfuhr Shirley Jaffe in dieser Zeit von Sam Francis
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dessen Atelier in Arcueil sie zeitweise benützen konnte. Ihre frühen Bilder sind stark vom Impressionismus im Spätwerk von Claude Monet (1840-1926) beeinflusst, das zuvor schon dem amerikanischen abstrakten Expressionismus von Jackson Pollock (1912-1956) und Willem de Kooning (1904-1997) auf die Sprünge geholfen hatte. Auffallend in der ersten künstlerischen Schaffensperiode sind die grossen Formate ihrer Bilder. Der abstrakte Expressionismus verlangt nicht nur beim Malen die grosse Gestik, er muss auf einen dominanten Auftritt haben. Neben Sam Francis, der ihr den Kontakt vermittelte, wurde in den 1950er Jahren der grosse Schweizer Kunst-Anreger Arnold Rüdlinger die wichtigsten Stütze für Jaffes frühe Karriere. Rüdlinger (1919-1967), von 1946 bis 1955 Leiter der Kunsthalle Bern und anschliessend, bis zu seinem frühen Tod, der Kunsthalle Basel, ermöglichte ihr 1958, zusammen mit Kimber Smith und Sam Francis, einen Gruppenauftritt am Steinenberg. im gleichen Jahr kuratierte er im Pariser «Centre Culturel Américain» in gleicher Zusammensetzung eine Ausstellung. Er war fasziniert vom «gänzlich uneuropäischen Raumgefühl, das auf ein Zentrum, eine Perspektive und auf harmonische Proportionen verzichtet», wie er im Katalog schrieb. (Zur Erinnerung: 1957, zwei Jahre bevor die Berner Galerie Klipstein und Kornfeld Shirley Jaffe ihre erste Einzelausstellung ausrichtete, hatten Arnold Rüdlinger und Ebi Kornfeld (1923-2023) in den USA mit einem Kredit der National-Versicherung für das Kunstmuseum Basel Werke von Franz Kline, Barnett Newman, Mark Rothko und Clyfford Still gekauft. Nirgendwo sonst in Europa war die zeitgenössische amerikanische Kunst so prominent vertreten. Klar, dass sich das brave Publikum entsprechend provozieren liess…) Um 1960, heisst es in einem Abschnitt der Saaltexte zur Ausstellung, «war der abstrakte Expressionismus bereits (Kunst)Geschichte». Viele aus der Pariser Expats-Kolonie kehrten in die USA zurück und entwickelten dort neue, eigene künstlerische Positionen. Auch Shirley Jaffe beobachtete, dass sich ihre Malerei veränderte. Sie lebte getrennt von ihrem Ehemann; 1962 liess sich das Paar scheiden. Im Jahr darauf nutzte sie die Gelegenheit, mit einem Stipendium der Ford Foundation in Berlin zu arbeiten. Der Aufenthalt in der Stadt an der Frontlinie des Kalten Krieges, noch schockiert vom Bau der Mauer im August 1961 und auch im Westteil noch keineswegs trümmerfrei, hinterliess tiefe Spuren in Shirley Jaffes künstlerischer Biografie. Das Begleitprogramm der Stiftung ermöglichte ihr, sich mit dem deutschen Expressionismus bekannt zu machen und die Avantgarde, darunter der griechisch-französische Komponist, Musiktheoretiker und Architekt Iannis Xenakis und der Pionier der elektronischen Musik, Karlheinz Stockhausen, kennen zu lernen.
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Die in Berlin entstandenen Arbeiten zeigen einen Drang zu stärkerer Strukturierung, ohne die expressive Kraft der Farbigkeit aufzugeben. Die Entwicklung zu ihrem neuen, eigenwilligen Stil, der Elemente des Konstruktivismus und des Surrealismus verband, dauerte etwa bis 1968. Da war sie zurück in Paris, wo sie 1969 im Quartier Latin an der Rue Saint-Victor 8 eine Atelierwohnung bezog, in der sie bis zu ihrem Tod lebte und arbeitete. Es ist in der Ausstellung faszinierend zu sehen, wie sich Shirley Jaffe, ohne Rücksicht auf ihre lange von finanziellen Unsicherheiten geprägten Lebensumstände, einen eigenen künstlerischen Kontinent eroberte und noch im hohen Alter immer wieder Neues ausprobierte. Besondere Beachtung verdienen die Papierarbeiten, die in der Mitte des Ausstellungsparcours einen fulminanten Auftritt haben. Die Malereien entstanden parallel zu den diszipliniert konzipierten Ölgemälden und sind offensichtlich Ausdruck des wilden und spontanen Ausdruckswillens der Künstlerin. Von Olga Osadtschy in Basel mit grosser Kennerschaft eingerichtet, ist die Rückschau auf das Werk von Shirley Jaffe eine grossartige Gelegenheit, eine in Europa dem grossen Publikum unbekannte Künstlerin zu entdecken.
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Der Untertitel der Ausstellung «Form als Experiment» beschreibt Jaffes künstlerischen Weg exakt: Indem sie in der ersten Phase ihres Werks ihr «uneuropäisches Raumgefühl», wie es ihr Freund und Förderer Arnold Rüdlinger nannte, expressiv zelebrierte und in der zweiten – längeren – Schaffenszeit zahlreiche europäische Perspektiven – von Bonnard bis Sophie Taeuber, von Hans Arp bis Henri Matisse – in ihrer eigenen Bildwelt integrierte, wurde sie zur Botschafterin einer transatlantischen Kunsttradition, die bis heute nachwirkt.

Zur Ausstellung in Basel erschien eine eigene, auf dem Katalog des Centre Pompidou aufbauende deutsch-englische Publikation. Olga Osadtschy, Frédéric Paul (Hg. für das Kunstmuseum Basel): «Shirley Jaffe, Form als Experiment/Form as Experiment», Basel 2023 (Christoph Merian Verlag), 296 Seiten, CHF 49.00.

Eine ausführliche Besprechung unter Berücksichtigung der Katalog-Essays erscheint demnächst
hier.

Illustrationen von oben nach unten: Atelier von Shirley Jaffe, Paris, 13. Oktober 2008 (Kunstwerk im Hintergrund: Bande dessinée en Noir et Blanc, 2009. ©Bibliothèque Kandinsky, Centre Pompidou/Jean-Christope Mazur; ©2023, ProLitteris, Zürich. Shirley Jaffe: Arceuil Yellow, 1956 Centre Pompidou, Paris © ProLitteris, Zürich. Foto Centre Pompidou (Audrey Laurans). Shirley Jaffe: Ohne Titel, um 1965. Centre Pompidou, Paris © ProLitteris, Zürich. Foto Centre Pompidou (Audrey Laurans). Shirley Jaffe: Ohne Titel, 1968. Galerie Nathalie Obadia, Paris/Bruxelles. Foto ©Bernard Huet/tutti image.

«À bruit secret»: Der Hörsinn im Museum Tinguely

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Unter dem Titel «A bruit secret» lädt das Museum Tinguely in Basel vom 22. Februar bis 14. Mai 2023 zur Erkundung der künstlerischen Auseinandersetzung mit unserem Hörsinn ein. Die Ausstellung ist die vierte eines Zyklus, der den fünf menschlichen Sinnen gewidmet ist. Mit grosser Sorgfalt kuratiert von Annja Müller-Alsbach, demonstriert die Schau mit Arbeiten von 25 Künstlerinnen und Künstlern die ganze Breite unserer auditiven Erfahrungen. Zu sehen sind Skulpturen, multimediale Installationen, Fotografien, Papierarbeiten und Gemälde vom Barock bis in die Gegenwart. Besonders interessant sind die Überschneidungen von bildender Kunst und musikalischer Kreation. Der kanadische Musiker und Komponist Raymond Murray Schafer (1933-2021) unterschied drei verschiedene «Soundscapes» (Klanglandschaften): natürliche, technische und menschliche. «R. Murray Schafer», heisst es in der Einführung zur Ausstellung, «forderte eine Sensibilisierung unseres Hörsinns und legte auch wichtige Grundlagen für die sogenannte Ökoakustik, das Festhalten und Erforschen der sonoren Veränderungen unserer Ökosysteme durch Umwelteinflüsse und menschliche Eingriffe.» Diese akustische Sensibilisierung soll auch das Publikum im Museum Tinguely erleben. Zunächst durch Arbeiten mit Naturgeräuschen, aber auch anhand von Schlüsselwerken der Moderne, darunter das titelgebende Readymade «À
Duchamp
bruit secret (With Hidden Noise)» von Marcel Duchamp (1887-1968) aus dem Jahr 1916 oder die Werke italienischer Futuristen, die für ihre Arbeiten Verkehrsgeräusche verwendeten und – Vorbote ihrer späteren faschistischen Verirrung – den Schlachtenlärm des Ersten Weltkriegs bewunderten. Praktisch gleichzeitig erforschten die Dadaisten, mit ihnen auch Kurt Schwitters (1887-1948), die Möglichkeiten von Lautgedichten. Andere wie Robert Rauschenberg (1925-2008) oder Jean Tinguely (1925-1991) verwendeten in ihren Schrott-Installationen Töne als bildhauerisches Material, indem sie Maschinen konstruierten, die, animiert durch das anwesende Publikum, Musik oder wenigstens Geräusche erzeugten.

Für seine raumgreifende (und zum ersten Mal in der Schweiz ausgestellte) Installation «Oracle» von 1962/1965 liess Rauschenberg zum Beispiel von Billy Klüver (der 1960 Jean Tinguely geholfen hatte, die sich selbst zerstörende Skulptur «Homage to New York» zu bauen) und seinem Ingenieurkollegen Harold Hodges in jedes der fünf Elemente
Rauschenberg
Transistorradios, Verstärker und Lautsprecher einbauen, die einen undefinierbare Klangteppich aus Radiopprogramm-Fetzen erzeugten. Auch hier kam dem Publikum eine mitwirkende Rolle zu. Dasselbe gilt für das «Fernquartett» von Dieter Roth (1930-1998), eine Art Jukebox, mit der einzelne, von Roth selbst (Klavier) und seinen Kindern Vera (Violine), Karl (Viola) und Björn (Cello) auf Tonband festgehaltene Musikstücke abgespielt werden können. Von einem harmonischen Quartett kann dabei nie die Rede sein, vielmehr erzeugt die Maschine eine dissonante Melange aus Tonfolgen dilettantisch gespielter Instrumente.

Sind in den ersten Räumen der Ausstellung, die sich über ein Dutzend Stationen auf drei Stockwerken des Museums erstreckt, grosso modo die erwartbaren Artefakte zu sehen, so wartet die Kuratorin im weiteren Verlauf des Parcours mit zahlreichen Überraschungen auf. Sie zeigt, wie in den zahlreichen jüngeren Arbeiten die Kunst mit einer
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wissenschaftlichen Fundierung auftritt. Der Zürcher Marcus Maeder (geb. 1971 in Zürich), der zunächst Kunst und Philosophie studierte, sich für elektronische Musik engagierte und derzeit in Umweltwissenschaften doktoriert, gestaltet aus Schallemissionen eines Urwaldbaumes und seiner Regenwald-Umgebung eine eigene Komposition, die in einem kegelförmigen Gehäuse zu hören und in einer Videoprojektion zu sehen ist. Die Tonaufnahmen, die während drei Tagen im Zehnminuten-Intervallen aufgenommen wurden, kombiniert Maeder mit einem flötenartigen Sound, in den er die Messdaten über die Kohlendioxid-Konzentration auf drei verschiedenen Höhen des Baumes übersetzt hat.

Auch Dominique Koch (geb. 1983 in Luzern) nutzt naturwissenschaftliche Forschung für ihre künstlerische Arbeit. Zusammen mit ihrem Bruder, dem Musiker und Komponisten Tobias Koch, machte sie im Erdreich von La Becque am Genfersee mit Spezialmikrofonen Aufnahmen von gewöhnlich unhörbaren Geräuschen. Anschliessend materialisierte sie das bioakustische Material in einer Glaswerkstatt zu zufällig geformten Artefakten, indem sie den durch die Schallwellen erzeugten Luftdruck zum Glasblasen verwendete. So erstarrten flüchtige Töne und Geräusche zu festen, dauerhaften «Sound Fossils».

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Der Forschung verpflichtet fühlt sich auch Ursula Biemann (geb. 1955 in Luzern), die sich für ihre künstlerischen Projekte in abgelegene Gegenden begibt. Ihre Video-Arbeit «Acoustic Ocean», welche den Sound des Ozeans erlebbar machen will, spielt auf den Lofoten. Ihre Protagonistin, eine fiktive Meeresforscherin gespielt von der schwedisch-samischen Sängerin Sofia Jannock, bereitet zu Beginn des Films die technischen Geräte für die Tonaufnahmen vor. Wir hören sie singen, und in der Folge ist die ozeanische Tonlandschaft mit ihr zu hören.

Zwei weitere Arbeiten, die wässerige Klanglandschaften erlebbar machen, haben uns besonders beeindruckt: Christina Kubisch (geb. 1948 in Bremen), auch sie musikalisch und künstlerisch ausgebildet, installierte eigens für die Ausstellung ihre Arbeit «Il reno», eine 12-Kanal-Komposition mit Tonaufnahmen, die sie in Basel mit Unterwassermikrofonen an verschiedenen Orten im Rhein gemacht hat. Gleich zu Beginn der Ausstellung erhält das Publikum Gelegenheit, per Induktionskopfhörer diese
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Wassermusik zu hören, indem es auf der Barca, der verglasten Passerelle zum Rhein hin, den am Boden verlegten blauen Kabeln folgt.

Das zweite besonders eindrückliche Werk ist das letzte der Ausstellung: Auf einem Tisch liegt ein Buch mit Anweisungen des Künstlers Cevdet Erek (geb. 1974 in Istanbul), so mit kreisenden Handbewegungen über den an der Wand hängenden Teppich zu streichen, dass dabei das Geräusch von Meereswellen evoziert wird. Die ganz einfache, auf den ersten Blick irritierende Installation ist ein Musterbeispiel für die Fähigkeit, mit einem Kunstwerk ein subjektives künstlerisches Erlebnis zu schaffen, das ohne Mitwirkung des Publikums nicht zustande käme.

Die Fülle der Eindrücke, welche die Ausstellung «À bruit secret» für die Besucherinnen und Besucher bereit hält, ist mit diesen wenigen Beschreibungen nicht erschöpft. Es gibt sehr viel zu sehen und zu hören. Die Künstlerinnen und Künstler stellen mit ihren Werken viele Fragen. Es lohnt sich, sich für sie Zeit zu nehmen, auch wenn viele nicht gültig zu beantworten sind. Hilfreich sind die ausführlichen Saaltexte,
die hier auch als PDF zur Verfügung stehen.

Illustrationen: Ausstellungsbanner (Website des Museums). Marcel Duchamp: «À bruit secret» ©Association Marcel Duchamp/2023 ProLitteris, Zürich. Robert Rauschenberg: «Oracle». Robert Rauschenberg Foundation/2023 ProLitteris, Zürich. Marcus Maeder:«Espirito da floresta/Forest spirit Florest» Courtesy of the artist/2023 ProLitteris, Zürich. Ursula Biemann: «Acoustic Ocean» Installationsansicht (Ausschnitt) ©Ursula Biemann; Foto: Margot Montigny. Christina Kubisch: «Il reno». Installationsansicht Museum Tinguely. ©Museum Tinguely, Basel; Foto: Daniel Spehr.

Museum Tinguely: Die Sammlung

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Das Museum Tinguely in Basel präsentiert vom 8. Februar 2023 bis zum Frühjahr 2025 den Grossteil seiner Sammlung in ihrer ganzen Pracht und erfinderischen Vielfalt unter dem Titel «La roue = c’est tout» («Das Rad ist alles») als Dauerausstellung. Kuratiert von Direktor Roland Wetzel, assistiert von Tabea Panizzi, führt der Parcours durch vier Jahrzehnte von Jean Tinguelys (1925-1991) künstlerischem Schaffen – von seinen Anfängen zu Beginn der 1950er-Jahre, als er den Kunstbetrieb mit filigranen Drahtplastiken und feinen motorisierten Reliefs (im Wortsinn) in Bewegung setzte, bis zu den monumentalen Maschinen der späteren Schaffensperioden. Den Auftakt zum Rundgang bildet das witzige, vor kurzem erworbene Bühnenbild zum Ballett «Eloge de la Folie» des Pariser Choreografen Roland Petit aus dem Jahr 1966. Das Werk ist beispielhaft für den Erfindungsreichtum des Künstlers, seine Offenheit zur Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen sowie seine Überzeugung, dass gute Kunst nur entsteht, wenn das Publikum einbezogen wird. Auf die kleinformatigen Arbeiten seiner frühen Jahre – die als Echo auf seine Ausbildung zum und seine Tätigkeit als Schaufensterdekorateur interpretiert werden darf – folgen die innovativen Schrott-Skulpturen der 1960er-Jahre. Die Maschinen werden in dieser Zeit erstmals richtig gross – man denke an «Heureka» für die Schweizerische Landesausstellung 1964 in Lausanne – und entfalten ihre Wirkung im
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öffentlichen Raum. Im neu eingebauten Obergeschoss ist die melancholische Seite von Tinguelys Kunst zu sehen – Erinnerungsstücke an zu Tode gekommene Autorennfahrer-Freunde, seine Faszination für die Basler Fasnacht. Es ist eine sehr gute Idee, dabei auch an den Einfluss zu erinnern, den seine erste Frau, Eva Aeppli (1925-2015), auf seine künstlerische Entwicklung hatte. Sie ist mit ihren grauen, ausgemergelten «Fünf Witwen» und mit ihren «Zehn Planeten» präsent, die zum Sammlungsbestand des Museums gehören. Zurück im Erdgeschoss werden – als eigentliches Herzstück der Ausstellung – in einer Reihe von Kabinett-Präsentationen die verschiedenen Facetten von Tinguelys Werk dokumentiert. Zeichnungen, Fotos und insgesamt 20 Stunden Film belegen die einzigartige künstlerische Zeitgenossenschaft Tinguelys. Es ist klar, dass die Fülle des Materials in den Kabinetten, das durch eine multimedial gestalteten Biografie an einer Wand der grossen Ausstellungshalle ergänzt wird, kaum bei einem einzigen Ausstellungsbesuch zu bewältigen ist. Die lange Dauer der Sammlungspräsentation schafft die Möglichkeit, immer wieder Neues zu entdecken. Da die Maschinenskulpturen aus konservatorischen Gründen nur in Abständen eingeschaltet werden können, hält das Museum Videos der Installationen bereit, sodass sie ohne Wartezeit über einen QR-Code auf dem Smartphone betrachtet werden können. Wenn es für eine Ausstellung einen bis fünf Sterne zu vergeben gäbe, verdiente diese Sammlungspräsentation ohne Zweifel fünf davon: Sie schöpft aus einem weltweit einmalig reichen, beispielhaft dokumentierten Sammlungsbestand, sie ist kenntnisreich und sorgfältig multimedial inszeniert, und sie lädt zu mehr als einem Besuch und immer neuen Entdeckungen ein.
Illustrationen: Jean Tinguely bei Materialsuche, Paris 1960 (Ausschnitt, Fotograf unbekannt); Jean Tinguely «Èloge de la Folie», 1966 (© Museum Tinguely, Basel, Foto: Daniel Spehr, Ausschnitt)

Wayne Thiebaud in der Fondation Beyeler

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Mit grosser Sorgfalt kuratiert von Ulf Küster, präsentiert die Fondation Beyeler in Riehen vom29. Januar bis 21. Mai 2023 eine umfassende Retrospektive auf das Werk des amerikanischen Malers Wayne Thiebaud. Zu sehen sind 65 Gemälde und Zeichnungen, die beispielhaft sowohl die Sujets wie auch die handwerkliche Raffinesse von Thiebauds Kunst demonstrieren. Geboren 1920 in Mesa, Arizona, aufgewachsen in Kalifornien, wo er während Jahrzehnten lebte und an Weihnachten 2021 im Alter von 101 Jahren starb, war Thiebauds seit den frühen 1960er-Jahren berühmt für seine der Pop-Art zugerechneten ikonischen Bilder von Tortenauslagen, Mickey-Maus-Figuren, Lippenstiften, Spielautomaten und Farbkübeln. Hohes Ansehen genoss er auch als Professor für Malerei an der University of California, Davis.
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Beim Rundgang durch die Ausstellung fällt schnell auf, dass die Etikettierung dieser Kunstwerke als Pop-Art auf irritierende Art oberflächlich wirkt. Zwar ist die ironische Distanz zu den Verlockungen der amerikanischen Überfluss-Ökonomie auch ein Charakteristikum von Wayne Thiebauds Blick auf seine Umwelt. Doch mindestens so stark ist bei ihm Melancholie spürbar. In den üppigen Tortenauslagen ebenso wie in den Blicken und Haltungen der porträtierten Menschen widerspiegelt sich die Schattenseite des zwanghaft optimistischen American Way of Life. Es ist verständlich, dass der Künstler der Zuschreibung seines Werks zur Pop-Art ablehnend gegenüberstand. Wir werden ihm wohl eher gerecht, wenn wir ihn der Verwandtschaft von Edward Hopper zurechnen und uns an den Freiheitsbegriff der Existentialisten erinnern, der von der Erfahrung von Absurdität, Langeweile, Ekel und Angst geprägt ist. Folgen wir dem überaus lesenswerten Essay Ulf Küsters im aufschlussreichen Katalog zur Ausstellung, so sollten wir unsere Aufmerksamkeit ohnehin weniger den Motiven als vielmehr der malerischen Umsetzung schenken. «Thiebaud», schreibt Küster, «zeigt mit seinen Bildern immer das Sowohl-als-auch von Malerei: sowohl die Illusionistische Darstellung von wiedererkennbaren Dingen als auch Farbe in unterschiedlicher Dichte und Verteilung.» Malerei, heisst es weiter, «kann immer sowohl gegenständlich als auch ungegenständlich sein. Sie ist jedenfalls immer einem Abstraktionsprozess unterworfen, der bei der Übertragung einer als dreidimensional empfundenen Wirklichkeit auf
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die zweidimensionale Fläche des Malgrunds vonstatten geht.» Wayne Thiebaud kannte sich in der Kunstgeschichte überdurchschnittlich gut aus, weshalb wir das Bild «35 Cent Masterworks» von 1970-72 als Schlüssel zu seinen künstlerischen Vorbildern lesen können. Unter den 12 Meistern ist Diego Velázquez (1599-1660) der älteste, die übrigen repräsentieren auf je eigene Weise die Malerei der Moderne – vom amerikanischen Realisten Thomas Eakins (1844-1916) bis zum italienischen Surrealisten Giorgio de Chirico (1888-1978). Für das Verständnis von Thiebauds Malerei ist die Präsenz des abstrakten Malers par excellence, des Holländers Piet Mondrian, besonders interessant. Er ist mit seinem «Tableau No. IV» von 1924/25 vertreten, einem Bild, das die Wirkung der Kombination von Primärfarben demonstriert. Zufällig ist das nicht, wenn man sich beim Betrachten von Thiebauds Werken auf seine Maltechnik konzentriert. Zuerst stechen die grosszügig dick aufgetragenen Farben ins Auge; und gleich darauf bemerken wir die feinen farbigen Linien, aus denen einzelne Flächen zusammengesetzt sind. Man betrachte etwa die Schürsenkel des Mannes auf dem Barhocker («Eating Figures», 1963).
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Auch auf dem erwähnten Gemälde mit der Vorbilder-Sammlung sind feine farbige Linien zu entdecken. Dass diese Technik offensichtlich keine Marotte aus dem Anfang seiner Künstlerkarriere war, belegt das Bild von zwei Hochzeitstorten («Two Wedding Cakes»), das der 95-jährige 2015 malte. Die Ausstellung Das Werk von Wayne Thiebaud, das in der Schweiz noch nie und in Europa nur selten zu sehen war, ist eine faszinierende Entdeckung. Und die Ausstellung in der Fondation Beyeler ist jederzeit einen Umweg wert.

Zur Ausstellung erschien ein sehr schön gestalteter Katalog mit einem überaus lesenswerten Essay des Herausgebers und Kurators Ulf Küster, sowie dem vollständigen Text eines Interviews mit Jason Edward Kaufman, in dem der hochbetagte Künstler über sein Lebenswerk Auskunft gab. Weitere Beiträge von Janet Bishop und der Assistenzkuratorin Charlotte Sarrazin.
Ulf Küster (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Wayne Thiebaud. Berlin 2023 (Hatje Cantz Verlag), 160 Seiten, CHF 62.50.

Illustrationen von oben nach unten: Wayne Thiebaud (©Wikipedia), «35 Cent Masterworks»,1970-72; «Eating Figures (Quick Snacks)», 1963; Bilder © Wayne Thiebaud Foundation/2022, Pro Litteris, Zurich «Eating Figures» (Detail, Foto Ausstellung © Jürg Bürgi 2023).

Jubiläumsausstellung der Fondation Beyeler

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Praktisch die ganze Fläche der Fondation Beyeler in Riehen stand dem Kurator Raphaël Bouvier zur Einrichtung der Sammlungspräsentation zum 25-jährigen Jubiläum zur Verfügung. Er nutzte die 20 Räume in grosszügiger, um einen Teil der rund 400 Gemälde und Skulpturen aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert zu inszenieren, über die das meistbesuchte Museum der Schweiz inzwischen verfügt. Zu sehen sind einerseits die prominentesten Künstler und ihre Werke. Ihnen sind ganze Räume gewidmet: Claude Monet, Alberto Giacometti, Henri Matisse, Paul Klee, Juan Miró, Marc Rothko und – als einzige Künstlerin – Marlene Dumas. Mit 30 Bildern und Skulpturen besitzt die Fondation Beyeler eine der weltweit qualitätvollsten Werkgruppen von Pablo Picasso. Kein anderer Künstler ist in der Sammlung mit einer so grossen Zahl von Arbeiten vertreten. Andere Künstlerinnen und Künstler werden im Kontext ihrer Kunstbewegung präsentiert, zum Beispiel der Postimpressionismus, die frühe Abstraktion oder die Pop-Art. Arbeiten der Gegenwartskunst, zum Beispiel von Louise Bourgeois (1911-2020), Tacita Dean (geb. 1965) oder Roni Horn (geb. 1955) sind in Gegenüberstellungen arrangiert. Insgesamt belegt die für die Ausstellung getroffene Auswahl die hohe Qualität der von Ernst und Hildy Beyeler in ihre private Sammlung aufgenommenen Werke. Und sie demonstriert gleichzeitig, wie schwierig es ist, bei der Erweiterung der Sammlung mit zeitgenössischen Werken dieses hohe Niveau sicherzustellen. Einige der neu erworbenen Arbeiten werden in der Jubiläumsausstellung zum ersten Mal überhaupt gezeigt, darunter die 2020 entstandene skulpturale Installation «Poltergeist» der englischen Künstlerin Rachel Whiteread (geb. 1963). Und – Überraschung! – Pierre Bonnards Gemälde «La Source ou Nu dans la baignoire» von 1917, die erste Erwerbung eines Werks der klassischen Moderne seit dem Tod des Stifter-Ehepaars.

Hanson und Kiefer
Zwei Dinge sind uns beim Rundgang durch die sehr sehenswerte Schau aufgefallen. Erstens – augenfällig und irritierend – die Anwesenheit der hyperrealistischen Skulpturengruppen des Amerikaners Duane Hanson (1925-1996). Wurden sie aufgestellt, weil der Kurator der Überzeugungskraft der ausgestellten Werke misstraute? Sicher nicht! Oder hielt er es für nötig, mit Hilfe von Hansons sozialkritisch aufgeladenen Inszenierungen die Feier des inzwischen dem bürgerlichen Kunstkanon zugerechneten Sammlungsbestands ironisch zu brechen? Oder ging es bloss darum – wie es im Pressetext heisst – «erstmals überhaupt eine repräsentative Gruppe von Hanson-Skulpturen im Kontext einer Museumssammlung» zu zeigen? Unbestritten ist, dass die Fremdkörper in einzelnen Fällen eine witzige Ergänzung schaffen – zum Beispiel die Mutter mit dem Buggy inmitten von Giacomettis lebensgrossen Figuren. Hansons Bautrupp auf dem Gerüst vor Anselm Kiefers riesigem Werk «Dein und mein Alter und das Alter der Welt» von 1997 beeinträchtigt unserer Ansicht nach dessen Monumentalität in grotesker Weise. Die zweite Auffälligkeit ist die Hängung einzelner Gemälde. Sie sind so locker platziert, dass ganze Wandteile unbespielt bleiben. Das konzentriert zwar die Aufmerksamkeit der Betrachtenden auf das einzelne Werk. Doch fragt man sich im Wissen um den Reichtum der Sammlung, weshalb da und dort nicht noch Platz für die eine oder andere Preziose gewesen wäre. Ist das Magazin wegen vieler Ausleihungen leer? Oder wurden die nicht berücksichtigten Werke als zu wenig publikumswirksam eingeschätzt?

Cover
Der Fondation Beyeler ist es offensichtlich wichtig, ihre Sammlung mit der Jubiläumsausstellung einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Dass die Boulevardzeitung «Blick» des kunstsinnigen Verlegers Michael Ringier als «Medienpartner» firmiert, unterstreicht diese Intention ebenso wie das breit angelegte Rahmenprogramm. Die Podcasterin Stefanie Müller-Frank begleitet ab dem 3. November kulturell interessierte Gäste durch die Ausstellung und vermittelt deren Eindrücke unter dem Titel «So gesehen» in Podcasts. Besonders reichhaltig sind die Angebote für Kinder und Jugendliche. Das ganze Begleitprogramm, das natürlich auch kreative Angebote und Führungen für Erwachsene umfasst, ist auf der Website der Fondation Beyeler verfügbar.

Zur Jubiläumsausstellung erschien auch eine Publikation:
Fondation Beyeler, Bouvier, R. (Hrsg.): Fondation Beyeler. 25 Highlights. Riehen/Berlin 2022 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag). 80 Seiten CHF 12.00 in der Ausstellung €18.00 im Buchhandel.

Illustrationen, oben von links: Paul Cézanne: Mme Cézanne à la chaise jaune, 1888-1890, Pablo Picasso: Epoque des Demoiselles d’Avignon, 1907 © Succession Picasso/2022, Pro Litteris, Zürich . Henri Matisse: Nu bleu I, 1952 © Succession H. Matisse/2022, Pro Litteris Zürich. alle: Sammlung Beyeler, Fondation Beyeler Riehen, Foto Robert Bayer, Basel. Mitte Duane Hanson: Lunchbreak, 1989
(vorn) und Anselm Kiefer: «Dein und mein Alter und das Alter der Welt», 1997 (Im Hintergrund). Foto aus der Ausstellung, © 2022 Jürg Bürgi, Basel. Unten: Cover der Ausstellungsbroschüre (Verlagskatalog).

«Zerrissene Moderne» und «Der Sammler Curt Glaser» im Kunstmuseum Basel

Wie es dazu kam, dass die Öffentliche Kunstsammlung der Stadt Basel kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs den Grundstein für eine der weltweit berühmtesten Kollektionen der Klassischen Moderne legen konnte, zeigt das Kunstmuseum Basel vom 22.10.2022 bis 12.2. bzw. 19.2.2023 in zwei Ausstellungen.

Elsa und Curt Glaser
Sechs Räume im Untergeschoss des Neubaus sind dem Sammler Curt Glaser (1879-1943) gewidmet, der 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, zuerst seine Stelle als Direktor der Kunstbibliothek in Berlin, später auch seine Pensionsansprüche und seine Staatsbürgerschaft verlor. Noch im gleichen Jahr brachte er einen grossen Teil seiner Wohnungseinrichtung und seiner Kunstsammlung zur Versteigerung. Bei der Auktion erwarb das Kunstmuseum Basel 200 Zeichnungen und Druckgrafiken für das Kupferstichkabinett, darunter bedeutende Werke von Edvard Munch, mit dem Glaser befreundet war. Nach einem langwierigen Rechtsstreit konnten sich der Kanton Basel-Stadt als Eigentümerin der Öffentlichen Kunstsammlung und die Erbengemeinschaft, die zunächst Anspruch auf die Restitution des Konvoluts erhoben hatte, 2020 auf einen Kompromiss einigen. Das Museum anerkannte, dass Glaser seinen Besitz aufgrund der Verfolgung durch das Nazi-Regime veräussert hatte und konnte die 1933 erworbenen Werke behalten. Für Glasers Erben sah die Vereinbarung, die beide Seiten als «gerechte und faire Lösung» akzeptierten, neben einer finanziellen Entschädigung die Zusage vor, das Schicksal des einflussreichen Kunstkenners und Sammlers in einer umfangreichen Ausstellung darzustellen. Dies ist den Kuratorinnen Anita Haldemann, Leiterin, und Judith Rauser, Assistenzkuratorin des Basler Kupferstichkabinetts mit einer klug und kenntnisreich inszenierten Schau in hohem Mass gelungen. Mit Dokumenten und Bildern lassen sie das Leben Curt Glasers, seiner gleichaltrigen Frau Elsa Kolker (1879-1932) und seiner zweiten Gefährtin Maria Milch (1901-1981), mit der er sich nach einem Aufenthalt in Paris noch 1933 in Ascona niederliess, bevor das Paar 1941 über Kuba in die USA emigrierte, Revue passieren. Die Auswahl der ausgestellten Werke beschränkt sich nicht auf die überaus wertvollen 200 Zeichnungen und Druckgrafiken, die das Kunstmuseum 1933 aus Glasers Versteigerung erwarb, sie zeigt vielmehr die ganze Breite der Privatsammlung, die von alten Meistern bis zur Moderne reichte, aber auch ostasiatische, arabische und afrikanische Werke umfasste. Leider war es, wohl aus Platzgründen, nicht möglich, den Bestand von 105 Karikaturen des französischen Künstlers Honoré Daumier (1808-1879), aus der Sammlung Glaser im Basler Kupferstichkabinett in die aktuelle Ausstellung zu integrieren. Er ist im Hauptbau in den Grafikkabinetten im 1. Stock zu sehen.

Die Ausstellung wird ergänzt durch eine inhaltlich umfassende, sehr schön gestaltete Publikation. Haldemann, A. und Rauser, J. (Hrsg.): Der Sammler Curt Glaser. Vom Verfechter der Moderne zum Verfolgten. Berlin 2022 (Deutscher Kunstverlag), 240 Seiten, CHF 38.00. (Eine Broschüre mit Übersetzungen in englischer Sprache liegt bei.)

Georg Schmidt 1939
Im zweiten Obergeschoss des Neubaus sind alle neun Säle den Ankäufen gewidmet, die es 1939 dem damals neuen Museumsdirektor Georg Schmidt ermöglichten, im drei Jahre zuvor eröffneten neuen Kunstmuseum eine «moderne Abteilung» einzurichten. Die Ausstellung dokumentiert nicht nur die Auseinandersetzungen, die sich in Basel – in der Öffentlichkeit und hinter verschlossenen Türen – um das Budget für die Neuerwerbungen abspielten, sie zeigt auch, welch verheerende Schäden die Säuberungsaktionen der Nazis in den staatlichen Kunstsammlungen des Deutschen Reiches anrichteten. 1937 wurden rund 21’000 Skulpturen, Gemälde und Arbeiten auf Papier als «entartet» aus deutschen Museen beschlagnahmt. Unter der Leitung von Propagandaminister Joseph Goebbels und von Adolf Ziegler, dem Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste, wurde im Juli 1937 in den Münchner Hofgarten-Arkaden eine Auswahl von 650 Werken aus 32 Museen präsentiert. Zwei Jahre später wählte eine von Joseph Goebbels handverlesene und geleitete Kommission 780 Gemälde und Skulpturen sowie 3500 Arbeiten auf Papier als «international verwertbar» aus. Vier Kunsthändler und das Auktionshaus Fischer in Luzern wurden beauftragt, die Werke an die Meistbietenden zu verkaufen. Das stets am von Zahlungsunfähigkeit bedrohte NS-Regime brauchte dringend Devisen. Georg Schmidt bereitete sich mit der Kunstkommission des Museums sorgfältig auf seine Einkaufstour vor. Er reiste nach Berlin, wo er nicht nur Werke der deutschen und französischen Moderne inspizierte, sondern sich auch Werke zeigen liess, welche die Deutschen nicht für «international verwertbar» hielten. Schmidt war sich der Beschränktheit seiner Mittel und der grossen Konkurrenz bewusst. Zudem musste er sich in einer mehrheitlich bürgerlichen Kunstkommission durchsetzen, die sich wenige Monate zuvor gegen seine Wahl zum Direktor engagiert hatte. Als erstes Werk kaufte
Tierschicksale klein
Schmidt vom beauftragten Kunsthändler Hildebrand Gurlitt für 6000 Franken mit einem Sonderkredit der Basler Regierung «Tierschicksale» von Franz Marc. Etwa die Hälfte der nach heftigen Auseinandersetzungen schliesslich zur Verfügung gestellten 50’000 Franken investierte er in die in Berlin reservierten Werke, die andere Hälfte setzte er während der Luzerner Auktion ein. Für das Basler Kunstmuseum waren die waghalsigen Manöver beim Ausverkauf von 21 Werken «entarteter Kunst» ein einmaliger Glücksfall –zumal sie auch dazu beitrugen, wichtige Kunst-Stücke der Moderne vor der drohenden Zerstörung im Krieg in Sicherheit zu bringen. Allerdings: Für die Arbeiten einer ganzen Generation von jungen Kunstschaffenden, die noch nicht berühmt genug waren, um zu Geld gemacht zu werden, gab es keine Rettung. Sie landeten im Feuer – wie auch die Arbeiten, die bei den Auktionen in Berlin und Luzern übrig blieben.

Die von Eva Reifert, der Kuratorin für das 19. Jahrhundert und die Klassische Moderne, und Tessa Friederike Rosebrock, der Leiterin der Provenienzforschung, mit grosser Sachkenntnis und Sorgfalt kuratierte Schau, wird durch eine sehr informative, alle Aspekte des Themas beleuchtende Publikation begleitet.
Reifert, E.; Rosebrock, T. (Hrsg.): Zerrissene Moderne. Die Basler Ankäufe «entarteter» Kunst. Berlin 2022 (Hatje Cantz Verlag), 296 Seiten, CHF 54.00 (Die englische Ausgabe trägt den Titel «Castaway Modernism», 344 Seiten, CHF 54.00)

Wir berichten ausführlich und separat über die beiden Ausstellungen und die Kataloge. Die Besprechung der Ausstellung «Curt Glaser»
steht hier zur Verfügung
und der Text über die «Entartete Kunst» und die Ankäufe für die moderne Abteilung des Kunstmuseums Basel
ist hier nachzulesen.

Illustrationen oben: Elsa und Curt Glaser (Edvard Munch, 1913). Privatsammlung. Foto © Petegorsky / Gipe for Smith College Museum of Art, Northampton, Massachusetts. Mitte: Georg Schmidt (ca. 1939).
Nachlass Georg Schmidt © Kunstmuseum Basel. Unten: Tierschicksale (Franz Marc, 1913). Kunstmuseum Basel.

Lavanchy-Clarke: Schweizer Filmpionier im Museum Tinguely

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Unter dem Titel «Kino vor dem Kino: Lavanchy-Clarke, Schweizer Filmpionier» fokussiert das Museum Tinguely in Basel vom 19. Oktober 2022 bis zum 29. Januar 2023 auf das bewegte Leben und die vielfältigen Errungenschaften des in Vergessenheit geratenen grandiosen Medienunternehmers François-Henri Lavanchy-Clarke (1848 in Morges - 1922 in Cannes), der – unter anderem – als Erster in der Schweiz farbig fotografierte und 1896, am Rande der Landesausstellung in Genf, in einem eigenen Pavillon vom Mai bis Oktober ein Lichtspieltheater betrieb. In diesem mutmasslich weltweit ersten Kino zeigte er seine zahlreichen kurzen Filme, die er mit seinem «Cinématographe» der Brüder Lumière gedreht hatte. Der Apparat, der gleichzeitig Kamera, Kopiermaschine und Projektor war, ermöglichte es, einen Film kurz nach der Aufnahme vorzuführen. Die Ausstellung, die vom Basler Medienwissenschaftler Hansmartin Siegrist und seinen Mitarbeitenden David Bucheli, Gianna Heim, Reinhard Manz und Andreas Weber sowie Andres Pardey, Vizedirektor des Museums, mit grosser Sorgfalt eingerichtet wurde, zeigt zunächst die Lebensstationen des Protagonisten, der von grosser Frömmigkeit geprägt war. Lavanchy liess sich bei der 1840 gegründeten Pilgermission auf St. Chrischona in Bettingen bei Basel zum Missionar ausbilden und arbeitete im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 im Auftrag des Schweizerischen Roten Kreuzes in Strassburg und Orléans als Sanitätsfahrer und Seelsorger. Um die im Krieg erworbene Tuberkulose zu kurieren, ging er anschliessend für die Basler Mission nach Kairo. Die dort grassierende Augenkrankheit Trachom (auch «Ägyptische Augenentzündung» genannt), die bis zu zehn Prozent der Bevölkerung erblinden liess, war für Lavanchys weiteres Leben prägend. Sein wohltätiges Engagement, für das er in Ägypten mit einem Orden geehrt wurde, hinderte ihn nicht daran, überall tüchtig Geschäfte zu machen. Hansmartin Siegrist vermutet, dass der begnadete Netzwerker, der beste Beziehungen zur pietistisch geprägten Basler Bankenwelt pflegte, bei der Umschuldung der Suezkanal-Gesellschaft selbst als Bankier tätig war und kräftig mitverdiente. 1873 nahm Lavanchy in Wien als Mitglied der ägyptischen Delegation am ersten Blindenlehrerkongress teil. Und fünf Jahre später, im Rahmen der Pariser Weltausstellung von 1878, organisierte er selbst einen «Congrès universel pour l’amélioration du sort des aveugles et des sourds-muets», wie der Kulturjournalist Christoph Heim in einem kenntnisreichen Porträt (Das Magazin, 15.10.2022) berichtete. Lavanchy setzte sich dort für die Vereinheitlichung einer Blindenschrift ein und verhalf mit seinem Einfluss der Braille-Schrift zum Durchbruch. 1879 heiratete Lavanchy die britische Industriellentochter Elisabeth Clarke. Die Familie lebte zunächst in Lausanne, später in Paris und dann in Cannes.

Für die Filmgeschichte von Interesse ist im Leben Lavanchy-Clarkes nur eine relativ kurze Zeitspanne von rund acht Jahren, von 1896 bis 1904. Fasziniert von der Fotografie und von den ersten Verkaufsautomaten, die er zum Vertrieb von Schokolade und Rauchwaren in Bahnhöfen und in den neu aufkommenden Warenhäusern nutzte, kam er mit der Firma der Brüder Lumière in Lyon in Kontakt und erhielt 1896 eine Exklusiv-Lizenz zum Gebrauch ihres neuartigen «Cinématographe» in der Schweiz.Davon machte er
Der Expo-Pavillon von Lavanchy-Clarke_email
sofort ausgiebig Gebrauch, indem er im ganzen Land kurze, sorgfältig inszenierte Szenen drehte. Die Ausstellung zeigt eine Fülle dieser kurzen Streifen, von denen das Team von Hansmartin Siegrist 50 im Nachlass und in den französischen Archives Nationales des Films CNC wieder entdeckte. Die Filme zeigen schwerpunktmässig sowohl seine Familie in den Sommerferien in Cannes als auch die Schönheiten der Schweizer Bergwelt und die Besonderheiten des helvetischen Brauchtums. Den Höhepunkt bildeten die Vorführungen an der Landesausstellung, die wegen der als unpatriotisch empfundenen kommerziellen Interessen des Filmpioniers auf dem angrenzenden Rummelplatz stattfinden mussten, auf dem auch eine Völkerschau mit einer Truppe von 200 «Eingeborenen» aus dem Senegal, gezeigt wurde. In einem prächtig ausgestatteten «Palais des Fées» erfreute Lavanchy-Clarke das staunende Publikum nicht nur mit seinem Film-Spektakel, sondern auch mit einem japanischen Café und andere exotischen Merkwürdigkeiten. Während die Brüder Lumière ihre Filmkunst zur Abbildung von ausgewählten Alltagsszenen nutzten, setzte Lavanchy-Clarke das neue Medium
Sunlight-Reklame
von Anfang für seine kommerziellen Interessen ein. Zu seinen wichtigsten Geschäftspartnern gehörten seit 1889 die ebenso frommen wie geschäftstüchtigen Lever Brothers, die Erfinder der «Sunlight»-Seife. Das neue Medium bot zahlreiche Möglichkeiten, die wohlriechende Seife, die aus Glyzerin und Palmöl – und nicht mehr aus stinkendem Talg – hergestellt wurde, zu bewerben. Lavanchy-Clarke inszenierte nicht nur eigentliche Werbefilme, sondern erfand auch das Product Placement, indem er den Sunlight-Schriftzug geschickt in Filme integrierte.

Auch wenn er nicht an Reklame dachte, war Lavanchy-Clarke ein Meister der sorgfältigen Inszenierung. Zu sehen ist das in der Ausstellung an einem Glanzstück der Schweizer Filmgeschichte: Am 16. Mai 1896 dirigierte er bei der Eröffnung der Landesausstellung die berühmtesten Schweizer Künstler vor seine Kamera. Ferdinand Hodler ist da, zusammen mit Albert Welti und Cuno Amiet. Auf weiteren Sequenzen spazieren die Chefs der Landesausstellung und andere Honoratioren im Folklore-Umzug mit. Der 50-Sekunden-Film mit dem Gewimmel des Publikums auf der Mittleren Rheinbrücke in Basel, der im September 1896 gedreht wurde, darf in der Ausstellung natürlich nicht fehlen. Er bildete den Ausgangspunkt der jahrelangen Forschungsarbeit von Hansmartin Siegrist und seinem Team, die schliesslich zur Wiederentdeckung des Belle-Epoche-Genies François-Henri Lavanchy-Clarke führte.

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Als der Boom des Lumière-«Cinématographe» durch neue technische Entwicklungen 1904 zu Ende ging, wandte sich Lavanchy-Clarke wieder vermehrt seinen philantropischen Interessen zu. Er zog sich mit seiner Familie nach Cannes zurück und brachte dank seinem einzigartigen Charisma Weltstars wie Sarah Bernhardt dazu, für seine Hilfsorganisationen auf Benefizkonzerten aufzutreten. Mit den Brüdern Lumière blieb er in Kontakt. Als sie das Farbdia-Verfahren Autochrome entwickelten, war er einer der ersten, die davon Gebrauch machen konnten. So wurde er zum ersten Farbfotografen der Schweiz.

Zur Ausstellung erschien von Hansmartin Siegrist der dokumentarische Kinofilm «Lichtspieler. Wie der geniale Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte».

Als Ausgangspunkt der Forschung über François-Henry Lavanchy-Clarke erhält Hansmartin Siegrists Buch «Auf der Brücke zur Moderne: Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque» (Basel 2019, Christoph Merian Verlag) durch die Ausstellung neue Aktualität.

Illustrationen von oben nach unten: François-Henri Lavanchy-Clark mit seinem «Cinématographe» (Ausschnitt) © Fondation Herzog, Basel. «Palais des Fées» an der Landesausstellung in Genf 1896, ©Cinémathèque Suisse, Lausanne. «Les Laveuses» (Filmstill aus der Ausstellung). Die Familie Lavanchy-Clarke, Cannes 1906 ©Fondation Herzog, Basel.

«Territories of Waste» im Museum Tinguely

Unter dem etwas sperrigen Titel «Territories of Waste. Über die Wiederkehr des Verdrängten» zeigt das Museum Tinguely in Basel vom 14. September 2022 bis zum 8. Januar 2023 wie sich Kunstschaffende weltweit mit dem umweltpolitisch wichtigen Thema des Abfalls auseinandersetzen. Die von Sandra Beate Reimann kuratierte Ausstellung zeigt Arbeiten von 27 Künstlerinnen, Künstlern und Kunstkollektiven. Auf eine Rangordnung oder eine andere Art von rotem Faden habe sie bewusst verzichtet, erläuterte die Kuratorin bei der Präsentation. Die Grösse der skulpturalen Objekte, die Länge der – zahlreichen – Video-Installationen oder die Zeit der Entstehung bieten keine Orientierung. Die Auswahl erscheint damit einigermassen zufällig. Aber Müllberge gibt es überall, Abfall ist allgegenwärtig, und alle Recyclingparks können nicht verhindern, dass die Relikte der menschlichen Zivilisation nicht einfach verschwinden. Einen eindrücklichen Beleg dafür bieten Anca Benera und Arnold Estefán mit ihrer multimedialen Arbeit «The Last Particles» von 2018. Die aus Rumänien stammenden Kunstschaffenden untersuchten
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den Sand auf dem Küstenabschnitt «Omaha Beach». Das Gelände, auf dem am 6. Juni 1944, bei der Invasion der Normandie, besonders hart gekämpft wurde, ist bis heute, dem blossen Auge nicht sichtbar, von Metallpartikeln durchsetzt. Neben naturwissenschaftlichen Werkzeugen gehört ein Video zur Installation, auf dem zu sehen ist, wie die Metallteile, magnetisch erregt, eine Art Tanz aufführen.

Einen ganz anderen Ansatz wählte, in der Ausstellung gleich daneben, Mierle Laderman Ukeles, als sie 1969 in einem Manifest Gedanken über Todestrieb und Lebensinstinkt nachdachte und dem Todestrieb den Willen zum eigenständigen, individuellen Lebensweg zuschrieb, der in der Kunst zur ständigen Erneuerung beiträgt. Im Gegensatz dazu sah sie als «Künstlerin, als Frau, als Ehefrau, als Mutter» den Lebensinstinkt als das ständige Bemühen, das Bestehende zu erhalten, indem das Neue bewahrt und der Fortschritt geschützt wird. Ihre, aus heutiger Sicht, etwas weit hergeholte Reflexion über ihr weibliches Künstlertum, führte sie dazu, den Fokus auf alle Formen der Pflege und der Reinigungsarbeiten zu richten, die gesellschaftlich zu wenig geachtet und geschätzt werden. So dokumentierte sie ihre häuslichen Routinen als Hausfrau und Mutter. Und 1973 fegte sie Eingangstreppe und Fussboden des schlossähnlichen «Wadsworth Atheneum»-Museums in Hartford (Connecticut). Seit 1977 war sie – unbezahlt – als Künstlerin bei
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der New Yorker Müllabfuhr, dem «New York City Department of Sanitation» (DSNY),tätig und entwickelte öffentliche Performances, Ausstellungen und Kunstwerke im Stil der Land Art. Zu den bekanntesten Manifestationen zählt ihre zweijährige, umfassend dokumentierte Performance, bei der sie allen 8500 Beschäftigten des DSNY per Handschlag dafür dankte, «dass Sie New York City am Leben erhalten».

Botschaften gegen die Vermüllung der Umwelt und die Vergeudung von natürlichen Ressourcen – beide Begriffe schwingen im Titel «Territories of Waste» mit – bestimmen einen grossen Teil der ausgestellten Arbeiten. Aber es gibt auch Künstlerinnen und Künstler, die Hoffnung vermitteln, indem sie die desaströsen Gegebenheiten ironisch brechen. Da befasste sich zum Beispiel der Architekt Bjarke Ingels 2011 mit dem Entwurf einer Müllverbrennungsanlage in Kopenhagen. Der Plan sah eine begrünte hohe Aufschüttung vor, die auch als Skihügel genutzt werden kann, während im Innern Abfall verbrannt und mit der Abwärme 160’000 Haushalte versorgt werden konnten. Jan und Tim Elder und ihre Berliner Künstlergruppe «realities:united», im Wissen, dass
Waste
bei der Müllverbrennung tausende Tonnen Kohlendioxid entstehen, erweiterten das Konzept mit dem Vorschlag, die Abgase so zu manipulieren, dass sie regelmässig in Form eines 30 Meter breiten Rauchrings in die Luft geblasen würde. Das heisst: Der ganze Spass ist nur möglich, weil so viel Müll produziert wird, der verbrannt werden muss. Schade, dass die Kopenhagener Behörden das Kunst-Stück, das auf faszinierende Weise eine Verbindung zwischen Schrecken und Schönheit herstellte, nicht realisieren wollten. In ähnlicher Weise bereicherte Otto Piene 1976 mit seiner Arbeit «Black Stacks Helium Sculpture» die Ausstellung «The River: Images of the Mississippi» und akzentuierte die vier Schlote
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der Southeast Steam Plant in Minneapolis. Zu sehen waren rote mit Helium gefüllte Polyethylenschläuche, die 90 Meter hoch senkrecht über den Kaminen schwebten. Klar, dass die Installation subtil auf die Luftverschmutzung des Kraftwerks hinwies. Umso erstaunlicher aus heutiger Sicht, dass die Betreiber der Dampfzentrale, die sich dessen voll bewusst waren, die Installation tolerierten!

Es ist ein grosses Verdienst der Kuratorin, dass die deutsch/englische Begleitpublikation – 27 Franken in gedruckter Form, gratis als Download auf der Website des Museums – jedes einzelne der ausgestellten Kunstwerke ausführlich vorstellt. Sandra Beate Reimann verortet zudem in einem einleitenden, kenntnisreichen Essay die ausgestellten Werke in der Geschichte der zeitgenössischen Kunst. Gerade die Arbeiten Jean Tinguelys und mancher seiner Künstlerkolleginnen und -kollegen zeugen von einer scharfen Kritik am hemmungslosen Konsumismus der europäischen Wirtschaftswunderjahre und der amerikanischen Überflussgesellschaft. Tinguelys Rotozazas – Rotozaza II zertrümmerte 1967 im Loeb Student Center der New York University am laufenden Band (volle) Bierflaschen und Rotozaza III zertrümmerte 1969 12’000 Teller in einem Schaufenster des Kaufhauses Loeb in Bern – sind ein gutes Beispiel für die Art, wie Künstler am Ende der aufwühlenden 1960er-Jahre Gesellschaftskritik übten. Dass sie seit den 1950er-Jahren vielfach Schrott und Müll verarbeiteten, ist allerdings weniger als Statement für den Ressourcenkreislauf zu verstehen, vielmehr war die Zweitverwertung ihren prekären finanziellen Verhältnissen geschuldet: Sie hatten schlicht kein Geld, um ungebrauchtes Material zu kaufen.

Das Museum bietet während der Ausstellung ein umfangreiches Begleitprogramm, darunter die Neuerung des langen Donnerstag mit freiem Eintritt ab 18 Uhr. Details gibt es auf einem Flyer und auf der Website des Museums https://www.tinguely.ch/de/veranstaltungen.html.

Illustrationen: Oben: Anca Benera und Arnold Estefán: The Last Particles(Foto ©FRAC, courtesy Frac des Pays de la la Loire; Fanny Trichet. Mitte: Mierle Laderman Ukeles: Touch Sanitation Performance 1979-1980/2017. © Mierle Laderman Ukeles, Foto: Vincent Russo, courtesy the artist and Ronald Feldman Gallery, New York. Unten: Jan und Tim Elder,«realities:united», «BIG Vortex» 2011. Scan aus der Publikation zur Ausstellung. Ganz unten: Otto Piene: Black Stacks Helium Sculpture. 1978. ©2022 Pro Litteris, Zürich. Foto: courtesy Walker Art Center, Minneapolis.

Picasso und El Greco im Kunstmuseum Basel

El Greco-Picasso
Vom 11. Juni bis 25. September 2022 widmet sich das Kunstmuseum Basel dem merkwürdigen künstlerischen Dialog Pablo Picassos (1881-1973) mit dem aus Kreta stammenden Maler, Bildhauer und Architekten Domínikos Theotokópoulos (1541-1614), der unter dem Künstlernamen El Greco als Meister des spanischen Manierismus berühmt wurde. Die Kuratorin Carmen Giménez und ihre Co-Kuratoren Gabriel Dette und Josef Helfenstein und die Co-Kuratorin Ana Mingot zeichnen Picassos langjährige Auseinandersetzung mit dem Meister der Spätrenaissance mit rund 30 Werkpaaren nach. Die Ausstellung belegt, dass sich Picassos Interesse für den Altmeister schon in sehr jungen Jahren etablierte. 1898, nach der Niederlage im Spanisch-Amerikanischen Krieg, welche das Ende der Kolonialmacht Spanien besiegelte, suchte das Land nach einer neuen Identität. Nationalistische und nostalgische Reflexe dominierten in dieser Zeit auch das Kunstschaffen. Der 15-jährige Maler-Eleve Picasso bewegte sich ab 1895 in Barcelona unter Künstlern, die sich an den Meisterwerken der «Spanischen Schule» orientierten. Ihre Vorbilder waren neben El Greco, Diego Velázquez (1599-1660) und Francisco de Goya (1746-1828). Vor allem El Greco, der in seiner eigenen Bildsprache die Traditionen der griechisch-byzantinischen, der venezianischen und der spanischen Malerei vereinigte und durch sein von Geheimnissen umwehtes, bloss spärlich dokumentiertes Leben faszinierte, war für junge, rebellische Künstler ein ideales Vorbild. Die ersten Beispiele von Picassos Faszination für den Griechen stammen aus den Jahren 1898 und 1899. Herausragend: Sein «Bildnis eines Fremden im Stil El Grecos» (1899), das die für El Greco typische lange Schädelform nachahmte. Auch das «Begräbnis des Casagemas (Evokation)», zwei Jahre später als gemalter Nachruf auf den Freund entstanden, nimmt Bezug auf den Meister – und markiert den Beginn seiner von Melancholie geprägten «blauen Periode». War die Auseinandersetzung mit dem Altmeister am Anfang seiner Malerlaufbahn bisher schon fester Bestandteil der Picasso-Exegese, so schlägt die Kuratorin den Bogen viel weiter: Ihrer Ansicht nach war sie intensiver, als bisher angenommen, und hielt sehr lange an. Rückgriffe auf El Greco prägten nicht bloss die kubistische Periode, die einen Schwerpunkt der Ausstellung bildet, kamen bis in die späten Jahre immer wieder vor. Die Reihe reicht bis zum «Musketier» von 1967, einem Strongman in spanischer Tracht, auf dessen Rückseite Picasso seine Bewunderung für die Altmeister El Greco, Rembrandt van Rijn und Velázquez in witziger Weise mit der Inschrift «Domenico Theotocopulos van Rijn da Silva» verewigte.

Beim Rundgang durch die neun Räume der Ausstellung, möchten wir wissen, ob die These stimmt, dass Picasso sich praktisch während seiner ganzen Schaffenszeit immer wieder von Bildern El Grecos hat inspirieren lassen. Das Resultat ist wenig überraschend: Es gibt überzeugende Beispiele, wo die Wahlverwandtschaft frappant ins Auge sticht. Aber es gibt auch zahlreiche Momente, wo der Nachweis scheitert. Dies gilt insbesondere für viele der religiösen Motive El Grecos, die bei Picasso keine Resonanz erzeugen. So zum Beispiel, wenn Picassos Kreuzigungsbild («Die Kreuzigung Christi», 1930) El Grecos «Christus vertreibt die Händler aus dem Tempel» (um 1610/14) zur Seite gestellt wird. Aber die kunsthistorischen Übertreibungen tun der hohen Qualität der Ausstellung keinen Abbruch. Es ist schön, die ausgeliehenen Bilder, sowohl die von Picasso als auch jene El Grecos, in Basel vor unserer Haustür sehen zu können. Und es ist wunderbar, Picassos Werke aus der Sammlung des Museums in diesem Kontext neu zu entdecken. Und besonders gelungen und hilfreich fanden wir die beiden wandfüllenden Zeittafeln, die das Wirken der beiden Künstler in den historischen Kontext stellen. Die ausführliche Chronologie ist auch im Katalog enthalten.

Nachtrag September 2022: Nach sorgfältiger Lektüre der kenntnisreichen Katalog-Aufsätze finden wir keine Anhaltspunkte, die uns unser skeptisches Urteil über die kuratorische These mit Überzeugung korrigieren liesse. Wir verzichten deshalb auf eine ausführliche Besprechung.

Den Katalog zur Ausstellung gibt es in einer deutschen und einer englischen Version. Er enthält Beiträge von Gabriel Dette, Carmen Giménez, Josef Helfenstein, Javier Portús und Richard Shiff: Giménez, C., Helfenstein, J. (Hrsg.): Picasso – El Greco. Berlin 2022 (Hatje Cantz Verlag), 192 Seiten, € 44.00/CHF 50.50

Illustrationen: «Bildnis eines älteren Edelmannes» (El Greco, um 1587/1600), «Jaume Sabartés mit Halskrause und Haube» (Pablo Picasso, 1939)

Piet Mondrian in der Fondation Beyeler

Mondrian Porträt
Wie sich der niederländische Künstler Piet Mondrian (1872-1944) vom traditionellen Landschaftsmaler zum Avantgardisten entwickelte, ist vom 5. Juni bis zum 9. Oktober 2022 in der Fondation Beyeler in Riehen zu sehen. Unter dem Titel «Mondrian Evolution» demonstriert Kurator Ulf Küster anhand von 85 Werken sehr anschaulich den Weg von der Figuration zur Abstraktion. In neun Räumen sind die Werke in zumeist chronologischer Abfolge so gehängt, dass der Wandel nachvollzogen werden kann. Zwei Dinge sind bei einem ersten Rundgang durch die sehr grosszügig gestaltete Schau auffällig: Zu Beginn seiner Malerkarriere bevorzugte Mondrian ausgesprochen kleine Formate. Die grossen Bilder entstanden erst in der Phase, als sich der Maler auf der Suche nach seinem eigenen Stil zunächst Inspiration bei Van Gogh, dann bei Picasso suchte. Und: Erst um 1910 begann Mondrian seine Naturansichten radikal zu reduzieren. Besonders schön zeigt das ein Ensemble, das mit dem im Abendlicht rot leuchtenden, noch expressionistisch empfundenen Baum beginnt. Kurz darauf malte Mondrian denselben Baum erneut, diesmal seitenverkehrt und mit stark vereinfachtem Astwerk. Das «Rot, heisst es dazu im Saaltext-Heft, könne in der zweiten Version als Signal für die Rückkehr des Wachstums im Frühling verstanden werden. Der Hintergrund, im ersten Bild noch dunkelblau, wechselt zu einem helleren, spätwinterlichen Farbton. 1912, schliesslich, ist ein «Blühender Apfelbaum» mit ausladender Krone auf der grau-braun grundierten Leinwand nur noch zu erahnen. Die Äste haben die Verbindungen unter einander
Mondrian Bäume
weitgehend verloren. Aber das Leitmotiv bleibt, wie auch bei anderen Gemälden dieses Zyklus, die künstlerische Darstellung organischen Wachstums. Von dieser Bindung der Malerei an die Natur ist bei der Hinwendung zur radikalen Abstraktion in der zweiten Hälfte von Mondrians Künstlerkarriere nichts mehr zu erkennen. Immerhin blieb er auch beim Malen und Zeichnen dieser für ihn bis heute charakteristischen Werke der Handarbeit treu. Die konservatorischen Untersuchungen an seinen Werken in der Sammlung der Fondation Beyeler ergab, dass sich Mondrian beim Malen keiner technischen Hilfen bediente: Die Bilder wurden nicht mit dem Lineal konstruiert, sondern frei komponiert. Und nur selten gab es Kohle-Vorzeichnungen. Sie entstanden freihändig und sehr langsam in mehreren Etappen. Der Künstler korrigierte und übermalte seine Werke bis er überzeugt war, die ideale Balance zwischen Linien und Farben gefunden zu haben.«Mondrian Evolution» ist eine jener Ausstellungen, die man gern ein zweites Mal besucht.

Nach der Fondation Beyeler in Riehen zeigt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen die gemeinsam und in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Den Haag entstandene Mondrian-Schau vom 29. Oktober 2022 bis 10. Februar 2023 in Düsseldorf

Zur Ausstellung erschien (in einer deutschen und einer englischen Ausgabe) ein sehr schön von der holländischen Grafikerin Irma Boom gestalteter Katalog mit kenntnisreichen Essays und einem ausführlichen illustrierten biografischen Kapitel. Ulf Küster (Hrsg): Mondrian Evolution. Berlin 2022 (Hatje Cantz Verlag), 264 Seiten, CHF 58.00/€ 54.00.

Illustrationen: Porträt (Ausschnitt) von Arnold Newman: Piet Mondrian, 1942 in seinem Atelier in New York (Scan aus dem Katalog). Avond (Abend), Der rote Baum, 1908-1910 Kunstmuseum Den Haag, NL; Baum (1912?) Munson Williams Proctor Arts Institute, Museum of Art, Utica, NY; Bloeiende appelboom (Blühender Apfelbaum) 1912), Kunstmuseum Den Haag, NL.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung unter Berücksichtigung der Katalogbeiträge ist
hier zu finden.

Jean-Jacques Lebel im Museum Tinguely

Porträt Jean-Jacques Lebel
Vom 13. April bis 18. September 2022 präsentiert das Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «‹La Chose› de Tinguely, quelques philosophes et ‹Les Avatares de Vénus›» Arbeiten des französischen Happening-Erfinders Jean-Jacques Lebel. Die Intervention «L’enterrement de ‹la Chose›» fand am 14. Juli 1960, dem französischen Nationalfeiertag, in Venedig zu Ehren der 22-jährigen Nina Thoeren, statt. Die junge Frau, Stieftochter von Lebels Kollegen, des Dichters und Kunstkritikers Alain Jouffroy (1928-2015), war in Los Angeles von einem Bibelverkäufer vergewaltigt und ermordet worden. Der Künstlerkreis um Lebel und Jouffroy inszenierte das Gedenken als Bestattungszeremonie mit der rituellen Ermordung der Skulptur «La Chose» von Jean Tinguely, mit laut trauernden Klageweibern. Die Zeremonie nahm im Palazzo Contarini-Corfù am Canal Grande mit der feierlichen Verladung der Skulptur auf eine Gondel ihren Anfang. Die zahlreichen Gäste, darunter Peggy Guggenheim, welche ihre Gondeln zur Verfügung stellte, nahmen nach einem Korso auf dem Canal Grande Kurs auf den Canale della Giudecca, wo die Skulptur versenkt wurde.

Die aufwändig zelebrierte Aktion war Teil der von Lebel, Jouffroy und Sergio Rusconi in der Galleria d’Arte Il Canale organisierten Ausstellung «L’anti-procès II», die als Gegenstück zur gleichzeitig stattfindenden Biennale verstanden werden wollte. Die Ausstellungsreihe hatte im Jahr zuvor mit «L’anti-procès I» in Paris als Protest gegen den mit grösster Grausamkeit geführten Algerienkrieg und den französischen Kolonialismus begonnen. In Venedig weitete sich der Blick: Nicht die Leistung nationaler Kunstszenen sollte gefeiert werden, wie sie die Biennale zelebrierte, sondern die Kunst als kulturelle Leistung der ganzen Menschheit. Jean-Jacques Lebel, 1936 im Pariser Vorort Neuilly geboren und in New York aufgewachsen, verstand sich
L’Enterrement
seit seiner Jugend als Kunst-Revoluzzer. Wie er in seiner aktuellen Ausstellung im Museum Tinguely demonstriert, sind seine Vorbilder immer noch Rebellen der Philosophie (Bakunin, Nietzsche, Spinoza), der Kunst (Marcel Duchamp) und der Literatur (Dostojewski). Mit Begeisterung führte er den Medienleuten seine witzigen Porträt-Skulpturen vor und zeigte am Beispiel der zur Interaktion einladenden Assemblage «Portrait de Nietzsche» (1961), was die Avantgardekünstler jener Zeit, unter anderen auch Jean Tinguely, antrieb: Die Kunst geht alle an, sie ist für alle da, und alle sollen dazu beitragen. Deshalb gibt es in Lebels Nietzsche-Kiste einen Briefkasten, der dem Meinungsaustausch dienen sollte, und zahlreiche Musik- und Lärminstrumente, mit denen man ein spontanes Konzert veranstalten konnte. Natürlich fehlten auch die Belege für Nietzsches verkorkstes Verhältnisse zu den Frauen nicht, darunter die Foto-Inszenierung von 1882 aus dem Atelier Bonnet in Luzern, auf der Friedrich Nietzsche mit seinem Freund, der Philosoph und spätere Arzt Paul Rée (1849-1901) als Zugrösslein vor einen Leiterwagen gespannt sind, der von der peitschenschwingenden Lou Salomé (1861-1937), die mehrfach Heiratsanträge der beiden verliebten Narren abgewiesen hatte. (Die Szene wird oft als Illustration zum – verballhornten – Zitat aus dem ersten, 1883 geschriebenen Teil von Nietzsches «Zarathustra»-Zyklus «Gehst Du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht!» verstanden.)

Den Porträts von Lebels Lieblingsdenkern stellte Kurator Andres Pardey logischerweise Jean Tinguelys Maschinen-Porträts von Henri Bergson und Pjotr Kropotkin aus dem Philosophen-Zyklus von 1988 gegenüber.

Mit dem Happening in Venedig – angeblich die erste derartige Intervention in Europa (wenn man Tinguelys spektakulären Umzug seiner fahrbar gemachten Skulpturen vom Pariser Atelier in der Impasse Ronsin in die Galerie des Quatre Saisons nicht mitzählt) – legte Lebel den Grundstein für seine Karriere als Künstler und als Kunsttheoretiker. Jean Tinguely, der in Venedig nicht dabei war, aber Lebel telefonisch sein Plazet zur Versenkung seiner Arbeit gab, hatte im März desselben Jahres bei der Selbstzerstörung seiner Plastik «Homage à New York» zusammen mit amerikanischen Künstlerfreunden den Weg gewiesen. Weder in New York noch in Venedig stiessen die Veranstaltungen auf Begeisterung. Nach den bis dahin geltenden Massstäben des bürgerlichen Kunstverständnisses konnte von Kunst nicht die Rede sein, wenn sich Künstler mit Kunstwerken Allotria trieben oder sie gar mutwillig zerstörten. «Wir waren damals alle Aussenseiter», sagte Jean-Jacques Lebel bei der Präsentation seiner Ausstellung. «Deshalb gab es einen grossen Zusammenhalt in der Kunstszene. Hierarchien und Eifersucht aufgrund des Erfolgs auf dem Kunstmarkt wie heute, existierten nicht», berichtete Lebel über den rebellischen Zeitgeist.

Um diesen Zeitgeist zu verstehen, ist es nützlich, sich nur schon die dichte Folge von erregenden Ereignissen zu vergegenwärtigen, die 1960 für Aufsehen sorgten: Am 13. Februar explodierte in der Sahara die erste französische Atombombe, zwei Wochen später, am 29. Februar, zerstörte ein Erdbeben in Marokko die Stadt Agadir; das Epizentrum lag direkt unter der Altstadt; 15’000 Menschen fanden den Tod. Am 1. Mai schoss die russische Luftwaffe ein amerikanisches U-2-Aufklärungsflugzeug ab – eine gewaltige Blamage für die US-Regierung, zumal der Pilot gefangen genommen und später als Spion verurteilt wurde. Erwartungsgemäss scheiterte kurz darauf ein Gipfeltreffen der Supermächte in Paris. Am 23. Mai kidnappte ein Kommando des israelischen Geheimdienstes in Argentinien den Nazi-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann und brachte ihn nach Jerusalem. Und ähnlich rasant folgten auch in der zweiten Jahreshälfte, nach dem «Enterrement» von Tinguelys Skulptur, weitere spektakuläre Ereignisse.

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Jean-Jacques Lebel folgte ein Leben lang seinen rebellischen Konzepten. Praktisch und theoretisch setzte er sich mit den revolutionären Möglichkeiten der künstlerischen Kreativität auseinander. In einem Manifest «Grundsätzliches zum Thema Happening», das Jean-Jacques Lebel als Erstunterzeichner signierte (und wohl auch formulierte), heisst es: «‹Produktion geht über Alles!› Dieser Ordnungsruf wird überall befolgt, sogar bei den ‹Künstlern›, ohne dass ihnen dabei bewusst ist, wie sie unversehens zu Kitschproduzenten werden. … Wenn die Kunst wirklich notwendig für das Leben des Geistes ist, muss das Gespräch über die sozialen Trennwände hinweg wiederaufgenommen werden, der Umwandlung der Kunst zu einem besonderen Zweig der Industrie zum Trotz. Unsere wichtigsten Bemühung liegt darin, das in Malerei und Dichtung, in Theater oder Film zu verwandeln, was die Ausbeuter-Gesellschaft mit ihrem Handel und ihrer Absurdität in Beschlag genommen hat.»

Es wäre angesichts des Enthusiasmus, mit dem er die Erfindungen seines jugendlichen Furors auch als 86-Jähriger vorführt, ungerecht zu behaupten, Jean-Jacques Lebel habe in seinem Alterswerk den Glauben an die aufklärerische Kraft der Kunst aufgegeben. Sein zweites grosses Werk, das er in seiner Schau präsentiert, die Video-Installation «Les Avatars de Vénus» von 2007, ist mit Abbildungen von gemeisselten, gemalten, fotografierten und gefilmten nackten Frauenkörpern heutzutage zwar nicht mehr geeignet, brave Bürger zu schockieren, wie es seinerzeit die Happenings garantierten. Indem die 7000 Bilder aus der gesamten Kunstgeschichte, von der fast 30’000 Jahre alten«Venus von Willendorf» bis zur zeitgenössischen Stripperin, durch die Technik des Morphing ineinander übergehen, ergibt sich aber ein Panorama das durchaus der Intention von Lebels Revoluzzer-Generation entspricht, die Kunst als kollektive Leistung der ganzen Menschheit zu verstehen.

Die Ausstellung, wiewohl etwas abseits des grossen Rummels im zweiten Stock platziert, ist ein formidables Ergänzungsstück zur umfassenden Retrospektive «Party for Öyvind» im Erdgeschoss, die derselben Epoche gewidmet ist. Sie dauert allerdings nur noch bis zum 1. Mai.

Zitat aus: Jean-Jacques Lebel und weitere sieben weitere Mitunterzeichner: «Grundsätzliches zum Thema Happening» In: Jürgen Becker, Wolf Vostell (Hrsg.): Happenings. Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation. Reinbek b. Hamburg 1965 (Rowohlt Verlag), S. 357ff.

Zur Ausstellung erschien eine Begleitbroschüre, die über die ausgestellten Objekte hinaus einen Einblick in die Kunstbewegung des Anti-Procès und ihre künstlerischen Vorläufer im Surrealismus und im Dadaismus ermöglicht: Museum Tinguely Basel (Hrsg.), Andres Pardey (Texte): Jean-Jacques Lebel – L’enterrement de la Chose de Tinguely, Anti-Procès 1, 2, 3, Begegnung in NYC bei Teeny und Marcel. Basel, 2022. 44 Seiten, CHF 10.00.

Illustrationen: Oben: Porträt Jean-Jacques Lebel © 2022 Jürg Bürgi, Basel. Mitte: Besteigen der Gondeln zum «Enterrement» am 14.7.1960 am Canal Grande (Scan aus der Begleitbroschüre). Unten: Installationsansicht «Les avatars de Vénus» (© 2022,Museum Tinguely/Daniel Spehr)

«Party for Öyvind» im Museum Tinguely

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Zu einer «Party for Övyind» lädt das Museum Tinguely vom 16. Februar bis 1. Mai 2022 ein. Der Titel ist etwas irreführend, da Öyvind Fahlström, der Protagonist, sich auf der Sause nicht nur feiern lässt, sondern sich daran auch überaus aktiv beteiligt. Das gilt im übertragenen Sinn für die Ausstellung wie auch ganz konkret für die Party, die Claes und Patty Oldenbourg am 4. Februar 1967 in ihrem riesigen New Yorker Atelier-Loft zum Geburtstag Öyvinds und zur Feier seiner ersten Einzelausstellung ausrichteten. Nach der Überlieferung sollen rund 500 Personen an dem Fest teilgenommen haben. Der Zustrom war kein Zufall: Öyvind Fahlström, 1928 in São Paulo als Sohn eines Norwegers und einer Schwedin geboren und 1978 in Stockholm an Krebs gestorben, war seit den frühen 1950er-Jahren, als er in Stockholm Kunstgeschichte und Archäologie studierte, ein ungemein begnadeter Netzwerker. Er selbst bezeichnete sich Zeit seines kurzen Lebens als Poet. Aber sowohl seine eigenen Aktivitäten wie auch seine Kontakte im Künstlermilieu kannten keine Grenzen. Er interessierte sich für alle Arten kreativer Betätigung und war überall aktiv dabei. Er schrieb – Gedichte, Essays in zahlreichen Zeitschriften der Avantgarde, Theaterstücke – , er malte, zeichnete und collagierte, er filmte, organisierte Ausstellungen, inszenierte Performance- und Tanz-Darbietungen und knüpfte Freundschaften mit allen Kulturschaffenden, denen er begegnete. Die von der schwedischen TV-Kulturjournalistin Barbro Schultz Lundestam und ihrem Ehemann Gunnar Lundestam kuratierte Schau, die zuerst – in bescheidenerem Umfang – in Stockholm zu sehen war und nach ihrer Station in Basel im Kunstverein in Hamburg gezeigt wird, vermittelt einen enzyklopädischen Querschnitt durch die Avantgarde-Kunst der Jahre 1950 bis 1980. Sie reflektiert einen künstlerischen Zeitgeist, der es sich zur Aufgabe machte, den gesellschaftlichen Umbruch der Nachkriegszeit in allen Facetten sichtbar zu machen. Anders als heute, wo jede Art von Grenzüberschreitung mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen wird und alles erlaubt scheint, spürten die Künstler in den Nachkriegsjahren den Widerstand des tonangebenden konservativen Kulturmilieus. Das verstärkte den Zusammenhalt der jungen Generation, die oft genug am Existenzminimum lebte. Gleichzeitig herrschte ein kreatives Treibhausklima, das spartenübergreifende Kooperationen förderte. Öyvid Fahlström verkörperte dieses Zeitgefühl in beispielhafter Weise: er interessierte sich für alles, und er war auf der ganzen Welt zu Hause.

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Die Ausstellung folgt dem Leben und dem Werdegang von Övyind Fahlström. Er war etwas mehr als 10 Jahre alt, als ihn sein schwedischer Grossvater 1939 in Brasilien zu einem Besuch in der Heimat seiner ausgewanderten Eltern abholte. Als vor der geplanten Heimkehr der Zweite Weltkrieg ausbrach, blieb das Kind bei der Familie seiner Tante in Schweden. Dort ging er zur Schule, machte als einer der Besten seines Jahrgangs das Abitur. Erst 1947 sah er seine Eltern wieder. Um dem Dienst in der brasilianischen Armee zu entgehen, entschloss er sich, in Schweden zu bleiben und dort zu studieren.

Die ersten Ausstellungsobjekte zeigen Öyvind Fahlström als jungen Dichter, der seine Verse, die er 1954 mit dem ersten Manifest der konkreten Poesie fundierte, in den angesagten Magazinen. Übrigens: Der in Bolivien geborene Schweizer Dichter Eugen Gomringer (*1925), der bei uns als Begründer der konkreten Poesie gilt, publizierte sein eigenes Manifest «vom vers zur konstellation» erst einige Monate nach Oyvind Fahlström – und ganz unabhängig von ihm. Die beiden sind sich anscheinend nie begegnet.

Die zweite Etappe in seinem Künstler-Leben führte Fahlström nach Italien, zuerst, 1950, auf dem Trampelpfad der Archäologen in Rom, Neapel, Sizilien und Sardinien. Zwei Jahre später kehrte er zurück und schrieb von Rom aus als Journalist für Tageszeitungen und Kunstmagazine über alle möglichen Erscheinungen des Kulturbetriebs. Seine Tätigkeit machte Kontakte zu Künstlern und Kulturschaffenden aller Art möglich. Besonders beeindruckte ihn der Maler und Grafiker Giuseppe Capogrossi (1900-1972), von dem er sich zu eigenen Bildern inspirieren liess. Zu seinen Freunden zählte auch der chilenische Architekt, surrealistische Maler und Bildhauer Roberto Matta (1911-2002), dessen Werke 1959 in der ersten Ausstellung des neu gegründeten Moderna Museet in Stockholm gezeigt wurden. Im schwedischen Maler Olle Ängkvist (1922-2006) entdeckte Fahlström einen Gleichgesinnten: neugierig, furchtlos und offen für die weite Welt. Diese weite Welt verkörperten in den 1950er-Jahren in Rom die Amerikaner, vor allem Robert Rauschenberg (1925-2008), der sich im legendären Black Mountain College in den Bergen North Carolinas in seinen Mitstudenten Cy Twombly (1928-2011) verliebt hatte und ihn überredete, mit ihm nach Rom zu ziehen. Fahlström war 1954 von den Arbeiten seines Jahrgängers Twombly, die er in einer Tour durch die Galerien sah, zuerst wenig beeindruckt. Immerhin kehrte er zurück, traf den bisher erfolglosen Maler persönlich und schrieb im schwedischen Magazin «Konstrevy» die erste positive Besprechung.

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Zurück in Stockholm, sass der inzwischen mit der Kunsthistorikerin Birgitta Tamm verheiratete und als Publizist einschlägig bekannte Fahlström im avantgardistischen Kunstbetrieb an einem Dreh- und Angelpunkt. Er etablierte einen «Französischen Salon» und machte ihn zum Mittelpunkt von Stockholms Kulturleben. Im Umfeld des 1959 gegründeten und von Pontus Hultén dirigierten Moderna Museet, gehörte er zu den ersten enthusiastischen Animatoren spartenübergreifender Projekte. Im gleichen Jahr geriet er durch die Bekanntschaft mit der Malerin Barbro Östlihn (1930-1995) und ihrem Mann BjörnHallström (1931-2001) in schwere emotionale Turbulenzen, die nach einem Jahr «komplizierter und qualvoller Spannungen» (Katalogtext), nur unterbrochen durch einen längeren Aufenthalt in Paris, dadurch gelöst wurden, dass Barbro Öyvind heiratete und Björn Birgitta. Barbros Kinder blieben bei ihrem Vater. Wenig später, 1961, zogen Fahlström und Östlihn nach New York um.

Der grösste Raum der Ausstellung ist den rund 15 Jahren gewidmet, in denen die künstlerische Vorhut in New York den Ton angab – im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinn. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Elektroingenieur Billy Klüver (1927-2004), «der Edison-Tesla-Steinmetz-Marconi-Leonardo da Vinci der amerikanischen Avantgarde», wie ihn die Illustrierte LIFE einmal nannte. Klüver, in Monaco als Kind norwegisch-schwedischer Eltern geboren und in Schweden aufgewachsen, stellte seine technischen Kenntnisse in den Dienst vieler Künstler, unter anderem von Jean Tinguely, dem er 1960, zusammen mit Robert Rauschenberg half, im Garten des MoMA seine selbstzerstörerische Skulptur «Homage à New York» zu bauen. Unentbehrlich war Klüver auch 1966 bei der Organisation von «9 Evenings: Theatre and Engineering», einer Reihe von Performances, die Künstler und Ingenieure gemeinsam entwickelten. Beteiligt waren zehn Künstlerinnen und Künstler – John Cage
, Lucinda Childs, Öyvind Fahlström, Alex Hay, Deborah Hay, Steve Paxton, Yvonne Rainer, Robert Rauschenberg, David Tudor und Robert Whitman - und etwa 30 Ingenieurinnen und Ingenieure. Die «9 Evenings» waren auch die Geburtsstunde der Organisation E.A.T. (Experiments in Art andTechnology), die Künstlerinnen und Künstler mit dem neusten technischen Knowhow unterstützte.

Barbro Schultz Lundestam besuchte Billy Klüver und seine Frau Julie Martin 1993 und erhielt Zugang zum Archiv des E.A.T.-Projekts, das mit seinen 16mm-Filmen, Fotos und Dokumenten eine unschätzbar wertvolle Quelle der Avantgarde darstellte. Auf Initiative von Robert Rauschenberg gestaltete Barbro Schultz aus dem Material zehn Dokumentarfilme und publizierte 2004 das Buch «Teknologi för livet. Om E.A.T.»

Boston Wall
Mit Jean Tinguely und Niki de Saint-Phalle kam Öyvind Fahlström unter anderem bei der Theater-Performance «Construction of Boston» am 4. Mai 1961 im Maidman Playhouse in New York zusammen. Die nur einmal gezeigte Inszenierung mit vielen Improvisationen und Musik, das sich Kenneth Koch ausgedacht hatte, versammelte 14 «Schauspielerinnen und Schauspieler», darunter Öyvid Fahlström, Billy Klüver, Robert Rauschenberg, Frank Stella, Jean Tinguely und Niki de Saint-Phalle, und im völlig überfüllten Saal war das Publikum ausser Rand und Band. Der Anstoss für das Happening kam von Niki de Saint-Phalle, die Kenneth Koch zum Verfassen eines Skripts anstachelte, das sich allerdings unter dem Einfluss der beteiligten Künstlerinnen und Künstler dauernd veränderte. Schliesslich baute Jean Tinguely, als elegante Dame verkleidet, aus Leichtbeton-Elementen eine Mauer, die quer über die Bühne lief und dem Publikum nach und nach die Sicht auf das dramatische Geschehen versperrte. Wie ein Foto belegt, beteiligten sich Öyvind Fahlström und Joan Kron am Mauerbau, der nun im Museum zu besichtigen ist.

Buchtitel
Die Ausstellung «Party for Öyvind» und das Katalogbuch dazu zeugen von der Leidenschaft und der Kompetenz, mit der sich die Autorin und ihr Ehemann mit allen Aspekten der Umbruch-Epoche der 1960er- und 1970er-Jahre befassten und befassen). Die über 400 Objekte – Bilder, Filme, Skulpturen, Dokumente – von 40 Künstlerinnen und 40 Künstlern, die sie jetzt Kuratoren präsentieren, sind ein überwältigender Beleg für die Kraft, die damals eine international eng vernetzte, ihrer gesellschaftlichen Rolle bewusste Kunst-Bewegung entfaltete. Und es ist ein grosses Glück für alle Interessierten, dass die Fülle des Materials auch nach der Ausstellung zwischen Buchdeckeln greifbar bleibt. Der Katalog bietet eine mit zahlreichen Anekdoten und Erinnerungen gespickte spannende Lektüre und ist mit seinem zehnseitigen Namenregister ein unverzichtbares Nachschlagewerk. Die zum Teil typografisch abenteuerliche Gestaltung mindert nicht den inhaltlichen Wert der Publikation.

Barbro Schultz Lundestam: Party for Öyvind. Stockholm 2021 (Schultz Förlag AB), 438 Seiten, ca. 480SKr/CHF 50.00 (nur in englischer Sprache erhältlich).

Illustrationen von oben nach unten: Einladungskarte von Claes Oldenbourg zur Party für Öyvind Fahlström; Öyvind Fahlström, Section of World Map - A Puzzle, 1973, Private Collection; Öyvind Fahlström, The Cold War, 1963-1965, Centre Pompidou, Paris - Musée national d'art moderne / Centre de création industrielle. © ProLitteris, Zürich; Joan Kron, Öyvind Fahlström und Jean Tinguely bei «Construction of Boston», 1962, Privatsammlung; Katalogbuch «Party for Öyvind» (Umschlag).

Meret Oppenheim im Kunstmuseum Bern

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Im Kunstmuseum Bern sind vom 22. Oktober 2021 bis 13. Februar 2022 rund 200 Zeichnungen, Bilder, Skulpturen und Assemblagen aus dem beispielhaft vielgestaltigen Werk von Meret Oppenheim (1913-1985), der «bedeutendsten Schweizer Künstlerin des 20. Jahrhunderts» (Pressetext), zu sehen. Die von Nina Zimmer kuratierte Werkschau unter dem Titel «Mon Exposition» ist offensichtlich darauf angelegt, die Künstlerin in den USA erneut bekannt zu machen. Denn nach Bern, der einzigen Station in Europa, wird sie in der «Menil Collection» in Houston (Texas) und im «Museum of Modern Art» in New York gezeigt. Wer in den letzten Jahren und Jahrzehnten die grossen Oppenheim-Retrospektiven gesehen oder das wunderbare Erinnerungsbuch «Worte nicht in giftige Buchstaben einwickeln» gelesen hat, in dem viele ihrer Briefe und ihr autobiografisches Album «Von der Kindheit bis 1943» greifbar sind, wird kaum Neues entdecken. Für alle aber, die Meret Oppenheims Wirken bisher wenig oder gar nicht kannten, bietet die opulente Berner Schau einen erstklassigen Einblick in ein von Phantasie und Traumgebilden geprägtes künstlerisches Universum.

Meret Oppenheim wurde in Berlin-Charlottenburg als Tochter des deutschen Arztes Erich Oppenheim und seiner Schweizer Frau Eva Wenger geboren. Während des Ersten Weltkriegs lebte sie mit Ihrer Mutter, der Tochter der Malerin und Kinderbuchautorin («Joggeli söll ga Birli schüttle») Lisa Wenger (1858-1941), in Delémont. Nach dem Krieg zog die Familie nach Steinen bei Lörrach, wo Meret die Primarschule besuchte. Die Oberrealschule in Schopfheim, eine Privatschule in Zell im Wiesental, die Rudolf-Steiner-Schule in Basel, ein Mädcheninternat im Schwarzwald und die Oberschule in Lörrach waren weitere Stationen einer bewegten Schulkarriere. 1931 machte sie Schluss damit. Sie wusste, dass sie Malerin werden wollte und wandte sich in Basel dem Kreis junger Künstler um Walter Kurt Wiemken (1907-1940), Walter Bodmer (1903-1973) und Otto Abt (1903-1982) zu, die sich später zur antifaschistischen «Gruppe 33» zusammentaten. Dort befreundete sie sich mit der vier Jahre älteren, bereits Paris-erfahrenen
M.O. mit Irène Zurkinden
Malerin Irène Zurkinden (1909-1987), mit der sie 1932 an die Seine zog. Ihren 19 Jahren zum Trotz machte sie dort im Kreis der jungen Künstler gewaltig Eindruck. Sie schloss Freundschaft mit Alberto Giacometti (1901-1966) und Hans Arp (1886-1966), die von ihrer ungezügelten Kreativität fasziniert waren und sie einluden, ihre Arbeiten im «Salon des Surindépendants» auszustellen. Mit Max Ernst (1891-1976) begann sie im Herbst 1933 eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, die sie aber nach weniger als einem Jahr in einem Pariser Café abrupt beendete. Bei dem Treffen im Spätsommer oder Herbst 1934, korrigierte Oppenheim, eine Behauptung des Ernst-Biografen Patrick Waldberg, «sagte ich aus ‹heiterem Himmel› auch aus dem heiteren Himmel meiner Liebe zu ihm: ‹Ich will Dich nicht mehr sehen.› Max Ernst war völlig konsterniert und schwer verletzt.» Erst viel später verstand Meret Oppenheim selbst ihre plötzliche Abkehr vom Geliebten. Es sei ihr «unbewusstes Wissen» gewesen, das sie von Max Ernst, «den ich heiss liebte», weggerissen habe. «Ein weiteres und immer engeres Zusammenleben mit Ernst, einem fertiggebildeten Künstler, hätte mich verhindert, mein eigenes Leben zu leben, es hätte mich gehindert, meine eigene Persönlichkeit zu bilden. Es wäre das Ende dessen gewesen, was ich als mein in der Zukunft zu realisierendes Werk voraussah.» (Zitat aus http://www.silvia-buol.ch/meret-oppenheim/media/pdf/130430_Meret_Oppenheim_und_Max_Ernst.pdf) Max Ernst und Meret Oppenheim blieben freundschaftlich verbunden. 1936, als sie in der Basler Galerie Schulthess ihre erste Einzelausstellung ausrichten konnte, schrieb er den Einladungstext. In die Zeit mit Max Ernst und der intensiven Begegnungen mit den Surrealisten gehört auch die ikonische Aktbilder-Serie, die der Fotograf und Maler Man Ray von Meret Oppenheim machte. Sie prägten das Klischee des freizügigen Surrealisten-Groupies, gegen das sich die Künstlerin zeitlebens wehrte. Tatsächlich führte sie in der Zeit ein «ziemlich ‹wüstes› Leben», wie sie in Erinnerung an einen Traum aus dem Januar 1936 schrieb. Sie befand sich darin in einem «Menschenschlachthaus: Den Wänden entlang bis zur Decke Gestelle auf denen die Körper liegen, einer auf dem anderen. An einem Gestell steht eine Leiter. Ich bin nackt. Ich steige hinauf und lege mich auf den obersten Körper (einen männlichen Körper), und ‹mache die Liebe› mit ihm. Plötzlich richtet er sich auf, stösst ein furchtbares ‹Huuuh› aus und ich spüre, dass er mir mit einer Säge über den Rücken fährt». Den Traum, heisst es in ihren Aufzeichnungen, habe sie sich dahin ausgelegt, «dass es jetzt genug sei».

Meret mit Pelztasse
1936, das war auch das Jahr ihrer ersten künstlerischen Erfolge, das Jahr, in dem sie ihre «Pelztasse» erfand. Der Überlieferung nach sass sie mit Pablo Picasso und seiner neuen Freundin Dora Maar im Café Flore. Meret trug ein metallenes, innen mit Ozelot-Fell bezogenes Armband, das sie für die Modeschöpferin Elsa Schiaparelli (1890-1973) entworfen hatte. Picasso fand, man könne eigentlich alles mit Pelz überziehen, worauf Meret die spassige Bemerkung auf die vor ihr stehende Kaffeetasse ausweitete. Kurz darauf habe sie André Breton, der Häuptling der Surrealisten, eingeladen, an seiner, «Exposition surréaliste d’objets» mitzumachen. Darauf habe sie im Billigwarenhaus Monoprix eine Porzellantasse mit Unterteller und einen Löffel gekauft und alles mit Gazellenfell überzogen. Für die Aussenseite und den Löffel verwendete sie das helle Bauchfell, für das Innere der Tasse, den Löffelstiel und die Untertasse das dunklere, langhaarige Oberfell. Sichtbar blieb das Porzellan nur am Henkel. Ihr Werk nannte die Künstlerin schlich «Objet». Das war Breton zu wenig spektakulär. Er erfand, in Anlehnung an Édouard Manets Bildtitel «Le Déjeuner sur l’herbe» und an die Novelle Leopold von Sacher-Masochs «Venus im Pelz», den Namen «Le Déjeuner en fourrure». Die Debütantin hatte nichts dagegen; die erotischen Interpretationen, die der Titel provozierte, waren von ihr nicht beabsichtigt. Im Gegensatz zur etablierten Kunstszene, welche die Pelztasse bis heute als Schlüsselwerk des Surrealismus feiert, mass ihr die Urheberin nie eine überragende Bedeutung zu. Alfred H. Barr Jr., der Direktor des Museum of Modern Art in New York, war der Erste, der das ikonografische Potenzial der Tasse erkannte. Am 8. August 1936 bat er die junge Künstlerin in höflichstem Französisch, das pelzgepolsterte Geschirr in einer im November in New York startenden Wanderausstellung «Fantastic Art, Dada, Surrealism» zeigen zu dürfen. Die Schau werde auch in «Philadelphia, San Francisco, Boston etc.» Halt machen. Neben der Tasse interessierte ihn auch «Ma nourrice« («Mein Kindermädchen») und das Objekt «Tête de Noyé (3me. état)», ein Stück bemaltes Holz mit einigen Zuckermandeln. Meret Oppenheim liess sich nicht zweimal bitten, zumal Barr vom sorgfältigen Verpacken bis zum Transport mit Versicherung alles organisierte. Ende Jahr schickte Barr einen zweiten Brief nach Paris. Er bot an, die Pelztasse für 1000 Francs zu kaufen und legte gleich einen Scheck über 50 Dollar bei. Meret notierte, dass der Betrag etwa 250 Franken entsprach. Seither ist das «Déjeuner en fourrure» eine Preziose in der Sammlung des MoMA. (Die beiden anderen Ausstellungsstücke gingen an die Künstlerin zurück. Den «Kopf des Ertrunkenen», notierte sie auf Barrs erstem Brief, sei im «Besitz Yves Tanguy» (und ging irgendwann verloren), und auch die «Nourrice» existiere nicht mehr» sei aber «refait pour Stockholm, où il (sic!) se trouve maintenant» (Gemeint ist die erste grosse Retrospektive, die ihr Pontus Hultén 1967 im Moderna Museet ausrichtete.)

Zurück zur Berner Ausstellung: Ihr Titel erinnert an eines der letzten Projekte von Meret Oppenheim, die das Konzept einer ihr gewidmeten Retrospektive selbst entwickelte und 1984 in der Berner Kunsthalle auch ausführte. Beginnend 1929 und endend 1985 folgt die aktuelle Rückschau der vorgegebenen chronologischen Ordnung auf zwei Stockwerken des Museums. In ihren Werken begegnen wir einer selbstbewussten, unabhängigen Künstlerin, die sich mehr von ihren Träumen und ihrer kreativen Intuition inspirieren liess als von einem künstlerischen Programm. Die frühe Prägung durch den Surrealismus ist der rote Faden in diesem Werk, auch wenn die Künstlerin das als oberflächliche Zuschreibung empfand. So sprunghaft sie scheinbar ihren Einfällen folgte, so beständig setzte sie sich mit einigen Konstanten auseinander. Da die Schau keine Schwerpunkte setzt, müssen sie Besucherinnen und Besucher selbst entdecken. Immer wieder setzte sich Meret Oppenheim zum Beispiel mit der Sage von Genoveva auseinander. In der Ausstellung haben wir das Sujet in vier Variationen gezählt: 1939, 1942, 1956 und 1971. Die historisch nicht belegte Geschichte (nicht zu verwechseln mit der Legende von der Heiligen Genoveva von Paris) kreist um die Leiden einer Tochter eines Herzogs von Brabant und Gemahlin eines Pfalzgrafen Siegfried und spielt der Überlieferung nach um 720. Im Zentrum steht die Treue der Genoveva zu ihrem im Kriegsdienst für seinen König abwesenden Ehemann. Aus Frust über ihre Zurückweisung bezichtigte sie der Statthalter Siegfrieds des Ehebruchs mit einem Koch. Der Todesstrafe entging sie nur dank der Barmherzigkeit des Henkers. Sie musste sich in der Folge im Wald verstecken, wo sie mit ihrem kleinen Kind sechs Jahre lang in einer Höhle lebte, versorgt durch eine von der Gottesmutter gesandte Hirschkuh. Die Geschichte, mutmasslich im 14. Jahrhundert zum ersten Mal niedergeschrieben und später in mehreren Versionen erweitert und ausgeschmückt, endet mit Genovevas Befreiung durch Siegfried und die Hinrichtung des intriganten Statthalters.

Genoveva
Was Meret Oppenheim an der Genoveva-Legende besonders faszinierte, war ihre erzwungene Untätigkeit, die Unfähigkeit ihr Schicksal selbst zu gestalten – eine Zwangslage, welche die Künstlerin aus eigener Erfahrung kannte. Denn 1936 war nicht nur das Jahr ihrer ersten Erfolge, sondern auch das Jahr, in dem sie künstlerisch in eine Sackgasse geriet. Finanzielle Probleme kamen hinzu, nachdem ihr jüdischer Vater seine Praxis in Steinen aufgeben und die Familie nach Basel und Carona im Tessin umziehen musste. Auch Meret kehrte 1937 nach Basel zurück. Dort besuchte sie an der Allgemeinen Gewerbeschule die Malklasse und Restaurierungskurse, entwarf Theaterkostüme und Möbel und setzte sich mit den Schriften des Psychoanalytikers C.G. Jung auseinander. Obwohl sie Mitglied der «Gruppe 33» war, fehlte ihr das anregende Pariser Künstler-Milieu. Sie erlebte die 1940er-Jahre als Schaffenskrise. 1949 heiratete sie den aus einer wohlhabenden Basler Familie stammenden Kaufmann Wolfgang La Roche. Die Bekanntschaft kam per Zufall zustande, nachdem Meret im Anzeigenblatt «Baselstab» in einer Chiffre-Anzeige einen Motorradfahrer gesucht hatte, der sie als Mitfahrerin auf seine Ausflüge mitnehmen würde. Schon bald wurde aus Freundschaft eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, wie der verspielt-verliebte Briefwechsel der beiden belegt. Im Jahr 1949 heirateten die beiden, und die seit 1942 staatenlose Meret Oppenheim wurde Schweizerin. Die Verbindung mit Wolfgang La Roche, der im Dezember 1967 58-jährig starb, war geprägt von Respekt und gegenseitiger Toleranz, die auch heftige Turbulenzen überdauerte. Spätestens Ende 1954, als sie sich an der Kesslergasse in Bern ein erstes Atelier einrichtete, war ihre selbst deklarierte Schaffenskrise überwunden.
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Meret Oppenheim wurde Teil der überaus lebendigen Berner Kunstszene jener Jahre, die, nicht zuletzt dank der avantgardistischen Ausstellungen in der Kunsthalle, weit über die Schweiz hinaus Aufsehen erregte. Ab 1972 arbeitete die Künstlerin nicht nur in der Bundesstadt und in Carona, sondern auch wieder in einem eigenen Atelier in Paris. Es folgen viele Ausstellungserfolge und öffentliche Ehrungen. 1975 erhielt sie den Basler Kunstpreis und 1982 den Grossen Kunstpreis Berlin. Dass sie sich auch als arrivierte und international anerkannte Künstlerin weiterhin zur Avantgarde zählen durfte, machten 1983 die heftigen Kontroversen um ihren Brunnen auf dem Berner Waisenhausplatz deutlich, der wahlweise als «Pfahl der Schande» oder «Pissoir» geschmäht wurde.

1984, 14 Monate bevor sie im Basler Kantonsspital an einem Herzinfarkt starb, eröffnete sie in der Berner Kunsthalle unter dem Titel «Mon exposition» ihre selbst konzipierte Retrospektive, der, wie oben erwähnt, die aktuelle Berner Ausstellung nachgebaut ist. Um sich in der Überfülle der Werke zu orientieren, sind die Erläuterungen in der Broschüre mit den Saaltexten zu den einzelnen Räumen eine sehr gute Hilfe.

Verwendete Zitatquellen: Wenger, L. und Corgnati, M. (Hrsg.): Meret Oppenheim – Worte nicht in giftigen Buchstaben einwickeln. Das autobiografische Album «Von der Kindheit bis 1943» und unveröffentlichte Briefwechsel. Zürich 2013 (Verlag Scheidegger & Spiess).
Meyer-Toss, Christiane. (Hrsg.): Meret Oppenheim – Träume und Aufzeichnungen. Berlin 2010 (Suhrkamp Verlag).

Illustrationen: Plakat «Mon Exposition» im Kunstmuseum Bern 2021/22; Meret Oppenheim und Irène Zurkinden; Meret Oppenheim an der Vernissage ihrer Ausstellung in Duisburg 1972 (akg-images / Brigitte Hellgoth / © 2021, ProLitteris, Zürich); «Genoveva» (1971 nach einem Entwurf von 1942); Brunnen auf dem Waisenhausplatz in Bern (1983).

Merci Seppi: Die grosse Schenkung im Museum Tinguely

Seppi Imhof, Plakate
Josef («Seppi») Imhof, Jean Tinguelys kongenialer Handwerker-Assistent während 20 Jahren, hat ein grosses Geschenk gemacht. Rund 450 Dokumente – Briefe, Postkarten, Baupläne, Skizzen, Plakate und Drucke – aus den Jahren 1971 bis 1991 aus seiner mit grosser Sorgfalt gepflegten Sammlung gehen in den Besitz des Museums Tinguly über. Sie ergänzen dessen Archiv in «substanzieller Weise» auf nunmehr über 2000 Nummern, freute sich Museumsdirektor Roland Wetzel bei der Präsentation der von Andres Pardey arrangierten Ausstellung, welche die «grosse Schenkung» unter dem Titel «Merci Seppi» vom 17. November 2021 bis zum 13. März der Öffentlichkeit zugänglich macht. Da Jean Tinguely praktisch keine Aufzeichnungen über seine Arbeiten machte, aber unermüdlich zeichnete, skizzierte und per Brief oder Postkarten mit Freunden,Bekannten und Mitarbeitenden kommunizierte, sind Imhofs Dokumente für die gesamte Tinguely-Forschung von unschätzbarem Wert. Wer sich die Zeit nimmt, die in Vitrinen und Rahmen dicht an dicht inszenierten Exponate en détail zu betrachten, darf sich auf zahlreiche Déjà-vus freuen und auch viel Neues entdecken. Von den zahlreichen grossen Projekten der 1970er- und 1980er-Jahre, an denen Seppi Imhof mitarbeitete, sind die wichtigsten – «Le Cyclop» im Forêt de Milly in Fotainebleau, die Gemeinschaftsarbeit «Crocodrome de Zig et Puce», Nike de Saint-Phalles «Giardino dei Tarocchi» in der Toscana, «Chaos No. 1» in Columbus, Indiana, oder
Konstruktion Klamauk klein
die fahrbare «Klamauk»-Skulptur – in der Ausstellung prominent präsent. Die meisten Dokumente sind ohne weiteres Erläuterungen verständlich, wobei es sicher von Vorteil ist, wenn man Tinguelys Werk und seine Höhepunkte ein wenig kennt. In der Schweiz wurde Jean Tinguely (1925-1991) erst 1964 einem breiten Publikum bekannt, als an der Landesausstellung in Lausanne seine riesige Leerlauf-Maschine «Heureka» landesweit für Aufsehen sorgte. Das heisst: Als Tinguely 1970 ein Inserat aufgab, mit dem er einen Assistenten suchte, war er bereits ein arrivierter Künstler. Nach einem Treffen im Bahnhofbuffet Fribourg wurden sich der Künstler und der Bewerber, ein 27-jähriger gelernter Schlosser aus Solothurn, einig. Doch wenig später, am 27. Juli 1970, disponierte Tinguely um. «Lieber Herr Imhof», ist in dem Schreiben nachzulesen, «Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass das ganze Projekt auf nächstes Jahr verschoben ist (aufgehoben ist es nicht.) & ich bitte Sie nun mir auf nächstes Jahr ihre Bereitschaft mitzumachen aufzubewahren.» Imhof hatte Geduld und erhielt am 20. März 1971 einen Anstellungsbrief, in dem ihm bestätigt wurde, dass er «ab Erste Mai 1971 (von mir bezahlt) bei mir arbeiten werden. Lohn 1200.- S.Fr. Logie & Speise & Reise Spesen zu meinen Lasten. Kündigungsfrist 2 Wochen.» Wie wir wissen, wurden zwanzig Jahre daraus. In den ersten Jahren stand die vom Frühsommer bis in den Herbst die Arbeit am monumentalen Gemeinschaftswerk «Cyclop» im Vordergrund. Was dazu führte, dass Tinguely während der kühleren Jahreszeiten, zusammen mit seinem Assistenten, die Welt mit einem veritablen Ausstellungs-Wanderzirkus bereiste. Da die fragilen Maschinen bei Dauerbetrieb regelmässig instand gestellt werden mussten, blieben die beiden Männer jeweils während der ganzen Dauer der Ausstellungen vor Ort. Während der langen Zeit, beteuert Seppi Imhof, habe es nie Krach gegeben. Die beiden ungleichen Persönlichkeiten – der von immer neuen Ideen getriebene hektisch aktive Künstler Tinguely und der bedächtige Handwerker Imhof – wurden Freunde, ohne dass sie ihre Rollen je in Frage stellten. Tinguely war der Chef, der sich jederzeit darauf verlassen konnte, dass sein Assistent die Vorgaben exakt umsetzte. Wenn er sich einen Lichterbogen mit 15 Glühbirnen vorstellte, mussten dort auch 15 Birnen leuchten und nicht 14, wie sich Seppi Imhof bei der Präsentation seiner Sammlung vor einer Konstruktionsskizze erinnerte.
Dein Jeannot klein 1990
Er kramt gern in seinen Erinnerungen und erzählt lebendig von seinen Erlebnissen. Auch wenn er sich gegen die aufdringliche Fotografiererei mit einem mürrischen Gesichtsausdruck zu wehren versucht, glaubt man ihm, dass die lange und oft anstrengende Zusammenarbeit mit Jean Tinguely immer auch Spass gemacht hat. Und es ist sicher auch eine Genugtuung für ihn, dass seine Beiträge an den Erfolg des Künstlerfreundes auch nach dessen Tod angemessen gewürdigt wurden. Das Museum Tinguely, wo er bis zu seiner Pensionierung 2008 als Restaurator tätig war, ehrte ihn erstmals 1999 mit der Ausstellung «Sali Sepi - di Jeannot: Briefzeichnungen von Jean Tinguely an Joseph Imhof». Zu seiner Pensionierung 2008 erhielt er unter dem Titel «Tschau Sepp» carte blanche und zeigte eine Fülle von Memorabilien aus der Zeit mit Jean Tinguely. Und jetzt, zum dritten Auftritt «Merci Seppi», ist die Dankbarkeit das Thema. Vielleicht findet das Museum einen Weg, den riesigen Fundus an ungegenständlichen Erinnerungen, die Sepp Imhof in seinem Gedächtnis bewahrt hat, festzuhalten. Sie sind von ebenso unschätzbarem Wert wie die Dokumente – zumal fast alle von Tinguelys Künstlerfreundinnen und -freunden, welche die Kunstwelt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten, nicht mehr am Leben sind. Fazit: Nicht nur für das Museumsarchiv, sondern auch für alle, die Jean Tinguelys Werk kennen und schätzen und für alle übrigen, die es erst richtig kennenlernen möchten, ist die wunderbare Ausstellung von Sepp Imhofs Erinnerungsstücken ein grosses Geschenk.

Illustrationen: Donator Seppi Imhof präsentiert seine Ausstellung (© Jürg Bürgi, Basel, 2021); Jean Tinguely. Klamauk – Erinnerungen 1979 (Museum Tinguely, Basel. Schenkung Josef Imhof; ©2021 Pro Litteris, Zürich; Museum Tinguely Basel. Jean Tinguely: Charlotte OK, 1990. (museum Tinguely, Basel, Schenkung Josef Imhof.©2021 Pro Litteris, Zürich; Museum Tinguely Basel.

Zum 100. Geburstag von Celestino Piatti

Piatti und dtv
Am 5. Januar 2022 wäre der Grafiker und Illustrator Celestino Piatti (1922-2007) 100 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass publizieren der Christoph Merian Verlag in Basel und die dtv Verlagsgesellschaft in München unter dem Titel «Alles, was ich male, hat Augen» gemeinsam ein mit grosser Sorgfalt gestaltetes, grossformatiges Erinnerungsbuch. Die in enger Zusammenarbeit mit dem Verein «Celestino Piatti – das visuelle Erbe» entstandene Publikation zeigt das Werk Piattis in seiner ganzen Fülle: Plakate, Briefmarken, Illustrationen und die legendären Umschläge der dtv-Taschenbücher belegen die Vielseitigkeit des in Wangen (ZH) als Sohn eines Tessiner Steinhauers und einer Zürcher Bauerntochter geborenen und in Dietlikon aufgewachsenen Künstlers. In Zürich ausgebildet lebte und arbeitete Piatti seit 1948 in Riehen und Basel als selbständiger Grafiker. 1974 zog er nach Duggingen im Laufental, wo er sich ein zweites Atelier einrichtete.

Piatti-Buch Titel
Das von der Literaturwissenschafterin und Publizistin Barbara Piatti, der Tochter des Künstlers, und vom Historiker Claudio Miozzari herausgegebene Erinnerungsbuch beleuchtet Piattis Werk in vier Kapiteln. Das erste stellt den Plakatkünstler vor, der sich schon kurz nach Beginn seiner Karriere als Werbegrafiker mit eingängigen Sujets einen Namen machte, unter anderem mit den in den Liga-Läden der Basler Konsumgesellschaft BKG abgegebenen Rabattmarken. Die Erfindung des Hamsters, der ab 1961 bis in die 1970er Jahre in vielen Variationen für fleissiges Märklisammeln warb, machte seine Kunst populär. Hier sind schon zwei Elemente der Piatti-Kunst präsent: ein Tier als Sympathieträger und die stilisierte Zeichnung mit einer kräftig-schwarzen Kontur. Insgesamt schuf Celestino Piatti rund 500 Plakate für Konsumgüter, aber auch für Bücher, Zeitungen und für politische Anlegen die er unterstützte.
Hamster


Der zweite Teil des Buches ist ganz der dreissigjährigen Zusammenarbeit mit dem Deutschen Taschenbuchverlag gewidmet, für den Piatti im Laufe der Zeit nicht nur rund 6300 Buchumschläge entwarf, sondern für das von elf renommierten Buchverlagen zur Zweitverwertung ihrer Produktion gegründete Gemeinschaftsunternehmen die Corporate Identity entwickelte – Briefpapier, Prospekte, Plakate. Mit dem Verleger Heinz Friedrich verband ihn nicht nur eine solide, professionelle Geschäftsbeziehung, sondern auch eine herzliche Freundschaft. Piatti, erinnerte sich Heinz Friedrich, «verfügte über eine schier unbegrenzte Bildfantasie» und «über einen Sinn für das praktisch Machbare … wie ich das bisher in solcher Übereinstimmung bei einem Grafiker noch nie erlebt hatte: der Künstler als Handwerker, und der Handwerker als Künstler». Auf das Handwerk des Grafikers legen die Herausgeberin und der Herausgeber des Buches besonderes Gewicht. An zahlreichen Beispielen zeigen sie, wie sich Celestino Piatti zeitlebens in der analogen Welt einrichtete. Seine Werkzeuge waren Pinsel, Federn und Farbstifte, Wasserfarben und Tusche, Schere und Federmesser, Transparentpapier und Leim. Texte musste er setzen und drucken lassen, um sie anschliessend mit seinem Bildentwurf zu verbinden. Das war jeweils – gerade bei den Buchumschlägen – ein aufwändiges Hin und Her zwischen Basel und München.

Uilengeluk
Im dritten Teil fokussiert die Publikation zum Jubiläum auf die sieben Kinderbücher, die Celestino Piatti zwischen 1963 und 1976 für den Zürcher Artemis-Verlag gestaltete. Als er sein erstes Kinderbuch «das Eulenglück» entwarf, hatte er mit kindgerechten Illustrationen bereits Erfahrung. Schon 1954 hatte er zusammen mit Marianne Piatti-Stricker, seiner ersten Frau, eine Rechenfibel mit dem baseldeutschen Titel «Ains, zwai, drei, du bisch frei» für die erste Klasse geschaffen. Die Illustrationen stammten von Marianne Piatti. Einige Jahre später erhielten die Piattis vom Lehrmittelverlag des Kantons Basel-Stadt den Auftrag zur Gestaltung der Lesefibel «Anneli und Hansli». Die aus pädagogischen Gründen als Loseblatt-Sammlung konzipierte Fibel wurde von 1959 bis in die 1980er-Jahre verwendet. Sie wurde in verschiedenen Kantonen der Schweiz eingesetzt, entsprechend hoch waren die Auflagen. Der Leiter des Zürcher Artemis-Verlags, Bruno Mariacher (1922-2011), gilt als Entdecker Piattis als Buchgestalter. Er vermittelte ihm 1960 den Kontakt zum neu gegründeten dtv-Verlag und gab ihm wenig später den Auftrag zur Illustration des Kinderbuches «Eulenglück». Das Werk des holländischen Jugendstil-Künstlers Theo van Hoytema (1863-1917) erschien zum ersten Mal 1895 unter dem Titel «Uilengeluk» in Amsterdam. Den Text schrieb Hoytemas Frau Tine (was – mindestens auf dem Umschlag der Originalausgabe – nicht vermerkt wurde, und scheint’s auch hierzulande nicht bekannt ist). Wie schon die holländische Urfassung war auch die Artemis-Version ein Bestseller. Auch die weiteren Kinderbücher waren erfolgreich. Besonders gilt dies für das «ABC der Tiere», das mit witzigen Versen von Hans Schumacher als eine Art Fortsetzung der Lesefibel angelegt war. Für drei der sieben Titel steuerte Piattis zweite Frau, die Journalistin Ursula Piatti-Huber (*1942), den Text bei. Für ihre Geschichten liess sie sich von eigenen Erfahrungen und Erlebnissen inspirieren. Der Zürcher NordSüd-Verlag, der das Kinderbuchprogramm von Artemis übernommen hat, legt zum Jubiläum alle Werke in dem Sammelband «Piatti für Kinder» neu auf.

Schiff mit Augen
Der vierte Teil der Retrospektive ist Piatti als frei schaffendem Künstler gewidmet. Er versammelt frühe Arbeiten und Entwürfe, die zum Teil bisher unbekannt geblieben sind. Und er befasst sich mit Piattis Faszination für die Eule, die in der Antike als Symbol der Weisheit verehrt und im späten Mittelalter als Dienerin von Hexen und Teufeln gefürchtet wurde. Celestino Piatti hielt sich an die antike Tradition und machte das Tier zu seinem freundlichen Lieblingsvogel. Neben den Eulen und anderen Tieren inspirierten ihn Häfen und Schiffe.Auf seinen Reisen in die Mittelmeerländer und nach Irland fotografierte, skizzierte und malte er Fischerboote – und machte auch einige mit Augen zu natürlichen Wesen. Auch als Künstler, der ohne Auftrag arbeitete, blieb Piatti ein Handwerker. Er liebte den Holz- und den Linolschnitt, und besonders faszinierte ihn die Lithografie. Mit Thomi Wolfensberger (*1964), dem Leiter der traditionsreichen Steindruckerei Wolfensberger in Zürich, pflegte er eine enge professionelle und freundschaftliche Beziehung. Schon seit 1902 galt der Betrieb als erste Schweizer Adresse für den Druck von Künstlerplakaten und stellte Lithografien für zahlreiche Künstler her – darunter am Anfang zum Beispiel Ferdinand Hodler und Cuno Amiet, später Hans Erni, Alois Carigiet oder Jean Tinguely. Zu den Bildern gesellten sich gelegentlich auch Skulpturen aus Holz und Metall. Bis ins hohe Alter stellte Piatti seine Werke aus. Von 1964 sind rund 50 Einzelausstellungen dokumentiert, darunter kuratierte Werkschauen, aber auch Verkaufsausstellungen, die er selbst organisierte.

Zum reichhaltigen, hoch professionell inszenierten Material im wunderbaren Jubiläumsbuch gehören auch persönliche, mit Bildern aus dem privaten Fotoalbum illustrierte Erinnerungen der Familie Piatti. Aufschlussreich sind auch die Auszüge aus dem intensiven Briefverkehr zwischen dem dtv-Verleger Heinz Friedrich und seinem Art Director Piatti sowie Äusserungen von rund 40 Freunden, Bekannten und anderen Zeitzeugen.

Wir werden auf das Buch, gelegentlich in einem ausführlichen Bericht zurückkommen und dabei besonders auf die Arbeit Piattis für den Deutschen Taschenbuchverlag eingehen, welche die Buchgestaltung und -Präsentation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat.

Miozzari, C. und Piatti, U. (Hrsg.): Celestino Piatti. Alles, was ich male, hat Augen/Everything I Paint Has Eyes, Basel und München 2021 (Christoph Merian Verlag/dtv) 410 Seiten, CHF 59.00/€ 59.00

Autorinnen und Autoren: Claudio Miozzari, Barbara Piatti, Sven Behrisch, Herwig Bitsche, Thomas Broch, Raffael Dörig, Gabriele Ewenz, Fabian Harb, Barbara Junod, Christine Lötscher, Lucas Manser, Philipp Messner, Jens Müller, Jochen Overbeck, Andreas Platthaus, Bettina Richter, Heinz Stahlhut, Maren Stotz, Thomas Streifeneder, Bruno Weber, isabel Zürcher.

Zeitgleich mit dem Erinnerungsbuch publiziert der NordSüd Verlag, Zürich, Piattis sieben Kinderbücher in einem Sammelband unter dem Titel
«Piatti für Kinder» Zürich 2021 (NordSüd Verlag), 220 Seiten, CHF 37.90/€ 30.00
Die Sonderausgabe mit einem Kunstdruck von einer Linolplatte aus dem Nachlass in einer Auflage von 200 Exemplaren kostet CHF 120.00/€100.00.

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Den Anfang der Jubiläums-Veranstaltungen macht die Buchvernissage und eine Verkaufsausstellung am 5., 6. und 7. November 2021 in der Druckereihalle im Ackermannshof, St. Johanns-Vorstadt 19/21 in Basel. Am 19. November feiert Luzern die «Rückkehr einer grafischen Ikone» mit einer Lichtinstallation des Heliomalt-Elefanten und anderen Tieren am Kreisel Kreuzstutz. Am Sonntag, 21. November um 11 Uhr, findet im Hans Erni Museum im Verkehrshaus Luzern eine Matinee zum Thema «Politische Bilder. Die engagierte Plakatkunst von Hans Erni und Celestino Piatti» statt.

In Grellingen BL ist vom 26. bis 28. November, jeweils von 10 bis 20 Uhr das Piatti-Archiv öffentlich zugänglich. Auch am 5. Januar 2022, dem 100. Geburtstag Celestino Piattis, von 16-22 Uhr und am 8. und 9. Januar 2022 von 10 bis 20 Uhr ist das Archiv offen. Eine Anmeldung auf der Website
www.celestino-piatti.ch/archiv-tage ist erforderlich. Ein Covid-19- Zertifikat ist Pflicht.

In Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus feiert München vom 13.-16. Januar 2022 Piatti-Tage. Und in Zürich plant der NordSüd Verlag vom 4. bis 6. März 2022 einen Jubiläums-Anlass.

Weitere Informationen
www.celestino-piatti.ch/piatti-tage

Illustrationen: Celestino Piatti mit Taschenbuch-Drehständer in seinem Basler Atelier (Scan aus dem besprochenen Buch, S. 219); Piattis Vorlage für das Cover der Zeitschrift «Graphis» 115, 1964. Archiv Piatti; Druckvorlage des Hamster-Plakats für die BKG/Liga ca. 1973 (Scan aus dem bespr. Buch, S. 79); Piattis Eulenglück, niederländische Ausgabe; «Südliche Fischerboote», Lithografie, 73x55cm; Blick ins Piatti-Archiv in Grellingen (Foto © Basil Huwyler, 2021).

«Écrits d’Art Brut – Wilde Worte und Denkweisen» im Museum Tinguely

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Vom 20. Oktober 2021 bis 23. Januar 2022 zeigt das Museum Tinguely in Basel, kuratiert von Lucienne Peiry, unter dem Titel «Écrits d’Art Brut – Wilde Worte und Denkweisen» Werke von 13 Künstlerinnen und Künstlern aus Europa und Übersee, die ihre Kreativität frei vom Wunsch nach Öffentlichkeit und ausserhalb von Normen und Konventionen entfalteten. Die Exponate – Zeichnungen, Malereien auf Mauern und auf grobem Gewebe, kostümartige Kleidungsstücke –
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verbindet der Drang zum Schreiben und zur Beschriftung. Neben dem in der Schweiz besonders berühmten Adolf Wölfli (1864-1930), der den grössten Teil seines Lebens in der Berner Psychiatrischen Klinik Waldau verbrachte und seine Visionen nicht nur in Schrift und Bild, sondern auch in Kompositionen festhielt, konzentrierten sich der Brasilianer Arthur Bispo de Rosario, dessen Werke erstmals in der Schweiz zu sehen sind, und auch Giovanni Battista Podestà auf Bild und Schrift. Gemeinsam war den drei die Faszination für sprachliche Neuschöpfungen und die Anordnung von Wörtern und Sätzen in labyrinthischen Figurationen. Jean Tinguely fühlte sich besonders dem Werk von Giovanni Battista Podestà angezogen.
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Es ist deshalb keine Überraschung, wenn man sich beim Betrachten des verkleideten Podestà an eines von Tinguelys Kuttlebutzer-Kostüme erinnert. Der Schweizer Pascal Vonlanthen ist der einzige noch lebende Künstler, von dem Werke in der Ausstellung zu sehen sind. Vonlanthen, 1957 in Fribourg geboren, macht sich aus Schriftlichem, das ihm, dem Analphabeten, als Schrift-Bild entgegen tritt, ein eigenes Bild.
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Als Vorlagen wählt er oft Zeitungen und andere frei zugängliche Druckerzeugnisse und gibt ihnen beim Abschreiben mit Filzstift, Bleistift oder Farbstift eine eigene, neue Form. Ein Film, der bei den Vorbereitungen zur Ausstellung entstand, gibt Einblick in Vonlanthens Schaffen. Auch von ihm präsentiert die Kuratorin einige Zeichnungen erstmals in der Schweiz. Speziell für die aktuelle Ausstellung rekonstruierte die Künstlerin Mali Genest aufgrund von zwei Fotografien aus dem Jahr 1894 ein seither zerstörtes Werk von Marie Lieb (1844-1917). Weitere Exponate stammen von Fernando Nannetti, Giovanni Bosco, Laure Pigeon, Armand Schulthess,
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Constance Schwartzlin-Berberat, Charles Steffen und Carlo Zinelli. Überdies dokumentieren kurze Filme die Lebensumstände, in denen die verstorbenen Künstlerinnen und Künstler ihre Werke schufen: Die psychiatrischen Kliniken und ihr Personal, in denen die meisten ihr Leben fristeten, waren nur in Ausnahmefällen in der Lage, das kreative Potenzial ihrer Patientinnen und Patienten zu ermessen und sie über das Allernotwendigste hinaus zu unterstützen. In der Kunstwelt war es Jean Dubuffet, der 1945 anlässlich der Begegnung mit Werken von Wölfli und Müller den Begriff des Art Brut, der «rohen Kunst» prägte und den Wert dieser ungezügelten kreativen Kraft erkannte. Besonders die im Museum Tinguely die versammelten Werke, die formal und inhaltlich dem Schriftlichen verpflichtet sind, belegen die – im surrealistischen Sinn «automatische» – Gestaltungsmacht der von keinen Konventionen eingeschränkten menschlichen Phantasie.

Zur Ausstellung erscheint eine Publikation in französischer Sprache.
Peiry, Lucienne: Écrits d’art brut. Graphomanes extravagants. Paris 2020 (Le Seuil), 288 Seiten, € 31.00.

Illustrationen von oben: Giovanni Bosco (Wandmalerei in Casellamare del Golfo (Sizilien), 2008., Arthur Bispo Rosário (Manto de apresentação, Ausschnitt, Bild aus der Ausstellung © Jürg Bürgi 2021); Pascal Vonlanthen (SWISSClou, 2019); Giovanni Battista Podestà (Der Künstler im Kostüm, Bild aus der Ausstellung © Jürg Bürgi 2021); Adolf Wölfli (Santta-Maria-Burg= Riesen-Traube: 100 Unitif Zohrn Tonnen schwer,1916).

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung unter Berücksichtigung des Katalogs ist geplant.

«Here We Are!»: Design von Frauen im Vitra Design Museum

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Das Vitra-Museum in Weil am Rhein zeigt vom 23. September 2021 bis zum 6. März 2022 unter dem Titel «Here we Are! Frauen im Design 1900 - heute» in vier chronologisch geordneten Kapiteln den grossen Einfluss von kreativen Frauen auf die Entwicklung der Gestaltung von Möbeln, Textilien, Geschirr, Schmuck, aber auch von Plakaten. Zu sehen sind Werke berühmter Designerinnen wie die Irin Eileen Gray (1878-1976) oder Charlotte Perriand (1903-1999), die zehn Jahre lang als Mitarbeiterin des Architekten Le Corbusier und seines Coucousins Pierre Jeanneret für fast alle Möbel-Entwürfe des Ateliers verantwortlich zeichnete, oder Lilly Reich (1885-1947), die mit Ludwig Mies van der Rohe unter anderem grossen Anteil an der Gestaltung des deutschen «Barcelona-Pavillons» an der Weltausstellung 1929 und 1930 an der Innenausstattung der Brünner Villa Tugendhat hatte, einem der Hauptwerke des Architekten.

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Im ersten Raum, der die Geschichte von 1900 bis 1930 unter dem Titel «Reform und Revolution» darstellt, wird deutlich, wie gross die Anstrengungen der Frauen, aller fortschrittlichen Frauen, waren, die ihnen die Ausbildung (nicht nur) in kreativen Berufen gestatteten. War der Kampf um Gleichberechtigung vor dem Ersten Weltkrieg noch mühsam, wurden die Beiträge von Frauen, vor allem in den Milieus der künstlerischen Avantgarde am Ende und nach der Kriegszeit, zunehmend geschätzt. Dass aus dem Weimarer und Dessauer Bauhaus, das Frauen und Männer gleichberechtigt aufnahm, zahlreiche Anekdoten überliefert sind, in denen die Studentinnen nach dem Vorkurs fast automatisch der Textilwerkstatt zugewiesen wurden, ist kein Widerspruch. Oft waren es die Frauen selbst, die sich dies wünschten, andere wechselten im Lauf der Zeit in ein anderes Fach und entwarfen Möbel, Spielzeug, Lampen oder Geschirr.

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Der zweite Raum der Ausstellung ist – zeitlich überlappend den «Pionierinnen der Moderne 1920-1950» gewidmet. Hier sind zum Beispiel die ikonischen Entwürfe von Charlotte Perriand zu sehen, und hier wird auch vermerkt, dass Designerinnen nicht als Originalgenies gewürdigt werden sollen, sondern als Teamplayerinnen, die ihre Projekte oft mit ihren Partnern und mit weiteren Mitarbeitenden zum Erfolg brachten. Es ist den Kuratorinnen der Ausstellung – Viviane Stappmanns, Nina Steinmüller und Susanne Graner – hoch anzurechnen, dass sie diesen Aspekt der Designgeschichte besonders betonen und deutlich machen, dass es kein Makel, sondern im Gegenteil ein Beleg für ihre Eigenständigkeit und ihr Selbstbewusstsein ist, wenn Frauen partnerschaftlich mit Männern zusammenarbeiten.

Der dritte Raum widerspiegelt unter dem Titel «In Bewegung 1950-1990» die Dynamik der Nachkriegsjahre, die auch der Kreativität von Gestalterinnen neue Möglichkeiten eröffnete. Die zentrale Botschaft dieses dritten Ausstellungsteils ist die Überwindung des traditionellen Frauenbilds. Wie langsam dies geschah, wird am Beispiel der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit SAFFA 1958 in Zürich vorgeführt. Ihre Vorgängerin, 1928 in Bern, sollte die politische Emanzipation der Schweizer Frauen voranbringen. Dreissig Jahre später ging es um die Würdigung und Förderung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leistung der Frauen. Dass dies in einer irgendwie verklemmten Form geschah, indem ein überaus konservatives Frauenbild präsentiert wurde, das alle Klischees einer bürgerlichen Frauenexistenz bediente.
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Das ist nur im Rückblick verwunderlich. Mitten im Kalten Krieg, als es darum ging, einem sozialistisch, von in «Männerberufen» malochenden Frauen – nicht zuletzt unter dem Einfluss amerikanischer Konsumwerbung – eine Alternative entgegen zu setzen: Aus Hausfrauen sollten Damen werden, die es nicht nötig hatten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen und sich auf ihre Rolle als Hüterinnen des gepflegten Eigenheims konzentrierten, denen zahlreiche Apparate und Geräte – Kühlschrank, Elektroherd, Waschmaschine, Staubsauger – zur Verfügung standen, die sie von der jeder mühseligen Plackerei entlasteten. Paradoxerweise ermöglichte dieser Trend Frauen auch überraschende Karrieren. Die Ausstellungsmacherinnen stellen in diesem Kontext in unter anderen Brownie Wise (1913-1992) vor, die das Vertriebssystem der «Tupperware» mit Nachbarschaftspartys erfand, und die, ebenfalls kaum bekannte, britische Designerin Enid Seeney (1931-2011), welche die Dekors für das in den 1950er- und 1960er Jahren in Grossbritannien überaus populäre Keramik-Geschirr «Homemaker» entwarf.

Gleichzeitig, auf der andern Seite des Eisernen Vorhangs, gestaltete die russische Architektin Galina Balaschowa (geb. 1931) ab 1963 die Innenräume der sowjetischen Orbitmodule von vier verschiedenen Sojus-Modellen, später von mehreren Raumstationen und der Raumfähre Buran. Sie übernahm auch das Design von Medaillen und Emblemen. In einem Interview mit der beratenden Kuratorin Aljona Sokolnikowa, das im Programm zur Ausstellung abgedruckt ist, betont die Gestalterin, dass sie bei ihrer Arbeit künstlerisch immer frei arbeiten konnte, wohl auch, weil ihrer Ansicht nach «in all den Jahren nie jemand wirklich begriff, was ich da eigentlich
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machte.» Zwei wesentliche Dinge seien es, die zu berücksichtigen seine, wenn man Räume für die Schwerelosigkeit entwerfe: «Ersten verwendete ich immer erdige Farben, um einen deutlichen Kontrast zwischen dem dunkleren , grünen Boden und der helleren, blassgelben Decke zu erzielen und so die Orientierung im Raum zu erleichtern. zweitens erfand ich ein innovatives System mit Klettverschlüssen, mit dessen Hilfe die Kosmonauten umstandslos kleine Gegenstände fixieren konnten, die sonst in der Kapsel herumschweben würden.»

Im vierten Kapitel entfaltet sich ein Panorama der gegenwärtigen Designerinnen-Szene. Die Gestalterinnen führen ihre eigenen Studios und arbeiten als Entwerferinnen unter ihrem eigenen Namen. Die Vorstellung, dass gestalterische Begabung oder Kreativität etwas mit dem Geschlecht zu tun haben, sei zwar längst überwunden, heisst es im Saaltext, aber Ungleichheiten seien weiterhin vorhanden, wie der zeitgenössische feministische Diskurs belege. Das ist allerdings ein weites Feld, und es scheint, dass sich die Ausstellungsmacherinnen versuchten, einer eindeutigen Stellungnahme zu entziehen, indem sie einzelne Standpunkte nebeneinander stellten. Interessanter ist die Weitung des Blicks weg von der eurozentrischen Sichtweise, hin auf die Design-Traditionen und neue Entwicklungen in Afrika und anderswo.

Insgesamt bietet die Ausstellung «Here We Are! – Frauen im Design 1900 - heute» eine überaus facettenreiche Fülle von Anschauungsmaterial von rund 80 Gestalterinnen. Es ist sehr zu bedauern, dass es keine Publikation gibt, die diese Fülle festhalten, begründen und einordnen könnte.

Illustrationen: Key Visual der Ausstellung »Here We Are!« © Vitra Design Museum, Illustration: Judith Brugger, Objekt: Faye Toogood, Roly Poly, 2018, Foto: Andreas Sütterlin; Charlotte Perriand auf der Chaise longue basculante, 1929, Perriand und Jeanneret © VG Bild-Kunst. Bonn 2021, Le Corbusier: F.L.C./ VG Bild-Kunst, Bonn 2021; Ray Eames bei der Arbeit an einem Modell, 1950, © Eames Office LLC; Plakat für die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit, SAFFA, Zürich, 1958, Gestaltung: Nelly Rudin Plakatsammlung Schule für Gestaltung Basel, Copyright für Nelly Rudin: © VG Bild-Kunst, Bonn 2021; Galina Balaschowa, Skizze des Innenraums des orbitalen (Wohn-)Abteils des Sojus-Raumschiffs. Variante 1, 1963, © Kosmonautenmuseum, Moskau

«Close-Up»: Neun Porträtistinnen in der Fondation Beyeler

Frida Kahlo
Kuratiert von Theodora Vischer zeigt die Fondation Beyeler in Riehen vom 21. September 2021 bis am 9. Januar 2022 unter dem Titel «Close-Up» rund 100 Werke von neun Künstlerinnen, die in der Zeit von 1870 bis zur Gegenwart entstanden sind. Die chronologisch gestaltete Ausstellung beginnt mit den Impressionistinnen Berthe Morisot (1841-1895) und Mary Cassatt (1844-1926), dann folgen Paula Modersohn-Becker (1876-1907) und Lotte Laserstein (1898-1993), Frida Kahlo (1907-1954) und Alice Neel (1900-1984) sowie die Zeitgenossinnen Marlene Dumas (*1953), Cindy Sherman (*1954) und Elisabeth Peyton (*1965). Als Gemeinsamkeit der künstlerischen Arbeit – «Close-Up», der Titel der Schau, fasst die Intention zusammen – nennt die Einleitung zum Saaltexte-Heft «die Konzentration auf Porträts und Selbstporträts». Diese Einschränkung ist wichtig, weil damit eine Auseinandersetzung mit dem gesamten Œuvre der Künstlerinnen umgangen wird. Wer durch die Ausstellung geht, wird sein Interesse auf die Frage fokussieren, welche Sicht auf die abgebildeten Menschen die Malerinnen wählten. Während bei Berthe Morisot und Mary Cassatt vor allem ihre impressionistische Maltechnik Aufmerksamkeit verdient – und ihr Mut, sich darauf einzulassen, Hochachtung – ist bei ihren Nachfolgerinnen die Abkehr von der traditionellen Porträtmalerei bemerkenswert: Nicht mehr das möglichst genaue Abbild der äusseren Erscheinung der Porträtierten war die künstlerische Herausforderung, sondern die Darstellung der subjektiv erfassten Persönlichkeit. Die Ausstellung in der Fondation Beyeler bietet einen lebendigen Einblick in die Porträtmalerei der letzten 150 Jahre; sie ermöglicht die Bekanntschaft mit selten ausgestellten Werken (Morisot, Cassatt, Laserstein, Geel) aus dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert und das Wiedersehen mit zeitgenössischen Malerinnen. Wer wissen möchte, wie die Auswahl gerade dieser neun Künstlerinnen zustande kam, erhält allerdings keine Antwort. Und auch die spannende Frage, ob Porträtistinnen anders malen als ihre männlichen Kollegen, muss mangels Vergleichsmöglichkeiten offen bleiben. Zum aktuellen Druck auf Ausstellungsmacherinnen, jetzt unbedingt Künstlerinnen eine Bühne zu bereiten, erübrigt sich eine Bemerkung. Wir halten das für eine Mode, die in absehbarer Zeit von einer vernünftigen, auf Qualität fokussierten Balance abgelöst wird.

Zur Ausstellung erschien – in je einer deutschen und englischen Version – ein schön gestalteter, reich illustrierter Katalog mit kenntnisreichen Künstlerinnen-Porträts und sorgfältig kommentierten Chronologien.
Vischer, Theodora (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Close-Up. Berthe Morisot, Mary Cassatt, Paula Modersohn-Becker, Lotte Laserstein, Frida Kahlo, Alice Neel, Marlene Dumas, Cindy Sherman, Elisabeth Peyton. Riehen/Berlin 2021 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag). 342 Seiten, CHF 58.00/€ 58.00.

Illustration: Frida Kahlo, Selbstporträt (1926)

Pissarro: Das Atelier der Moderne im Kunstmuseum Basel

Porträt Pissarro vers 1900
Das Kunstmuseum Basel widmet Camille Pissarro (1830-1903), dem einflussreichen Erneuerer der Malerei im 19. Jahrhundert, unter dem Titel «Das Atelier der Moderne» vom 4. September 2021 bis 23. Januar 2022 eine grosse Retrospektive. Die von Christophe Duvivier, dem Direktor des «Musée Camille Pissarro» in Pontoise, kuratierte Ausstellung präsentiert in neun Sälen rund 180 Werke. Das Œuvre Pissarros steht dabei im Mittelpunkt; zu sehen sind aber auch Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die zum weit gespannten Netzwerk des besonders zu Freundschaften begabten Malers gehörten, darunter Paul Cézanne, Ludovic Piette, Paul Gauguin, Pierre-Auguste Renoir, Mary Cassatt, Edgar Degas, Claude Monet, Georges Seurat, Paul Signac, sein Sohn Lucien Pissarro und viele andere.

Pissarro, 1830 als Sohn einer ursprünglich aus Portugal stammenden jüdischen Familie auf der damals dänischen Karibik-Insel St. Thomas geboren, begann seine Malerkarriere gegen den Widerstand seines Vaters als 22-jähriger im Schlepptau des dänischen Malers Fritz Melbye in Venezuela. Nach einem kurzen Zwischenhalt bei der Familie, wo er seinen Vater überzeugte, seine Malerkarriere zu akzeptieren, reiste Pissarro 1855 nach Paris. Zunächst als Schüler des führenden Landschaftsmalers Camille Corot (1796-1875), später – auf Drängen des Vaters – auch kurz in der Ecole des Beaux-Arts, suchte der junge Künstler nach seinem eigenen künstlerischen Weg. Unter seinen Zeitgenossen war die Überwindung der sterilen realistischen Ateliermalerei ein ständiges Debattenthema. Die «Schule von Barbizon», um 1830 von Théodore Rousseau (1812-1867) im Wald von Fontainebleau gegründet, galt vielen als Vorbild für die moderne, naturverbundene Landschaftsmalerei. Die Mitglieder der Gruppe skizzierten im Freien und gingen nur zur Fertigstellung ihrer Bilder ins Atelier. Camille Pissarro und einige seiner
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Freunde fanden Anschluss bei der Gruppe, die vom Altmeister Camille Corot (1796-1875) dominiert wurde. Den jungen Neuerern besonders zugewandt erwies sich Charles-François Daubigny, der als einziges Jurymitglied des Salons versuchte, ihnen Ausstellungsmöglichkeiten zu eröffnen. Mit seinem Engagement war allerdings nur selten erfolgreich. Die kollegiale Zusammenarbeit war wohl das wichtigste Charakteristikum der impressionistischen Malerei. In der wunderbaren, didaktisch klug eingerichteten Ausstellung wird augenfällig, wie die Künstler zusammen arbeiteten: Sie wählten ähnliche Sujets und tauschten ihre Ansichten aus. Camille Pissarro war immer mittendrin und prägte die Gruppe mit seinem Geist der Toleranz und des Respekt für die künstlerische Individualität.

So einflussreich Camille Pissarro in seinem Kreis war, so wenig erfolgreich war er als Verkäufer seiner Werke. Anders als einige seiner Freunde, darunter Jean Renoir oder Claude Monet, weigerte er sich, seine Malweise dem Publikumsgeschmack anzupassen. Es widerstrebte ihm, zugunsten des kommerziellen Erfolgs künstlerische Kompromisse einzugehen. In der Ausstellung ist an zahlreichen Beispielen zu sehen, wie revolutionär die Impressionisten den zeitgenössischen Geschmack mit ihrer Malerei herausforderten. Da sie ihre Werke in den offiziellen Verkaufsausstellungen, den «Salons», nicht präsentieren konnten, veranstaltete die Gruppe unter Pissarros Führung als «Société anonyme cooperative des artistes, peintres, sculpteurs, et graveurs» 1874 eine erste Ausstellung. Sie war gewusst als Provokation gemeint und folgerichtig von der Kritik als Schau der «Impressionisten» verunglimpft. Bis 1886 veranstaltete die Gruppe acht Ausstellungen. Camille Pissarro war der einzige Maler, der immer dabei war. Die Beharrlichkeit zahlte sich nicht aus. Er war mit seiner grossen Familie – seine Frau Julie gebar fünf Söhne und drei Töchter, von denen nur eine das Kindesalter überlebte – immer wieder auf Unterstützung angewiesen.

Der Kreativität und der Offenheit für Neues tat das keinen Abbruch. Mit der aus Amerika stammenden Künstlerin Mary Cassatt (1844-1926) und Edgar Degas (1834-1917) erprobt er in den späten 1870er Jahren die Möglichkeiten, die impressionistische Wiedergabe von Lichtreflexen in Radierungen anderen Druck-Techniken einzusetzen. Die lange in Vergessenheit geratene Mary Cassatt ist in der Ausstellung mit fünf Kaltnadelradierungen aus einer späteren Schaffensperiode präsent. Zwei der Arbeiten aus dem Jahr 1891 könnte man schon fast dem Jugendstil zuordnen.

Pissarro hatte die Selbstverwaltung seiner Impressionisten-Freunde auch aus politischen Gründen gewählt. Als überzeugter Anarchist und Bewunderer des Vordenkers Pjotr Kropotkin unterstützte er die Bewegung und agitierte gegen die prekären Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse. Seine Überlegungen formulierte er in einer Broschüre mit dem Titel «Turpitudes sociales», die er mit satirischen Zeichnungen illustrierte und seinen Nichten schenkte.

Pissarro Ährenleserinnen
In seinen späteren Jahren wandte sich Pissarro von der reinen Landschaftsmalerei ab und den (arbeitenden) Menschen zu. Nicht mehr Bäume, Büsche und Wiesen spielen in diesen Gemälden die Hauptrolle, sondern die Bewohner dieser Landschaften. Es entstanden eindrückliche Impressionen der jahreszeitlichen Arbeiten der Bauern auf den Feldern rund um seinen Wohnort (seit 1884) Éragny, einem kleinen Dorf im Tal der Oise. Dort entwickelt sich im Austausch mit seinen fünf Söhnen, die alle begabte Künstler sind, die «Schule von Éragny».

Auf seiner letzten künstlerischen Etappe, ab 1893, malte Camille Pissarro mit Vorliebe Stadtlandschaften. Erstmals kann er es sich leisten zu reisen. Er mietet Wohnungen in verschiedenen Städten, von deren Fenster aus er das Leben auf den Strassen beobachtet und malt, zum Teil dasselbe Motiv zu verschiedenen Tageszeiten. Besonders faszinieren ihn Häfen, die er in Dieppe, Rouen und Le Havre abbildet.

Auch wer sich weniger für die Details der impressionistischen und neoimpressionistischen Malweise interessiert, wird das grossartig präsentierte Panorama von Camille Pissarros Werk und seines «Atelier der Moderne» als grossen Kunstgenuss erleben.

Zur Ausstellung erschien ein sowohl mit aufschlussreichen Texten als auch mit üppiger Illustration auftrumpfender Katalog in je einer deutschen und einer englischen Version.
Helfenstein, J. und Duvivier, Chr.: Camille Pissarro: Das Atelier der Moderne. München 2021 (Prestel Verlag). 336 Seiten, CHF 59.00.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
ist hier zu finden.

Illustrationen: Camille Pissarro um 1900 (Fotograf unbekannt), Camille Pissarro; Côte des Boeufs, Pontoise (1877), Camille Pissarro: Les Glaneuses (1889). Dieses Bild, das bisher als Leihgabe zur Sammlung gehörte, wurde dem Museum kurz vor Ausstellungseröffnung geschenkt.

Neun Filme von Bruce Conner im Museum Tinguely

Bruce Conner
«Light out of Darkness» ist der Titel einer Ausstellung des als «Vater des Videoclips» berühmten amerikanischen Multimedia-Künstlers Bruce Conner (1933-2008) im Museum Tinguely in Basel. Vom 5. Mai bis 28. November 2021 sind, kuratiert von Roland Wetzel, neun, meist kurze Filme zu sehen. Den nachhaltigsten Eindruck vermittelt zweifellos die halbstündige Dokumentation «Crossroads» von 1976, welche einen amerikanischen Atomwaffen-Versuch im Pazifik in der Nähe des Bikini-Atolls im nördlichen Teil der Marshall-Inseln dokumentiert. Dort detonierten im Sommer 1946 zwei 23-Kilotonnen-Plutoniumbomben, am 30. Juni die Bombe «Gilda», die aus einem Flugzeug abgeworfen wurde, und am 24. Juli die Bombe «Helen of Bikini», die 27 Meter unter dem Meeresspiegel gezündet wurde. Bruce Conner beschaffte sich für seinen Film die Aufzeichnungen über die Unterwasser-Detonation. Die US-Army wollte damals herausfinden, was mit Schiffen geschieht, die sich in der Nähe eines nuklearen Explosionsherds befinden. Dafür wurden 95 ausrangierte Boote verschiedener Bauart – darunter zwei Flugzeugträger, zwei Kreuzer, 13 Zerstörer, acht U-Boote – und auch drei von Japan und Deutschland erbeutete Kriegsschiffe in verschiedenen Abständen zum Explosionsherd verankert.
CROSSROADS 2 Ausschnitt
Sie waren beladen mit Munition und Treibstoff, aber auch mit Versuchstieren – 200 Schweine, 204 Ziegen, 5000 Ratten sowie Meerschweine, Mäuse und Insekten. Die Unterstützungsflotte umfasste 150 weitere Schiffe. Vorbereitung und Durchführung des Versuchs, dem, angeblich in sicherem Abstand, ein zahlreiches Publikum beiwohnte, erforderten die Mitarbeit von nicht weniger als 42’000 Marinesoldaten. Der langjährige Vorsitzende der amerikanischen Atomenergie-Kommission, der Chemiker Glenn T. Seaborg, nannte den Versuch mit der Unterwasser-Bombe «die weltweit erste Nuklearkatastrophe».

Ausser den ausrangierten Kähnen ist von all dem auf den von unzähligen an Land, auf See und in der Luft positionierten Kameras aufgenommenen Bildern nichts zu sehen. Sie zeigen die unvorstellbare Wucht der Atombomben-Explosion, welche die ganze Umgebung mit radioaktivem Sprühregen verseuchte, aber auch die makaber-faszinierende Schönheit des Gewaltaktes. Musikalisch begleitet wird der 35mm-Tonfilm im ersten Teil von atmosphärisch auf das Gezeigte abgestimmten Synthesizer-Klängen von Patrick Gleeson; der zweite Teil, der die irritierende Ästhetik des zerstörerischen Menschenwerks zelebriert, wird von hypnotischen elektronischen Tonfolgen untermalt, die Terry Ripley komponierte. Der eindrückliche 37 Minuten lange Zusammenschnitt der Archivaufnahmen läuft im Museum gleich neben dem offen zugänglichen Raum mit Jean Tinguelys Mengele-Totentanz. «Die Nachbarschaft …», heisst es im Begleittext, «will einen Dialog eröffnen über die politischen Gefahren von Militarismus und Totalitarismus».

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Menschliche Zerstörungswut steht auch im Zentrum von Bruce Conners erstem Film. Unter dem Titel «A MOVIE» – die Grossbuchstaben finden als Stilelement auch bei den in absurder Folge eingesetzten Zwischentiteln Verwendung – schnitt er 1958 Szenen aus Nachrichtensendungen, B-Movies und filmtechnischer Grafik zusammen. Als Begleitmusik wählte er drei von vier Sätzen der symphonischen Dichtung «Pini di Roma» von Ottorino Respighi (1879-1936). Die Rasanz des Schnitts und die Fülle der Motive gehen an die Grenzen dessen, was der menschlichen Aufnahmefähigkeit zuzumuten ist – und manchmal überschreiten sie sie auch. Wir sehen, wie Indianerhorden im Wilden Westen Siedler mit Planwagen jagen, dazwischen sind Verfolgungsrennen mit Elefanten, Dampfloks und Autos geschnitten, die sich zu allerlei gewaltigen Unfällen und Katastrophen steigern. Ein U-Boot-Kapitän ortet durch das Periskop ein Pin-up-Girl und schiesst ein Torpedo ab, das eine Atomexplosion auslöst, die zu einen Tsunami führt, der Schiffe zum Kentern bringt und ein Rudel Wasserskifahrer aus der Bahn wirft. Die Abfolge der Szenen erscheint willkürlich. Ein roter Faden ist nicht auszumachen. Gleich zu Beginn sorgt Conner für Verwirrung, indem er den Leader-Countdown (der dem Filmvorführer den Beginn des Films anzeigt und ihm ermöglicht, die Optik scharf zu stellen) durch die Sequenz einer fast nackten Frau unterbricht, die dabei ist, ihre Strümpfe auszuziehen.

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Gewalt und die Macht amerikanischer Sehgewohnheiten dominiert auch Conners Film über die Rezeption der Ermordung von Präsident John F. Kennedy am 22. November 1963 in der texanischen Metropole Dallas. Dieser 1963 bis 1967 in mehreren Schritten entstandene, 13 Minuten lange Streifen spielt mit Wiederholungen der immer gleichen Szenen. Wir sehen Kennedys offene Limousine auf der Fahrt durch Dallas, wobei Conner die ikonisch gewordenen Filmsequenzen des Augenzeugen Abraham Zapruder, welche das Magazin «Life» seinerzeit für 150’000 Dollar erwarb, nicht zur Verfügung standen. Auch weiteres Bild- und Tonmaterial war ihm nicht zugänglich, so dass er den ursprünglichen Plan aufgeben musste, das historische Medienereignis in die seiner Ansicht nach manipulativ geprägte Bilderwelt des amerikanischen Alltags einzubetten. Bemerkenswert ist die Verwendung der live gesendeten Radioreportage von Reid Collins des Senders «WNEW Radio News». Die später für eine Schallplatte des Labels Colpix Records verwendete Tonspur läuft unabhängig von den Bildsequenzen, teilweise auch ganz ohne Bilder weiter. Auch hier bedient sich Conner des filmtechnischen Countdowns, diesmal begleitet von der Reporterstimme, die Kennedys Tod verkündet. Dazwischen sind Stierkampfszenen und mehrfach Zeitlupen-Aufnahmen von durchschossenen Glühbirnen – das Sprichwort «jemandem das Licht ausblasen» gibt es auch auf Englisch – zu sehen. «Mit einem Stakkato von Bildern massenmedialer Werbung, präsidentieller Paraden, glorifizierender Kriegsszenen und Flashbacks vom Tatort Dallas», heisst es im Begleittext, «führt uns Conner vor, in welchem Ausmass Medienbilder des Spektakels unsere Wahrnehmungen und Einstellungen prägen.»

In einem Interview gefragt, wie er eigentlich dazu kam, Filme zu machen, antwortete Conner, das sei ihm auch nicht ganz klar. Er sei häufig ins Kino gegangen und habe Ideen zu einem eigenen Film entwickelt. Und weil niemand ihn habe machen wollen, sei er gezwungen gewesen, es selbst zu versuchen. Die Äusserung ist typisch für Conners öffentliche Auftritte. Man weiss nie, ob er sich über die Fragerei lustig macht, oder ob er es ernst meint. Den ganzen Kunstbetrieb betrachtete er mit ironischer Distanz, manchmal auch mit Verachtung. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er auf den Rummel und seine Zumutungen angewiesen war, wenn er sein fast schrankenloses kreatives Potenzial ausschöpfen wollte. Denn auf die Filmmontage und die Erfindung von zum Teil surrealistischen Bildsequenzen (wie zum Beispiel in dem psychedelisch-experimentellen Farbfilm «Looking for Mushrooms») war Conners Begabung bei weitem nicht beschränkt: Er erregte mit erotischen Gemälden Aufsehen, er zeichnete, fotografierte, schuf Tapisserien, Collagen und Assemblagen, die an Arbeiten von Dieter Roth oder Daniel Spoerri erinnern. Und in vielen Fällen wollte Conner seine Werke als Kommentar zu aktuellen Ereignissen verstanden wissen. (Zum Beispiel die hier abgebildete Skulptur CHILD von 1959/60, die als Beitrag zur damals heftigen Auseinandersetzung um die Hinrichtung von Caryl Chessman, der in der Haft mehrere Bücher schrieb und bis zuletzt seine Unschuld beteuerte, verstanden wurde. Dass sich die aktuelle Ausstellung im Museum Tinguely ganz auf den Filmemacher Conner
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beschränkt, hat nicht nur Platzgründe, begründet Kurator und Museumsdirektor Roland Wetzel. Viele von Conners übrigen Werken seien so fragil, dass sie kaum transportfähig seien. Das ist sicher zu respektieren. Allerdings darf auch daran erinnert werden, dass es der Kunsthalle Zürich 2011 gelang, wenigstens einen Monat lang eine kleine Retrospektive auf Bruce Conners Arbeiten aus den 1970er-Jahren zu zeigen, die auch Fotogramme und Zeichnungen umfasste, wie dem Begleittext zu entnehmen ist, der nach wie vor auf der Website der Kunsthalle abgerufen werden kann.

Die letzte Retrospektive auf Conners Schaffen fand im Juli 2016 unter dem Titel «It’s All True» als Kooperation des San Francisco Museum of Modern Art und des New Yorker Museum of Modern Art statt. Die New York Times nannte die Schau, auf der nicht weniger als 250 Werke in rund zehn verschiedenen Kunst-Techniken zu sehen waren, eine «Extravaganz» und einen Beweis «grösster Wertschätzung». Auch andere Kritiken enthielten nur höchstes Lob. Es wäre dringend zu wünschen, dass sich auch in Europa einmal Museen zusammenfänden, um dem grossen Anreger Bruce Conner, allen Schwierigkeiten zum Trotz, mit einer umfassenden Schau den verdienten Tribut zu zollen. Bis dann begnügen wir uns, nolens volens, mit den neun Filmen im Museum Tinguely. Und das ist immerhin schon sehr viel.

Illustrationen von oben nach unten: Porträt © NYT Bruce Conner in 2000. Peter DaSilva (Ausschnitt); Filmstills aus «Crossroads», «A Movie» und «Report» Courtesy Kahn Gallery und Conner Family Trust (© Conner Family Trust); CHILD (959/60). © Museum of Modern Art, New York.

Ólafur Elíasson in der Fondation Beyeler

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Vier Monate lang, vom April bis Juli 2021, erhält aus Island stammende Konzeptkünstler Ólafur Elíasson (geb. 1967) Gelegenheit, in der Fondation Beyeler in Riehen unter dem Titel «Life» seine Vision eines kunstwerklosen Museums zu verwirklichen. Dafür liess er die ganze Glasfassade der Gartenfront neben dem Eingang entfernen und den Seerosenteich davor in die leergeräumten Ausstellungsräume ins Innere des Museums eindringen. Das ungiftig grün gefärbte Wasser, die force tranquille, ist kaum sichtbar in Bewegung; die lückenhaften Blätterteppiche, die sich darauf ausbreiten, deuten aber Lebendigkeit an. Da die Wasserlandschaft täglich 24 Stunden auf Holzstegen begehbar ist, vermittelt sie zahlreiche ebenso faszinierende wie unspektakuläre Sinneseindrücke. Die Farbe des Wassers verändert sich je nach Wetter, Tageszeit und Lichteinfall ständig. In der Nacht, von oben blau beleuchtet, erscheint das Wasser gelb.
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Auffallend ist die Ruhe, die von der Installation ausgeht. Die zahlreichen Besucherinnen und Besucher bewegen sich schweigend und ohne Hast auf den Stegen. Und auch das Publikum, das sich auf dem Vorgelände zum Teich niedergelassen hat, verharrt zumeist in kontemplativer Stille.

Das ist ganz im Sinne des Künstlers. «Das Leben auf der Erde», gibt er in einem Statement zu Bedenken, «hatte schon mindestens drei Milliarden Jahre überstanden, bevor [es Menschen gab] ... Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass wir ‹auserwählte› Spezies sind, für die alle anderen gemacht wurden. Und wir sind auch nicht die wichtigste Spezies, nur weil wir so zahlreich, mächtig und gefährlich sind.» Und Sam Keller, Direktor des Museums, bezieht das Publikum mit ein, wenn er von einem «kollektiven Experiment» spricht, das Elíassons Installation darstellt. «Es stellt Konventionen von Kunst, Natur, Institution und Leben in Frage und versucht ihre Grenzen zerfliessen zu lassen.» Sein Werk, erklärt Elíasson, sei nicht nur für menschliche, sondern ebenso für nichtmenschliche Besuchende gemacht, für Pflanzen und Mikroorganismen.
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Zudem sei es dem Wetter und dem Klima ausgesetzt – Elemente, die ein Museum gewöhnlich fernzuhalten versucht.

In der Tat wirkt wohl Elíassons Werk am nachhaltigsten durch seine dystopische Perspektive nach: Da ist nicht nur ein Kunstmuseum ohne Kunst zu besichtigen, sondern auch die Aussicht darauf, dass menschliche Kreativität, ja die ganze Spezies, eines Tages ohne weiteres verschwinden und ihre Kultstätten von der Natur zurückgeholt werden. Das Memento Mori, hatte als Grundthema der bildenden Kunst während Jahrhunderten das Individuum im Fokus. Elíassons eindrückliche Installation weitet die Mahnung nun auf die ganze Menschheit aus.

Illustrationen © Jürg Bürgi 2021

Jonas Fränkels Nachlass im Schweizerischen Literatur-Archiv

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Ende April 2021 berichteten Schweizer Zeitungen begeistert, dass der Nachlass des Berner Germanistik-Professors Jonas Fränkel (1879-1965) und mehrere Koffer mit Briefen und Manuskripten seines Freundes, des Schweizer Literatur-Nobelpreisträger Carl Spitteler (1845-1924), dem Schweizerische Literaturarchiv übergeben worden seien. Aus diesem Anlass lohnt es sich, nicht nur an die Person des umstrittenen Berner Gelehrten Fränkel zu erinnern, sondern das Umfeld des Schweizer Germanisten- und Literatenmilieus der 1920er- bis 1950er-Jahre in den Blick zu nehmen. Die Dissertation von Julian Schütt war 1996 die erste Arbeit, welche aufgrund von Dokumenten, Pressetexten und Gesprächen mit Zeitzeugen die peinlichen Intrigen und Machtkämpfe in der allzuoft offen nazifreundlichen Schweizer Germanisten-Zunft offenlegte. Im Mai 1997 berichtete das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL über Schütts Recherchen.

Julian Schütt: Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. Zürich 1996 (Chronos-Verlag).

Hier geht es zum vollständigen, als PDF neu formatierten und illustrierten Text der Story im Archiv unserer Website.

Illustration: Jonas Fränkel (Schweiz. Literaturarchiv)

Sophie Taeuber-Arp im Kunstmuseum Basel

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Drei Monate lang, vom 20. März bis zum 20. Juni 2021, zeigt das Kunstmuseum Basel das Werk von Sophie Taeuber-Arp (1889-1943) und damit die ganze Vielfalt ihrer Welt als Avantgarde-Künstlerin. Die mit über 250 Exponaten auftrumpfenden Retrospektive, soll der in Davos geborenen Tochter des aus Westpreussen stammenden Apothekers Carl Emil Taeuber und der Schweizer, in Gais (AR) heimatberechtigten Mutter Sophie Taeuber-Krüsi, endlich internationale Anerkennung und den ihr gebührenden Platz am Firmament der klassischen Moderne sichern. Denn was in der Schweiz, in Deutschland und in Frankreich längst unbestritten ist, scheint in der angelsächsischen Welt erst für einige Expertinnen klar zu sein. Die Initiative zur Ausstellung ging deshalb vom Museum of Modern Art (MoMA) in New York aus. Dort – und später in der Tate Modern in London – sollte die Ausstellung im November 2020 eröffnet werden. Die Corona-Pandemie erzwang Verschiebungen, sodass Basel nun den Vortritt erhielt. Das führt dazu, dass sich Schweizer Taeuber-Fans stark an die umfassende Retrospektive erinnern, die das Aargauer Kunsthaus in Aarau 2014 unter dem Titel «Sophie Taeuber-Arp – Heute ist Morgen» ausrichtete – was dem grossen Vergnügen an der wunderbaren Basler Präsentation keinerlei Abbruch tut. Für alle, die Sophie Taeubers Kunst lieben, und erst recht für alle, die sie nur von der 50-Franken-Note der achten Serie (1995-2016) kennen, ist der Besuch im Kunstmuseum dringend zu empfehlen.

In neun Räumen begegnen wir hier, meist in chronologischer Ordnung arrangiert, dem Oeuvre einer Frau, die wohl allzu lange als tüchtige und einfallsreiche Kunstgewerblerin missverstanden wurde. Dabei wird schon in den frühen Arbeiten deutlich, dass Sophie Taeuber, die von ihrer Mutter nach Kräften gefördert, an der Gewerbeschule in St. Gallen und später in München und Hamburg eine solide künstlerische Ausbildung genoss, zwischen angewandter und «freier» Kunst keinen Unterschied machte. (Es scheint, dass die Unterscheidung weniger von Künstlerinnen und Künstlern gemacht wurde und wird – man denke an Sonja Delaunay, Hannah Höch oder an Anni Albers, aber auch an Le Corbusier, an Pablo Picasso, Max Bill, Theo van Doesburg und viele andere – als vielmehr von Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern und ihrem praxisfernen Schubladendenken.) Bei Sophie Taeuber-Arp trat zur ungewöhnlichen Breite von Begabungen ein starker Entdecker-Drang hinzu, der sie fortwährend Neues ausprobieren liess.

Hirsch klein
Die Vielfalt ihrer Interessen war gepaart mit einer praktischen Bodenständigkeit, die sie davor bewahrte zu vergessen, dass sich Kreativität ohne wirtschaftliche Ressourcen nicht entfalten kann. Um sich ein regelmässiges Einkommen zu sichern, übernahm sie 1915 ein acht Wochenstunden umfassendes Lehrpensum für Entwerfen und Sticken an der kunstgewerblichen Abteilung der Zürcher Gewerbeschule. 12 Jahre lang, bis zu Ihrem und Hans Arps Umzug nach Frankreich, blieb sie als Lehrerin engagiert. Zu den zahlreichen Impulsen, die sie der Schule gab, gehörte die Beteiligung am Schweizerischen Marionettentheater, das Rektor Alfred Altherr 1918 gründete. Sophie Taeuber erfand und baute die Figuren für die Inszenierung «König Hirsch», einer satirischen Aktualisierung von Carlo Gozzis (1720-1806) «Il Re Cervo». Wegen der Grippe-Pandemie wurde das Stück nur drei Mal aufgeführt. In der Basler Ausstellung werden die Marionetten in einer Vitrine so präsentiert, dass sie von allen Seiten betrachtet werden können. Sie sind zudem auch in einer Videoprojektion in Aktion zu sehen. Als besondere Attraktion führen die Marionetten vom 18. bis 31. März abends zwischen 18.30 und 23 Uhr auf der Fassade des Kunstmuseum-Neubaus einen «Lockdown Dada Dance» auf. (Wer nicht dabei sein kann, ruft die Website http://dada-dance.com auf.)

Entwurf Aubette Bar klein
Auf ihrem künstlerischen Lebensweg begleiten wir Sophie Taeuber-Arp zunächst nach Strassburg, wo sie in Privathäusern als Innenarchitektin wirkt. Ihre Wandbilder und farbigen Glasfenster führen zum Grossauftrag, das Kultur- und Vergnügungszentrum «L’aubette» an der zentralen Place Kléber zu gestalten. Hans Arp und Theo van Doesburg (1883-1931) waren an Planung und Ausführung beteiligt. Die avantgardistische, grosses Aufsehen erregende Einrichtung blieb leider nur wenige Jahre unangetastet – zu sehr widersprach sie dem Geschmack des Publikums. Immerhin machte es das Honorar 1929 Sophie und Hans Arp möglich, am Stadtrand von Paris, in Clamart, einem Ortsteil von Meudon, ein Atelierhaus zu bauen, das alsbald zu einem Magnet der Pariser Avantgardisten-Szene wurde. In einem Brief, der in der Ausstellung zusammen mit anderen Zitaten auszugsweise zu hören ist, beklagte sie sich, dass sie die Bewirtung der vielen Besucher vom Arbeiten abhalte. Ihr Pensum war auch ohne Gäste kaum zu bewältigen: Neben dem Kunstschaffen betätigte sie sich als Organisatorin von und Teilnehmerin an Ausstellungen, als Animatorin der nicht-figurativen Avantgarde, die sich in der Gruppen «Cercle et Carré» und «Abstraction Création» zusammengetan hatte, oder als Gestalterin und Redaktorin der programmatischen Kunstzeitschrift «Plastique/Plastic».

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Im Januar 1937 eröffneten die Kuratoren Georg Schmidt (1896-1965), der nachmalige Direktor des Kunstmuseums, und Lucas Lichtenhan (1898-1969) in der Kunsthalle Basel die Gruppenschau «Konstruktivisten». Die bestens vernetzte Sophie Taeuber hatte sie bei der Auswahl der Werke kräftig unterstützt und selbst 24 ihrer Arbeiten beigesteuert. Die Avantgarde-Schau, auch als kraftvolles politisches Statement gegen die rassistisch und nationalistisch geprägte Kunstpolitik jenseits der Grenze gemeint, war für Sophie Taeuber die umfangreichste Werkschau zu ihren Lebzeiten. (Fast gleichzeitig räumten übrigens die Nazis die «Verfallskunst» aus den Museen, und der Maler Adolf Ziegler (1891-1959) – der 1912 Sophies Freund und Gefährte gewesen war – organisierte im Sommer in München die berüchtigte Ausstellung «Entartete Kunst».)

Im Sommer 1940 flohen die Arps vor den Nazi-Truppen aus Clamart. Peggy Guggenheim lud sie nach Veyrier-sur-Lac in Savoyen ein, um dort auf das Visum für die Schweiz zu warten. Nach der Ablehnung des Antrags zogen sie nach Grasse weiter. Die künstlerischen Arbeiten, die Sophie Taeuber in diesen Jahren vollendete, sind geprägt vom Material-Mangel und der Ruhelosigkeit der Emigration. Kurz vor der Besetzung Südfrankreichs durch deutsche und italienische Truppen konnten sich die Arps mit einem befristeten Visum nach Zürich absetzen. Wenige Wochen später, in der Nacht auf den 14. Januar 1943, starb Sophie Taeuber-Arp im Schlaf an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung, weil im Gästezimmer in Max Bills Haus der Abzug am Holzofen geschlossen war.

Illustrationen: Sophie Taeuber-Arp mit Dada-Kopf (Scan aus dem Katalog, S. 116; Foto: Nic. Aluf (1885-1959), Bibliothèque Kandinsky, Centre Pompidou, Paris; «Hirsch» (Marionette für König Hirsch) 1918, Museum für Gestaltung, Zürcher Hochschule der Künste, Kunstgewerbesammlung. Courtesy Umberto Romito, Ivan Suta; Aubette 200 (Entwurf für die Decke der Aubette-Bar in der Aubette, Strassburg)
Sophie Taeuber-Arpː Gelebte Abstraktion
1927 (Scan aus dem Katalog, S. 145, Stiftung Arp e.V., Berlin); «Dynamische Konstruktion, Durchdringung von Spiralen und Diagonalen» 1942, Foto aus der Ausstellung im Kunstmuseum Basel © Jürg Bürgi 2021.

Die umfangreiche und sehr schön gestaltete Publikation zur Ausstellung gibt es in einer englischen und einer deutschen Ausgabe: Umland, A., Krupp, W., Healy, Ch. und (für die deutsche Ausgabe) Reifert, E., Beck, C. (Hrsg. für das Museum of Modern Art, New York und das Kunstmuseum Basel): Sophie Taeuber-Arp – Gelebte Abstraktion. München 2021 (Hirmer Verlag), 352 Seiten, € 58.00/CHF 59.00.

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«Impasse Ronsin» im Museum Tinguely

Impasse Ronsin
Die überaus sehenswerte Ausstellung «Impasse Ronsin. Mord, Liebe und Kunst im Herzen von Paris» erweist im Museum Tinguely vom 16. Dezember 2020 bis 29. August 2021 jener Künstlersiedlung im Stadtteil Montparnasse die Reverenz, wo der junge Jean Tinguely Mitte der 1950er Jahre sein erstes Atelier bezog und die Grundlage für sein vielgestaltiges Œuvre schuf. Ähnlich wie ein halbes Jahrhundert früher das Bateau-Lavoir auf dem Montmartre, wo der junge Picasso seine ersten Pariser Jahre zubrachte, bildeten die als schäbig und heruntergekommen beschriebenen Ateliers in der Impasse Ronsin einen Brennpunkt des künstlerischen Austauschs und der Kreativität. Den Kuratoren Andres Pardey und Adrian Dannatt gelang es mit ihrer Ausstellung und dem inhaltsreichen Katalog – nicht zuletzt dank der kenntnisreichen Unterstützung von Christophe-Emmanuel del Debbio, dem Sohn des Künstlers, der bis zuletzt in der Impasse arbeitete – das Leben und Treiben in der Sackgasse zu dokumentieren.
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Besonders berühmt wurde die Impasse durch den Doppelmord, dem Ende Mai 1908 im Haus Nummer 6 der akademische Maler Adolphe Steinheil und seine Schwiegermutter zum Opfer fielen. Die Architektur der Schau erinnert an die verwinkelte Bebauung des 125 Meter langen und acht Meter breiten Strassenstummels, wie sie bis zum Abriss des Komplexes 1971 bestand. Zu sehen sind rund 200 Werke von über 50 Künstlerinnen und Künstlern, darunter Klassiker der Moderne wie Constantin Brâncuși, Max Ernst oder Marcel Duchamp, Avantgardisten wie Arman, Jasper Johns und die jungen Wilden Yves Klein, Jean Tinguely, Daniel Spoerri, Eva Aeppli oder Niki de Saint Phalle, die zeitweise die primitiven Atelierwohnungen bevölkerten. «Die Impasse Ronsin war wirklich eine dystopische Gemeinschaft», erinnert sich Harry Mathews, der erste Ehemann von Niki de Saint Phalle. «Es war nicht wie Le Bateau-Lavoir, es war einfach nur ein verlassener Teil der Stadt. … Schlimmer als ein Elendsviertel, ein übermässig ungesunder Ort, der schmutzigste in Paris.» Aus heutiger Sicht umso erstaunlicher: Die Sackgasse war für Viele, die dort ihre künstlerischen Ambitionen entwickelten, ein kreativer
Niki und Jean 1961
Kraftort, der ihnen den Weg zum Erfolg eröffnete.

Zur Ausstellung erschien ein umfangreicher Katalog, der das Leben in der Sackgasse in seiner ganzen Fülle mit Bildern, Erinnerungen und Anekdoten abbildet. Er ist in einer deutschen und englischen Version erhältlich.
Museum Tinguely (Hrsg.): Impasse Ronsin. Mord Liebe und Kunst im Herzen von Paris. Basel/Heidelberg 2020 (Museum Tinguely/Kehrer Verlag). 252 Seiten. CHF 42.00/€ 38.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist hier zu finden.

Illustrationen von oben nach unten: Die Impasse Ronsin am Ende des 19. Jahrhunderts und heue (Postkarte/Google Streetview), Titelseite des Petit Parisien zum Mordfall Steinheil, 14. Juni 1908, Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely 11.4.1961 (Foto Shunk-Kender).

Auguste Rodin und Hans Arp in der Fondation Beyeler

Eingangsbild (PtolemäusːLe Penseur)
Auf den ersten Blick wirkt die Ankündigung einer Doppel-Retrospektive auf das Werk von Auguste Rodin (1840–1917) und Hans Arp (1886-1966) in der Fondation Beyeler in Riehen sonderbar: Was hat der Grossmeister der Bildhauerei im 19. Jahrhundert, ein französischer Nationalkünstler par excellence, mit dem elsässischen Dadaisten und poetischen Provokateur zu tun? Beim Gang durch die mit 110 Exponaten grandios ausgestattete, von Raphaël Bouvier kuratierte Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen wird die Skepsis etwas aufgeweicht, das Fragezeichen aber bleibt, und unmittelbar stellt sich die Erinnerung an die Konfrontation der Werke von Constantin Brâncusi und Richard Serra ein, das uns 2011 am gleichen Ort als «gewagtes Abenteuer» erschien. Was Rodin und Arp angeht, deren Werke vom 13. Dezember 2020 bis 16. Mai 2021 zu sehen sind, können einige Fakten als Anhaltspunkte für eine künstlerische Zwiesprache dienen. Hans Arp hat Auguste Rodin als Bildhauer unzweifelhaft geschätzt. 1938 ehrte er ihn mit der «Automatischen Skulptur (Rodin gewidmet)», von der in der Ausstellung je eine Version in Gips und Granit zu sehen ist.1952 schrieb er zudem zu Rodins Ehren das Gedicht «Des échos de pérennité», das zwei Jahre später, anlässlich einer Ausstellung in der Galerie von Curt Valentin in New York, unter dem Titel «Rodin» publiziert wurde. Des Weiteren ist die Vermutung berechtigt, dass sich Arp, nachdem er 1906 als Student in Weimar im grossherzoglichen Museum die Ausstellung von erotischen Zeichnungen Rodins gesehen hatte, zu eigenen Arbeiten inspirieren liess. Und sonst? Auf dem Parcours durch die Säle fällt zuerst auf, dass die Exponate auf Sockeln stehen, so dass sie auf Augenhöhe betrachtet werden können. Und den einzelnen Werken ist viel Raum gegeben. Wer hofft, augenblicklich Verwandtschaften oder gar Ähnlichkeiten der Skulpturen aus dem letzten Viertel des 19. und jenen aus der frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu entdecken, wird enttäuscht sein. Ein zweiter Blick offenbart handwerkliche (der gekonnte Umgang mit Gips) und thematische (die Auseinandersetzung mit dem Torso) Affinitäten. Unsere Skepsis gegenüber der Behauptung einer Art künstlerischer Seelenverwandtschaft zwischen Rodin und Arp vermögen sie allerdings nicht aufzuheben. Aber angesichts der grossartigen doppelten Werkschau spielt das keine Rolle.

Zur Ausstellung erschien eine umfangreiche, typografisch eigenwillig gestaltete Publikation mit Texten von Astrid von Asten, Raphaël Bouvier, Catherine Chevillot, Lilien Felder, Tessa Paneth-Pollak und Jana Teuscher in einer deutschen und einer englischen Version.
Raphaël Bouvier (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Rodin Arp. Riehen/Berlin (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag) 2020, 200 Seiten, CHF 67.00/€ 58.00.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
ist hier zu finden.

Illustration: Hans Arp «Ptolemäus III» (1961)/Auguste Rodin «Le Penseur» (1903/!966). (Bild aus der Ausstellung, © Jürg Bürgi, 2020).

Katja Aufleger im Museum Tinguely

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Es ist die erste Einzelausstellung in der Schweiz, welche das Museum Tinguely in Basel der in Berlin lebenden Künstlerin Katja Aufleger (geb. 1983 in Oldenburg) vom 1. Dezember 2020 bis 14. März 2021 ausrichtet. Kuratiert von Lisa Marleen Grenzebach, hat die Schau unter dem Titel «GONE» ihren Mittelpunkt im Vorraum zu Tinguelys beklemmendem Alterswerk «Mengele-Totentanz». Hier fällt zuerst die Videoarbeit «The Glow» von 2019 ins Auge: Auf einer grossen Leinwand tanzen Fische durchs Wasser, dazu hört man ab und zu ein Klackern, das scheinbar das Fischballett begleitet. Nach einiger Zeit ist allerdings klar, dass die akustische Begleitung nur sporadisch ist, und
The Glow
dass es sich bei dem Meeresgetier um kunstvoll gestaltete, mit Angelhaken behängte Köder handelt. Der Film, erläutert der Saaltext, ist eine Montage aus Youtube-Sequenzen, die als Lehrmaterial für Angler gedacht sind. Entsetzen oder mindestens deutliches Unbehagen auslösende Scherze wie die Sache mit dem eleganten, mit tödlichen Haken bewehrte Köderballett sind in Katja Auflegers Œuvre keine Ausnahme. Objekte kommen ganz und gar harmlos daher und entpuppen sich alsbald als gefährliche Gegenstände. Auf Augenhöhe begegnen uns merkwürdig in einander verschlungene farbige Glasgefässe; «Bang!» ist der Titel, der signalisiert, dass wir die hübsch-farbigen, 2013-2016 entstandenen Behältnisse mit den scharfkantigen Hälsen und dem mutmasslich explosiven Inhalt lieber nicht auf unserem Sideboard aufstellen möchten. Es gehört offensichtlich zum Reiz dieses Spiels, dass wir nicht wissen, was wirklich in den Glaskörpern ist. (Unwillkürlich kommt uns Piero Manzonis «Merda d’artista» von 1961 in den Sinn…) Die Sache wiederholt sich im Erdgeschoss, wo «Newton’s Craddle» (2013/2020) angeblich die Bestandteile von Nitroglycerin – Glycerin, Salpetersäure, Schwefelsäure –
Newtonpendel
enthalten. Mit der «Newton-Wiege» oder «Kugelstoss-Pendel» genannten Vorrichtung demonstrierte der französische Physiker Edme Mariotte 1673, dass im elastischen Stoss die kinetische Energie und der Impuls erhalten bleiben. Nun sollen wir uns vorstellen, was geschieht, wenn jemand das explosive Pendel mit den drei 10-Liter-Kolben gleich neben Tinguelys begehbarer «Méta-Maxi-Maxi-Utopia» in Bewegung setzt. Vielleicht ist die Annahme nicht ganz falsch, dass nicht mehr als ein Scherbenhaufen zu befürchten wäre. Aber wer möchte sich darauf verlassen? Das Descarte’sche Zweifeln («dubito ergo sum»), die Ungewissheit der Wahrnehmung ist für die Kunst konstitutiv. Katja Aufleger beherrscht auch subtilere Methoden, Angstlust zu vermitteln: Zwischen den verstörenden Glasgefässen mit dem mutmasslich gefährlichen Inhalt und der Fischköder-Projektion platzierte die Künstlerin einen farbfröhlichen Hexenring aus einer Sammlung etikettenloser Putzmittel-Plasticflaschen. «Die eigentliche Funktion der Flüssigkeiten ist das Entfernen von Schmutz oder im übertragenen Sinne: von Spuren der Vergangenheit», erläutert Kuratorin Lisa Marleen Grenzebach in ihrem aufschlussreichen
«Hexenring»
Katalogbeitrag. Unser Fazit: Katja Aufleger aktualisiert mit ihrem intellektuell aufgeladenen Schaffen die Konzeptkunst, die in der Mitte des letzten Jahrhunderts Ideen und Wahrnehmungen auf neue Art – mit Schrottmaschinen (Tinguely) ebenso wie mit weiss getünchten Galeriewänden (Yves Klein) oder theatralischen Performances – erfahrbar machte, und hebt sie auf eine neue Stufe.

Zur Ausstellung erschien ein raffiniert schlicht gestalteter Katalog, der das bisherige Schaffen von Katja Aufleger über die ausgestellten Werke hinaus umfassend dokumentiert. Die Publikation enthält Beiträge von Roland Wetzel, Lisa Marleen Grenzebach und Quinn Latimer.
Lisa Marleen Grenzebach (Hrsg. für das Museum Tinguely): Katja Aufleger, GONE. Basel/Berlin 2020 (Museum Tinguely/Distanz Verlag). 100 Seiten, CHF 28.00.
Als besonders nützlich erweist sich das Saalblatt, weil es die ausgestellten Objekte nicht nur erläutert, sondern auch beschreibt, wo sie im Museum zu finden sind.

Illustrationen: Porträt (© Andrzej Steinbach); «The Glow» (Filmstill, © Courtesy of the artist, Galerien Stampa, Basel, und Conradi, Hamburg). Bilder aus der Ausstellung: «Newton’s Cradle» und «And he tipped gallons oaf black in my favorite blue» (© Jürg Bürgi, 2020).

Taro Izumi im Museum Tinguely

Dem 1976 geborenen Konzeptkünstler Taro Izumi aus Japan widmet das Museum Tinguely – wegen der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen im Kulturbetrieb mit ungeplanter Verspätung – vom 2. September bis zum 15. November 2020 die erste One-Man-Show in der Schweiz. Izumi gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Künstlern seines Landes. Typisch für ihn hat er das Ausstellungsprojekt in Basel zu einem guten Teil vor Ort und unter Einbezug der krisenhaften Aktualität konzipiert: Den Hauptraum beherrscht eine bis zur Decke reichende, einer Banksafe-Anlage oder einem Archiv ähnliche Konstruktion. Einige der rund 1500 Öffnungen sind geschlossen und mit einem kleinen Messingschild versehen. Darauf ist die Sitzreihe und die Nummer eines Theaterplatzes eingraviert. Hinter den offenen, bislang nicht vergebenen Fächern ist eine kleine Bühne zu erkennen und dahinter ein grosser leerer Zuschauerraum. Der Künstler erklärt, sein Werk sei eine Hommage an die Theater der Welt, in denen seit Monaten nicht gespielt werden darf und in deren Zuschauerräumen eine bleierne Stille herrscht. Er liess deshalb rund 3000 Bühnen anschreiben, sie sollten ihm Tonaufnahmen
Clip aus Presse-Stream 31.8.2020
dieser Stille im Zuschauerraum schicken. Um die 400 Theater gingen auf die Idee ein und stellten die gewünschten Tonkonserven zur Verfügung. Daraus mischte Izumis Team einen Klangteppich, der mit seinem aufdringlichen Rauschen die Halle füllt. (Weder Taro Izumi noch die Kuratorin haben wohl je von Heinrich Bölls satirischer Erzählung «Dr. Murkes gesammeltes Schweigen» gehört. Sie berichtet davon, wie Mitte der fünfziger Jahre, in der analogen Welt des Rundfunks, die Aufnahme eines Vortrags auf Veranlassung des Autors tiefgreifend neu geschnitten werden muss. Auf den am Schluss der Geschichte übrig bleibenden Tonbandresten ist nichts als rauschendes Schweigen zu hören.)

Auch weniger spektakuläre Arbeiten Taro Izumis nehmen die Wahrnehmung in den Fokus. Das geschieht zum Beispiel mit der Ausstellungs-Affiche mit dem Namen des Künstlers und dem Ausstellungstitel «Ex». Die riesigen Lettern wurden mit Bleistift auf die Wand gemalt und anschliessend teilweise wegradiert, sodass nun einige von ihnen mehr erahnt als gelesen werden können. Der schwarze Gummiabrieb wurde zusammengekehrt und zum Teil auch auf dem Boden verteilt – als Leitlinie durch die Ausstellung.

Anderswo setzt der Künstler Videotechnik ein. Und führt sie witzig ad absurdum: Auf einem geteilten Bildschirm ist zu sehen, wie jemand mit einem Finger in einen dicken Pfannkuchen drückt und dabei seine Weichheit erkundet. Gleich daneben wird in gleicher Absicht das Gesicht eines Säuglings bearbeitet – allerdings nicht direkt, sondern indirekt auf dem nachgiebigen Bildschirm eines Laptop-Computers, der die Druckstellen auf dem Gesicht des Babies simuliert.

Wie in diesem Fall ist es ratsam, genau hinzuschauen. Nur so wird die Fülle von Assoziationen und Signalen lesbar, die Taro Izumi bewegen. Besonders stolz ist das Museum, dass es die Werkgruppe «Tickled in a dream … maybe?» zeigen kann. Die erstmals 2017 in Paris präsentierte Gruppe von Skulpturen gibt vor, dass sportliche Aktionen – spektakuläre Fallrückzieher im Fussball zum Beispiel oder sensationelle Dunkings im Basketball – nicht nur grossartigen Ausnahmekönnern vorbehalten sind. Izumis prothesenartige
Tickled in a dream … maybe?
Konstruktionen aus Metall und Holz sollen es auch Otto und Lisa Normalverbraucher ermöglichen, die spektakulären Szenen nachzuempfinden. Das Konzept erinnert an einige hirnrissige Ideen Jean Tinguelys und seiner Freunde in der Gruppe der Nouveaux Réalistes, die in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Echoraum des Dadaismus die Erwartungen des kunstbeflissenen Publikums ad absurdum führten.

Es ist nicht der einzige Moment beim Rundgang durch die Izumi-Schau, wo sich ein Déjà-vu einstellt. Nur: Gilt das nicht auch für zahlreiche andere Kunst-Stücke anderer Künstler – in einer Zeit, in der es keine Tabus mehr gibt, wo alles möglich ist und, dank unbegrenzter technischer Möglichkeiten, alles Mögliche auch gemacht wird?

Insofern gehört Taro Izumi, der seine Ideen, wie heute nicht ungewöhnlich, von einem Mitarbeiterstab umsetzen lässt, in unsere Zeit. «Sein künstlerisches Vorgehen», schreibt Museumsdirektor Roland Wetzel wortreich im Vorwort zum Katalog, «orientiert sich an der Umgebung, in der er sich befindet, am jeweiligen Ort, an dem er sich physisch oder auch virtuell aufhält. Es umfasst als Material ein Spektrum von gefundenen Alltagsobjekten, beobachteten Handlungen bis hin zu medienkritischen Reflexionen und breitet sie in allen denkbaren künstlerischen Disziplinen aus. Izumis Wunderkammer ist die disparate Lebensrealität, die uns heute umgibt. Er überführt sie in neue Sinnbezüge und Zusammenhänge des scheinbaren Unsinns. Mit seinen ‹Bricolages› – dem genuin spielerischen Moment, das all seine Arbeiten auszeichnet – und seiner Offenheit für das Akzidentielle und Minderwertige erinnert an Tinguelys Kunstpraxis.»

Nicht nur dieser Abschnitt, auch andere Texte im Katalog zeugen vom weitgehend vergeblichen Bemühen, diese Art von Kunstschaffen fassbar zu machen. Man hat beim Lesen den Eindruck, da grabe jemand in einer grossen, mit statisch geladenem Styropor-Kügelchen gefüllten Pappschachtel nach dem eigentlichen Inhalt…

Zur Ausstellung gibt es einen Katalog:
Séverine Fromaigeat (Hrsg. für das Museum Tinguely): Taro Izumi. Ex
Berlin 2020 (Hatje Cantz Verlag) 168 Seiten, CHF 48.00/€ 40.00

Illustrationen: Still aus
Video-Stream der Medienpräsentation am 31.8.2020 (oben), «Tickled in a dream … maybe?» (2017, Ausschnitt) © Jürg Bürgi, Basel

Pedro Reyes im Museum Tinguely: Return to Sender

Porträt Pedro Reyes (Lisson Gallery)
Gleich rechts neben dem Eingang hängt zum Auftakt der von Roland Wetzel kuratierten Ausstellung «Return to Sender» eine unscheinbare Schaufel. Ihre Bedeutung erschliesst sich erst, wenn man die Exponate im Vorraum zum «Mengele Totentanz» im Museum Tinguely gesehen und auch gehört hat. Als bisher fünfter zeitgenössischer Kunstschaffender nimmt der Mexikaner Pedro Reyes, geb. 1972, vom 24. Juni bis zum 15. November 2020 mit zwei Werkgruppen den Dialog mit Jean Tinguelys ikonischem Alterswerk auf. Der marxistische Pazifist, der auch gegenüber gewaltbereiten Befreiungsbewegungen Vorbehalte äussert, beschäftigt sich seit Jahren mit den Möglichkeiten, Waffen zu friedlichen Zwecken umzunutzen. Seine mehrteilige Arbeit «Disarm (Mechanized) II» von 2014, die in der aktuellen Ausstellung den grössten Teil des Raums einnimmt, besteht aus einem sechsteiligen Automaten-Orchester, das aus einem ganzen
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Arsenal von Feuerwaffen und ihren Einzelteilen besteht. Da gibt es ein Xylophon aus Gewehrläufen, eine «Kalashniclock» und weitere Schlag-Zeuge, die kraftvoll und witzig das Ende der Waffengewalt herbeitrommeln. (Spontan denken wir an Rolf Liebermanns Büromaschinen-Symphonie «Les Echanges», die 1964 an der Landesausstellung in Lausanne grosses Aufsehen erregte.) Weil Reyes seiner Überzeugung Ausdruck geben möchte, dass seine Installationen nicht allein am Elend der mexikanischen Drogen-Kriege festgemacht werden dürfen, sondern ein globales Problem aufgreifen, baute er im Auftrag des Tinguely-Museums drei Abrüstungs-Leierkästen. Die goldglänzenden Messinggehäuse der Drehorgeln erinnern an altmodische Registrierkassen. Statt der Geldschubladen ragen den Betrachtenden allerdings Schiesseisen entgegen. Die erste dieser «Disarm Music Boxes» spielt auf Läufen der österreichischen Marke Glogg eine Mozart-Melodie, die zweite funktioniert mit italienischem Beretta-Material und lässt Vivaldi erklingen, und die dritte gibt mithilfe von schweizerischen Karabiner-Läufen (Bild unten) ein Lied von Mani Matter zum Besten. Über die Erfolgsaussichten von Reyes’ Bemühungen, dem Weltfrieden mithilfe der Zweckentfremdung von Waffen Vorschub zu leisten, darf man gewiss geteilter Meinung sein: Was für einen Teil des Publikums Ausdruck eines realitätsfernen, romantischen Traums sein mag, ist für einen anderen Teil die poetische Manifestation eines handfesten Engagements. Denn die Schaufel, die da beim Eingang an der Wand hängt, ist nur eines von 1527 Grabwerkzeugen. Unter dem Titel «Palas por Pistolas» sammelte Reyes 2007 zusammen mit den Behörden von Culiacán,
KarabinerːMatter
der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Sinaloa, bei der Bevölkerung Waffen ein und tauschte sie gegen Haushalts- und Elektrogeräte. Die Gewehre und Pistolen wurden eingeschmolzen und zu 1527 Schaufeln geformt, mit denen eine gleiche Anzahl von Bäumen gepflanzt wurde. Auch die Schaufel aus der Ausstellung soll ihren Zweck erfüllen, indem sie im November direkt vor dem Museumseingang beim Pflanzen einer Kastanie eingesetzt wird.

Zur Ausstellung publizierte das Museum in einer englischen und einer deutschen Fassung in der Form eines Reglements der Schweizer Armee eine Broschüre, die ein ausführliches Interview von Roland Wetzel mit dem Künstler enthält.
Museum Tinguely (Hrsg.): Pedro Reyes. Return to Sender. (Basel, 2020) 26 Seiten.

Illustrationen: Porträt Pedro Reyes (Ausschnitt, Courtesy Lisson Gallery). Alle übrigen:
© Jürg Bürgi, Basel 2020 (Bilder aus der Ausstellung).

Das Museum Tinguely zelebriert «Amuse-Bouche, den Geschmack der Kunst»

Ausstellung Logo
Nach «Belle Haleine – Der Duft der Kunst» (2015) und «Prière de toucher. Der Tastsinn der Kunst» (2016) zelebriert Annja Müller-Alsbach vom 19. Februar bis zum 17. Mai 2020 im Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «Amuse-Bouche. Der Geschmack der Kunst» den dritten menschlichen Sinn. Die Kuratorin möchte dem Publikum mehr als Anschauungsmaterial zum Thema bieten, indem sie mittwochs, samstags und sonntags einstündige interaktive Führungen mit Geschmackserlebnissen organisiert. Zudem gibt es zahlreiche Workshops mit Live-Performances teilnehmender Künstlerinnen und Künstler. (Mehr darüber: https://www.tinguely.ch/de/veranstaltungen.html). Klar ist aber, dass sich die Ausstellung bei der Mehrheit der Besucherinnen und Besucher bewähren muss, die keine Zeit oder keine Lust haben, sich Zeit für museale Geschmackserlebnisse zu reservieren. Und diese Probe besteht sie mit Bravour. Die Exponate, welche die Kuratorin aus den entlegensten Winkeln der Kunstwelt zusammengetragen hat, sind nicht chronologisch geordnet, sondern folgen den Geschmacksrichtungen – bitter, sauer, salzig, süss und «unami» (jap. für herzhaft-würzig oder schmackhaft) – und erweitern das Spektrum sogar noch. Gleich am Anfang wird uns der «Geschmack der Begierde» vorgeführt. Da schnellt aus einem Loch in der Wand eine lange Zunge aus einem Loch in der Wand (Urs Fischer, «Noisette», 2009) und auf dem Bildschirm eines Tablet-Computers flimmert
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eine Darstellung des «Caritas-Romana-Motivs» von Caspar de Crayer (1584-1669). (Die von Valerius Maximus um 30 n. Chr. aufgezeichnete Sage beschreibt, wie Pero ihrem zum Tod durch Verhungern verurteilten Vater Cimon die Brust reicht.) In Alexandra Meyer Inszeniert die Laktationsszene mit lauten Sauggeräuschen und begleitet sie mit einem kleinen Butterberg aus tierischem Milchfett.

Gleich daneben ist ein Raum der Eat-Art gewidmet, die von Daniel Spoerri (geb. 1930) bis heute mit Gusto angeführt wird. Seine «Fallenbilder», auf denen er die Überbleibsel von Mahlzeiten von Freunden und Freundinnen auf der Tischplatte festklebte und an die Wand hängte, gehören zum eisernen Bestand der Objektkunst des Nouveau Réalisme. Nicht fehlen darf in der Ausstellung auch Spoerris und Tony Morgans unvergesslich-witziger Kurzfilm «Resurrection», der – so Spoerri in seinen Erinnerungen – «zu Beginn einen frischen Kackhaufen in Grossaufnahme» zeigt, «der durch die Därme (Röntgenbild) in den Magen zurückkehrt, wo sich die gekauten Fleischstücke sammeln, die aus dem Mund als Steak herauskommen, das man rückwärtsgehend zum Metzger bringt, der es im Schlachthof wieder dem Ochsen anheftet, der am Schluss des Films, zu neuem Leben erweckt, auf einer sonnigen und blühenden Wiese grast und dabei natürlich einen grossen Fladen fallen lässt.»
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Auch Meret Oppenheim machte sich mehrfach in der Küche zu schaffen. «Bon appétit, Marcel!» nannte die Baslerin 1966 ihr Menü für den leidenschaftlichen Schachspieler Marcel Duchamp: Auf einem Wachstuch-Schachbrett servierte sie ihm, sorgfältig auf einem weissen, achteckigen Teller mit, Serviette, Messer und Gabel arrangiert, die vorn bis auf die Wirbelsäule (eines Rebhuhns) aufgeschlitzte gebackene Teig-Königin.

Sieben Jahre zuvor hatte die Künstlerin in Bern für einen Freundeskreis – «zwei Frauen und drei Männer essen von einer nackten Frau» ein «Frühlingsfest» ausgerichtet. Die Künstlerin vergoldete Gesicht und Hals des mit einem Beruhigungsmittel in Schlaf versetzten Modells. Sie arrangierte, wie Ralf Beil in seinem Katalogbeitrag schreibt, allerlei Leckereien auf dem Körper – «beginnend mit dem Hors d’oeuvre auf Schenkeln und Unterleib, endend mit Himbeer- und Schokoladenschlagsahne auf den Brüsten.» Als er davon hörte, soll André Breton die befreundete Künstlerin um Erlaubnis gebeten haben, das Festessen im gleichen Jahr anlässlich der Ausstellung der EROS («Exposition InteRnatioOnale du Surréalisme») in der Galerie Cordier nachzustellen. Wie zahlreiche Bilder zeigen, fand der Event in der französischen Hauptstadt als Schickeria-Gaudi statt. Das üppig mit Speisen belegte Modell war mit einem Gazeanzug bedeckt, man bediente sich wie von einem kalten Buffet und ass mit Gabel und Messer von Tellern. Vom Frühlingskult, den Meret Oppenheim im Sinn gehabt hatte, war nichts zu spüren. Und glaubt man ihren Briefen, war ihr die auf die Zeit der Samurai zurück gehende japanische Tradition des Sushi-Essens von einem nackten Frauenkörper, Nyotaimori genannt, nicht bekannt. (Im Rahmen der Ausstellung soll das Frühlingsfest nun unter Mitwirkung von Chocolatier Fabian Rimann, Sensoriker Patrick Zbinden und Schauspielerin Sibylle Mumenthaler am 21. März 2020 im Museum Tinguely
eine Neuauflage erleben.)

Spoerri Experiment (2)
Ganz neu ist dagegen Daniel Spoerris Eat Art-Experiment «Nur Geschmack anstatt Essen». Am Interdisziplinären Symposium zu Geschmack und Esskultur, das der Vorbereitung der Ausstellung diente, erstmals durchgeführt, wird der Versuch nun sechs Mal wiederholt. «Wir fangen als Vorspeise mit einem Hühnerbrühwürfel an», schreibt Speorri in seiner Ankündigung. «Als erster Gang werden ein Fischwürfel, ein Spinat- und ein Tomatenwürfel gemeinsam serviert.» Die Würfel enthalten in Gelatine aufgelöste Essenzen. Und um die Fokussierung auf den Geschmack zu erreichen, sind die Würfel alle schwarz gefärbt. «Die Erfahrung wird zeigen, wie viele dieser Geschmäcke sofort und eindeutig erraten werden.»

In der Fülle der Exponate ist uns, unter vielen anderen, die Arbeit des nigerianischen Künstlers Emeka Ogboh aufgefallen. Wo immer ausserhalb Afrikas eingeladen wird, braut er vor Ort nach Kontakten mit Menschen aus Afrika ein Schwarzbier, das «Sufferhead Original». Begleitet wird die «Basel Edition» von einem witzigen Kurzfilm, der geschickt mit Klischee-Vorstellungen spielt: Zwei Alphornbläser in Trachten musizieren vor einem eindrücklichen Bergpanorama und begeben sich in der Abenddämmerung zu einer Berghütte, wo sie zu ihrer grossen Überraschung auf eine fröhlich Schar dunkelhäutiger Menschen beim Fondue-Essen und Schwarzbier-Trinken treffen, die sie ohne Umstände zum mitmachen einladen, während draussen eine Herde brauner und weisser Schafe grasen.
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Während Ogbohs Arbeit so viel Hoffnung formuliert, dass die Betrachtenden nicht umhin kommen, sie als Utopie zu hinterfragen, hält sich Sam Taylor-Johnson in «Still Life» von 2001 knallhart an die Realität: Sein Film zeigt eine Schale voll mit Früchten – Äpfel, Birnen, Trauben, Pfirsiche. Wir sehen zu, wie das Obst langsam verfault und vom Schimmel pelzig überwältigt wird und ihm allerlei Ungeziefer zum Schluss den Rest gibt.

Ja, es gibt sehr viel zu entdecken in dieser rundum anregenden und sorgfältig gestalteten Ausstellung. Wer tiefer in die Wissenschaft des Geschmacks und in den Geschmack der Kunst eindringen möchte, erhält mit der zur Ausstellung erschienenen Publikation, die nach einem einleitenden Aufsatz der Kuratorin das vorbereitende Symposium dokumentiert, einen weit gefassten Überblick über das Thema. (Das Taschenbuch ist in einer deutschen und einer englischen Version erhältlich.) Wer nicht so viel Aufwand treiben möchte, ist mit dem zweisprachigen Saaltext-Heft umfassend orientiert.

Museum Tinguely, Basel (Hrsg.): Amuse-bouche. Der Geschmack der Kunst. Mit Beiträgen von Antje Baecker, Ralf Beil, Marisa Benjamim, Felix Bröcker, Elisabeth Bronfen, Karin Leonhard, Thomas Macho, Wolfgang Meyerhof, Annja Müller-Alsbach, Jeannette Nuessli Guth, Maren Runte, Charles Spence, Daniel Spoerri, Paul Stoller, Roland Wetzel, Stefan Wiesner. Redaktion: Lisa Anette Ahlers. Berlin 2020 (Hatje Cantz Verlag), 144 Seiten, EUR 28.00.

Illustrationen: Caspar de Crayer: Caritas Romana (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gaspar_de_Crayer_-_Caritas_Romana_(Prado).jpg), Meret Oppenheim: Bon appétit, Marcel! © Pro Litteris, Zürich. Foto: Chris Puttere. Daniel Spoerri: Nur Geschmack anstatt Essen. Bild von der Verköstigung am Symposium Amuse-Bouche, 9. April 2019, Museum Tinguely (Scan aus der Publikation). Sam Taylor-Johnson: Still Life, 1991 (Filmstill), © Sam Taylor-Johnson, All Rights Reserved 2020 ProLitteris, Zürich.

100 Jahre, 20 visionäre Interieurs im Vitra Design Museum

Signet klein
An 20 beispielhaften Interieurs zeigt Kurator Jochen Eisenbrand vom 8. Februar 2020 bis 28. Februar 2021 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein wie sich in den letzten hundert Jahren die Wohnformen in den westlichen Industrieländern verändert haben. Nicht als Stilgeschichte, sondern als Ideengeschichte soll die überaus anregend gestaltete Ausstellung verstanden werden. Sie beginnt im Erdgeschoss mit Beispielen aus der Gegenwart, in der die Welt der Arbeit und die Welt des Wohnens nicht mehr streng getrennt sind, und der verfügbare Wohnraum knapp und deshalb teuer ist. Kein anderes Unternehmen hat die zeitgenössische Wohnwelt so stark geprägt wie IKEA. Seit 1951 wirkt der Katalog des schwedischen Einrichtungshauses, von dem inzwischen jedes Jahr 200 Millionen Exemplare gedruckt werden, in 52 Ländern bei der Inneneinrichtung mit. Mit ihren preiswerten Produkten, so ein Text in der Ausstellung, löst IKEA «das Versprechen der Avantgarde der Moderne ein, gut gestaltete Produkte für die Massen verfügbar zu machen». Diese lobenswerte Demokratisierung wurde nicht zuletzt durch tiefe Preise erreicht, was die Möbel zum blossen Konsumgut machte, das spontan gekauft und ebenso spontan ersetzt werden kann. Weitere Beispiele im ersten Ausstellungsbereich befassen sich mit dem faszinierenden Versuch eines spanischen Gestalter-Teams, auf 33 Quadratmetern eine Familienwohnung einzurichten, und mit zwei grundverschiedenen Konzepten, alte, nicht oder nicht mehr zum Wohnen geeignete Bauten neu zu nutzen.

Im zweiten Saal, der an fünf exemplarischen Interieurs den gesellschaftlichen Aufbruch seit den 1960er-Jahre vorführt, dominiert auf den ersten Blick die Kollektion des avantgardistischen Mailänder Designkollektivs Memphis, die der Modeschöpfer Karl Lagerfeld in seiner Wohnung in Monte Carlo von der Innenarchitektin Andrée Putman arrangieren liess. Die dreiste Farbigkeit der geometrischen Elemente und die an einen Boxring erinnernde Sitzlandschaft wirken wie eine dadaistische Provokation, ihr Gebrauchswert ist allerdings gering. Kein Wunder, liess Lagerfeld das Ensemble nach wenigen Jahren versteigern. Bis heute in Gebrauch ist hingegen das bereits in den ersten 1970er-Jahren vom japanischen Architekten Kisho Kurakawa errichtete Kapsel-Hotel in Tokio. Die einheitlich acht Quadratmeter grossen und 2,3 Meter hohen Zellen sind komplett eingerichtet. Beispielhaft für die Zeit – und darüber hinaus – war auch Andy Warhols «Silver Factory». Gebäude im New Yorker Stadtteil SoHo, die als Werk- und Lagerhallen ausgedient hatten, nutzten Künstler als Ateliers. Der exzentrische Andy Warhol liess 1964 eine ehemalige Hutfabrik an der East 47th Street komplett mit Silberfolie auskleiden und nutzte den weitläufigen Raum nicht nur zum Arbeiten, sondern auch zum Wohnen und als Treffpunkt für seine bizarre Gefolgschaft.
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In Verbindung mit der genialen Vermarktung seines Lebensstils machte Warhol das Leben im Loft zum Hype. Weniger ein reales neuartiges Wohngefühl als vielmehr eine beispielgebende Ästhetik jener Zeit vermittelt die höhlenartige Wohnlandschaft «Phantasy Landscape», die der dänische Designer Verner Panton 1970 im Auftrag des Chemiekonzerns Bayer für die Kölner Wohnausstellung «Visiona 2» entworfen hat. Ein Nachbau des bunten Interieurs, das alle traditionellen Vorstellungen einer Wohnung über den Haufen warf, steht während der Ausstellung im Feuerwehrhaus.
Die im Saal 3 unter dem Rubrum «Natur und Technik» versammelten Wohnmodelle der 1950er-Jahre führen uns in die Welt des grenzenlosen Fortschrittsglaubens: Ernstgemeint und unkritisch im «House of the Future» der «Ideal Home Exhibition» in London 1956, witzig veralbert in Jacques Tatis Film «Mon Oncle» über die voll automatisierte «Villa Arpel». Andere Konzepte, Innen und Aussen, Interieur und Natur zu verbinden, wirkten weit nachhaltiger. Am radikalsten ging Bernard Rudofsky (1905-1988) in seinem Wohngarten für den Bildhauer Costantino Nivola vor, in dem er freistehende Wände und – als Wohnraum – eine Pergola aufstellte, die im Sommer von Glyzinien überwuchert war. Weniger radikal versuchte die brasilianische Architektin Lina Bo Bardi 1953 ihre «Casa de Vidro» in die «natürliche Ordnung» einzufügen, indem sie die Fenster bis zum Fussboden zog und damit die Natur ins Haus holte.

Einzigartig war das allerdings nicht, wie im vierten Raum augenfällig wird, wo Ludwig Mies van der Rohes (1886-1969) Brünner «Villa Tugendhat» präsentiert wird. Als der letzte Direktor des Bauhauses 1928 den Auftrag für den Bau erhielt, erfüllte sich der Traum jedes Architekten: Das Hang-Grundstück in einem Villenquartier der mährischen Hauptstadt war riesig, die Begeisterung der Auftraggeber für seine Ideen fast grenzenlos, und ihre finanziellen Ressourcen ebenso. Das machte es möglich, dass Mies nicht nur konstruktiv Neuland betreten konnte, indem er als Tragkonstruktion ein Stahlskelett wählte, sodass den Wänden keine statische Funktion mehr zukam. So konnte er zum Park hin vom Boden bis zur Decke Glasfronten einbauen, die zudem versenkbar waren, sodass die dahinter liegenden Räume im Sommer zu einer Art Balkon werden konnten. Die Errungenschaften der
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Villa Tugendhat, von der Raumaufteilung bis zur vorwiegend speziell entworfenen Inneneinrichtung und bis zu der, auch nach heutigen ökologischen Massstäben, modernen Zentralheizung haben ihre Vorbildfunktion bis heute nicht verloren. Während die gleich nebenan präsentierte Prager «Villa Müller», die der Wiener Architekt Adolf Loos in der gleichen Zeit entwarf ebenso wie die zusammen mit der Wiener «Villa Beer» von Josef Frank und Oskar Wlach ihren Nachruhm vor allem der neuartigen Aufteilung der Räume verdanken, ist die Villa Tugendhat, nach einer bewegten Nutzungsgeschichte seit 2012 in sorgfältig restauriertem Zustand der Öffentlichkeit zugänglich – ebenso wie die «Villa Müller» in Prag).

Besonders interessant an der aktuellen Ausstellung des Vitra Design Museums sind die Querbezüge, die über die Zeitspanne von hundert Jahren sichtbar werden. Es gibt Wohnwelten, die von 1920 bis heute allgemein als zeitgenössisch akzeptiert sind, und andere, die höchstens individuell als wertvoll gelten. Kritisch ist anzumerken, dass das gleichwertige Nebeneinander der beiden Konzepte – der von Wenigen als lebenswert empfundenen Wohnwelten und den von Vielen allgemein anerkannten Prinzipien – einen Eindruck von Beliebigkeit vermittelt, als hätten die Ausstellungsmacher selten gezeigte Stücke aus der Sammlung wieder einmal herzeigen wollen. Der Katalog, der ein viel breiteres Spektrum von beispielhaften Interieurs abdeckt, ist geeignet, diesen Eindruck zu korrigieren.

Die Ausstellung wird begleitet von einer Fülle von Führungen, Vorträgen, Workshops und Diskussionen. Das Programm steht auf der Website des Museums und
hier zur Verfügung.

Den Katalog zur Ausstellung gibt es in einer deutschen und einer englischen Version.

Kries, M., Eisenbrand, J. (Hrsg.): Home Stories. 100 Jahre, 20 visionäre Interieurs.
Mit Beiträgen von Jochen Eisenbrand, Joseph Grima, Anna-Mea Hoffmann, Jasper Morrison, Matteo Pirola, Alice Rawsthorn, Timothy Rohan, Penny Sparke, Adam Štěch, and Mark Taylor; Interviews mit Nacho Alegre, Charlap Hyman & Herrero, Ilse Crawford, Sevil Peach u.a.
Weil am Rhein 2020 (Vitra Design Museum), 320 Seiten, €59.90.

Illustrationen: Oben: Ausstellungssignet (Casa de Video), Mitte: Verner Panton, Phantasy Landscape. Unten: Villa Tugendhat, Gartenfront. Foto © Jürg Bürgi, Basel 2020.

Edward Hopper in der Fondation Beyeler: Ein neuer Blick auf Landschaft

Edward Hopper (1882-1967), dem Erfinder verstörender, mit wartenden Menschen besetzter amerikanischer Interieurs, widmet die Fondation Beyeler vom 26. Januar bis (dank der Corona-Pandemie) 26. Juli 2020 eine grosse Einzelausstellung. Überraschend hat sie aber nicht, wie zu erwarten wäre, die Beklemmung im Fokus, welche die Bilder des gelernten Gebrauchsgrafikers evozieren, vielmehr stellt Kurator Ulf Küster (In Zusammenarbeit mit dem New Yorker «Whitney Museum of American Art») unter dem Titel «Ein neuer Blick auf Landschaft» die Darstellungen der Natur – Wald, Wiesen, Wasser – in den Mittelpunkt.
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Ausgehend von dem als Dauerleihgabe dem Museum anvertrauten Gemälde «Cape Ann Granite» von 1928 führt der thematisch angelegte Parcours an kraftvoll gemalten Ansichten aus den Neuengland-Staaten vorbei. Während auf einem Teil der insgesamt 65 Exponate aus den Jahren 1909 bis 1965 die unberührte Natur die Hauptrolle spielt, ist auf anderen die menschliche Präsenz offenkundig – auch wenn sie nicht offen in Erscheinung tritt: Strassen, Häuser, Telegrafenmasten, Eisenbahnen, Autos zeugen von Eingriffen des Menschen. Ganz auf Personen verzichten, mochten die Ausstellungsmacher allerdings nicht. Das Spätwerk «Cape Cod Morning» von 1950, das eine Frau in erwartungsvoller Haltung im Erker eines traditionellen Holzhauses zeigt, ist prominent auf der Rückseite des Katalogs platziert. Und auch die beklemmend-einsame Mobil-Tankstelle («Gas», 1940) auf der Umschlag-Vorderseite ist belebt. Der Besitzer, offenbar schon für den Feierabend umgezogen, ordnet in der Abenddämmerung die Schläuche, um danach seinen Betrieb zu schliessen und das Licht zu löschen. Das Bild, nicht nach der Natur wie viele andere, sondern aus der Beobachtung mehrerer Tankstellen rund um den Ferienort Truro in Massachusetts gemalt, ist beispielhaft für die Art, wie Hopper
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in seinen Gemälden Geschichten, nein, nicht erzählt, sondern bloss anreisst. Er stellt eine Szenerie und ihre Stimmung zur Verfügung und überlässt den Betrachtenden alles Weitere. Der Amerika-affine Filmemacher Wim Wenders (z.B.. «Paris Texas», «Don’t Come Knocking») machte sich diese Offenheit in seinem Ausstellungsbeitrag, dem 3D-Kurzfilm «Two or Three Things I Know about Edward Hopper» zunutze, indem er sich von Stimmungen und Motiven in Bildern Hoppers inspirieren liess und sie zu einer ebenso handlungsarmen, im Vagen balancierenden eigenen Geschichte destillierte. Auch Alfred Hitchcock ( zum Beispiel in «Psycho») und andere Protagonisten des amerikanischen Kinos liessen sich direkt von Hopper inspirieren. Und im Roman «Lolita» von Vladimir Nabokov gibt es eine Szene, die direkt Bezug auf Hoppers Tankstellen-Bild «Gas» Bezug nimmt, wie der Literaturwissenschaftler Will Norman 2013 in einem Vortrag feststellte (https://journals.openedition.org/transatlantica/8462): «We had stopped at a gas station, under the sign of Pegasus, and [Lolita] had slipped out of her seat and escaped to the rear of the premises while the raised hood, under which I had bent to watch the mechanic's manipulations, hid her for a moment from my sight».

Wim Wenders und Kurator Ulf Küster kamen an der Medien-Präsentation der Ausstellung mehrfach auf den «Sog» zu sprechen, den Hoppers Bilder auf die Betrachtenden ausübten. Tatsächlich ist diese Wirkung vor allem den Darstellungen zuzuschreiben, in denen Menschen präsent sind. Aber auch Hoppers anscheinend von dunklen Geheimnissen erfüllten Wäldern ist diese Faszination eigen. Tatsächlich hat sich der Maler Zeit seines Lebens intensiv mit der menschlichen Psyche befasst. Er las die Schriften von C.G. Jung und Sigmund Freud und beschäftigte sich mit seinen eigenen Handicaps, darunter eine immer wieder auftretende Mal-Hemmung. «Kunst», schrieb Hopper 1939 in einem Brief, «ist in so hohem Mass ein Ausdruck des Unbewussten, dass mir scheint, dass sie dem Unbewussten das Wichtigste verdankt und das Bewusstsein nur eine untergeordnete Rolle spielt.»

Zur Ausstellung erschien ein Katalog in deutscher und englischer Version mit Texten von Erika Doss, Ulf Küster, David Rubin und Katharina Rüppell.
Küster, U. (Hrsg.): Edward Hopper. Ein neuer Blick auf Landschaft. Riehen/Berlin 2020 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag), 148 Seiten € 58/CHF 62.50.

Kurator Ulf Küster schrieb zudem eine Hopper-Monografie.
Küster, U. Edward Hopper: A – Z. Berlin 2020 (Hatje Cantz Verlag)120 Seiten, 40 Abb. € 18.00/CHF 19.90.

Illustrationen: Cape Ann Granite (1928) © Heirs of Josephine Hopper/2019 ProLitteris, Zürich. Foto: Christie’s (oben)
Gas (1940) © Heirs of Josephine Hopper/2019 ProLitteris, Zürich. Foto: ©2019 Digital Image. The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence.

Len Lye, der «Mouvemnet Composer», im Musem Tinguely

Das Museum Tinguely in Basel wird einmal mehr seinem Ruf gerecht, den Horizont seines Publikums mit sorgfältig präparierten Überraschungen zu erweitern: Vom 23. Oktober bis zum 26. Januar 2020 präsentiert das Haus eine umfassende Schau auf das in Europa kaum bekannte Werk des aus Neuseeland stammenden Multimedia-Avantgardisten Len Lye (1901-1980). Unter dem Titel «Len Lye – Motion Composer» sind, chronologisch geordnet, im Erdgeschoss des Mario-Botta-Baus über 150 Werke des Trickfilm-Pioniers und Kinetikers zu sehen. Schon im Vorraum steckt Kurator Andres Pardey den Rahmen zwischen Film und kinetischer Skulptur ab. Das grazil schwingende Bündel feiner Stahlstäbe von «Fountain» steht im Vordergrund und dahinter läuft der 1959 im Auftrag der UNO gedrehte Film «Fountain of Hope». Die Skulptur gehört zu Len Lyes bekanntesten Werken – nicht zuletzt, weil es davon mehrere Varianten gibt. Sie wurde im Frühling 1961 im Amsterdamer Stedelijk Museum in der epochemachenden Ausstellung «Bewogen Beweging» von Pontus Hultén gezeigt, die der kinetischen Kunst zum Durchbruch verhalf. Jean Tinguely war in der
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Schau, die noch im gleichen Jahr nach Stockholm und später ins dänische Humlebæk weiter zog, mit nicht weniger als 28 Werken präsent. Die gemeinsamen Interessen von Lye und Tinguely für die kinetische Kunst, die Breite ihres Werks von feingliedrigen Konstruktionen bis zu monumentalen Formaten, ihr Interesse für performative Elemente, Theater und Film seien für ihn der Ausgangspunkt der Arbeit an der Ausstellung gewesen, wird Andres Pardey in einem Pressetext zitiert. Und Evan Webb, Direktor der Len Lye Foundation meinte: Tinguely und Lye repräsentierten «die entgegengesetzten Enden der kinetischen Kunst». Es sei deshalb von grossem Wert, die beiden wichtigen Künstler zusammen zu zeigen.

Dass Lye eine seiner Skulpturen in einem Film auftreten liess, war allerdings eine Ausnahme. Der vielfältig künstlerisch begabte Neuseeländer, der in einfachen Verhältnissen aufwuchs, zeichnete viel und stellte sich dabei vor, dass man nicht nur Musik, sondern auch Bewegungen komponieren könnte. Seine erste künstlerische Ausbildung erhielt er in der Heimat. Später brachte ein Aufenthalt in Samoa den wenig mehr als Zwanzigjährigen in Kontakt mit der Kunst von Ureinwohnern, was ihn tief beeindruckte. In Sydney, wo er 1922 bis 1926 lebte, entstand das Totem und Tabu-Skizzenbuch, das als Faksimile einen der drei Teile des Katalogs darstellt. «Totem und Tabu», Sigmund Freuds Auseinandersetzung mit dem «Seelenleben der Wilden und der Neurotiker» aus dem Jahr 1913 half Lye den Zugang zur indigenen Kunst der Maori, der Samoaer, der Aborigines, aber auch afrikanischer Völker zu finden. In der Ausstellung hängen gross- und kleinformatige Gemälde mit Motiven aus diesem Fundus, und der Zeichentrickfilm «Tusalava» veranschaulicht eindrücklich die inspirierende Kraft dieser Zeichnungen.

1926 zog Lye von Sydney nach London. Die Überfahrt finanzierte er, indem er einem Seemann für fünf Pfund die Papiere abkaufte und als Heizer auf dem Dampfer Euripides anheuerte. In der britischen Hauptstadt begann er als Bühnenarbeiter, und im Jahr darauf ist er bei einer Produktionsfirma für Werbe-Trickfilme beschäftigt und lernt das die Grundlagen des Animationsfilms. 1928 gehörte er zur Künstlergruppe «Seven and Five Society». Mitglieder der 1919 gegründeten Vereinigung waren sieben Maler und fünf Bildhauer, darunter ab 1924, als sie sich avantgardistisch ausrichtete, Ben Nicholson (1894-1982), Henry Moore (1898-1986) und Barbara Hepworth (1903-1975). Als Mitglied des exklusiven Klubs etablierte sich der Neuseeländer in der Avantgarde, die enge Beziehungen zu den europäischen Modernisten pflegte. Seinen Ruf als feste Grösse festigte er durch seine vielseitigen künstlerischen Interessen: er zeichnete und skizzierte «Doodles», er malte abstrakte Bilder nach Motiven der Stammeskunst, er entwarf Buchumschläge und befasste sich intensiv mit den handwerklichen Erfordernissen der Buchgestaltung, und er erfand – 1932 – die neue Technik der «Drawn-on-film animation».


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Die Ausstellung präsentiert mehrere dieser innovativen Werke, die alle durch ihre fröhliche Farbigkeit und ihren mit der Begleitmusik koordinierten Rhythmus brillieren. Für uns Heutige ist es erstaunlich, dass grosse Konzerne, darunter der Ölmulti Shell und Regierungsstellen wie die Britische Postverwaltung diese Experimente finanzierten. Sie erhielten dafür ganz ungewöhnliche Werbefilme, die in den Vorprogrammen der Kinos ein Millionenpublikum erreichten. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs produzierte Lye Propagandafilme für die britische Regierung und schrieb sein Kunst-Manifest «A Definition of Common Purpose».

1944 reiste Lye auf Einladung des Dokumentarfilmers Richard de Rochemont in die USA, um einige Kurzfilme zu machen. Fortan lebte und arbeitete er in den USA, vor allem in New York, wo er Trickfilme produzierte und an mehreren Universitäten als Dozent wirkte. 1947 übertrug er die Idee des kameralosen Films auf die Fotografie und schuf eine Serie von Fotogrammen, mit denen er seine Freundinnen und Freunde aus der Kunstszene in Szene setzte. Mit dem preisgekrönten, in schwarzen Vorspannstreifen gekratzten «Free Radicals» beendete Lye seine Karriere als Experimentalfilmer. Fortan fokussierte er auf die Gestaltung von «Tangible Motion Sculptures» oder kurz «Tangibles», wie er seine kinetischen Skulpturen nannte. Sie bilden den zweiten Schwerpunkt der Ausstellung im Museum Tinguely. Die faszinierenden, von Elektromotoren angetriebenen programmierte Bewegungsabläufe zeigenden Maschinen, von denen er in kurzer Zeit etwa 20 verschiedene Modell skizzierte, erfüllten für ihn den Traum vom «Malen mit Bewegung». Ihre sorgfältig, mit Unterstützung von Ingenieuren gestalteten Bewegungsabläufe erinnern mit schnellen und ruhigen Phasen an musikalischen Kompositionen oder ein Ballett auf einer Bühne. Lye veränderte seine ersten Entwürfe und verfeinerte die Abläufe und vor allem das Format, das er sich meist sehr gross vorstellte. Zu Lebzeiten – Len Lye starb 1980 an Leukämie – blieben diese Ideen aus Mangel an technischem Know-how und an finanziellen Mitteln liegen. Später begannen Ingenieure im Auftrag der Lye-Foundation in Neuseeland damit, die Visionen des Künstlers umzusetzen.

Alles in allem ist die Ausstellung «Len Lye – Motion Composer» ein grossartiges Highlight des Basler Kunst-Herbsts und -Winters. Es lohnt sich, genügend Zeit einzuplanen, um die Filme und die Maschinen-Skulpturen anzusehen und auch die zahlreichen andern Werke zu würdigen.

Zur Ausstellung erschien, in einer deutschen und einer englischen Version eine Publikation in drei Bänden. Der erste ist als Faksimile des «Totem & Taboo Sketchbook» gestaltet, der zweite ist als Werkkatalog konzipiert und im dritten Teil sind Texte über die Ausstellung und über das Werk von Len Lye versammelt. Pardey, A. (Hrsg. für das Museum Tinguely): Len Lye – Motion Composer. Heidelberg 2019 (Kehrer Verlag). CHF 58.00 (im Museumsshop und online.

Illustrationen: Oben Len Lye 1979, © Robert Del Tredici, Copyright Visual Arts-Cova-Daav, 2019. Unten: Filmstill aus «A Colour Box»1935 © Courtesy Len Lye Foundation.

Rebecca Horns «Körperphantasien» im Museum Tinguely

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1944 in Michelstadt im Odenwald geboren, gehört Rebecca Horn heute zu den bekanntesten Künstlerinnen ihrer Generation. Ihrer stark körperbezogenen Kreativität gilt eine von Sandra Beate Reimann kuratierte Retrospektive im Museum Tinguely in Basel. Die Schau unter dem Titel «Körperphantasien» ermöglicht vom 5. Juni bis zum 22. September 2019 einen Überblick über das mehr als 40 Jahre umfassende Kunstschaffen der Deutschen, die zu Beginn ihrer Karriere lange in den USA gelebt hat. Erstmals Aufsehen erregte Horn, als sie 1972, eingeladen von Harald Szeemann, an der documenta 5 in Kassel erste Arbeiten präsentierte. Das war eine Zeit, in der die Öffentlichkeit mit freizügigen Darstellungen und ausgefallenen Ideen relativ leicht zu erschrecken war. Heute, da das Publikum kaum mehr zu provozieren ist, dokumentiert die thematisch gegliederte Basler Ausstellung, dass Horns frühe Erfolge alles andere als Eintagsfliegen waren. Vielmehr erweist sich ihre hartnäckige Suche nach gültigen Formen der Darstellung ihrer körperlichen und seelischen Befindlichkeit als nachhaltiges Konzept. Enthüllen, Blossstellen und Verbergen des Körpers, die Erforschung der «nackten Existenz» und die adäquate Abbildung der erlittenen Traumata durch ihre Isolation in einem Internat oder in einem Tuberkulose-Sanatorium beschäftigen Rebecca Horn während ihres ganzen Künstlerlebens. Sie fand dafür eigenständige Metaphern, die sich auf vielfältige Weise abwandeln liessen.

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Das zeigt sich schon im ersten Kapitel der Ausstellung, das den Varianten des Fliegens und Flatterns gewidmet ist. Die hier versammelten Arbeiten beschäftigen sich mit den Möglichkeiten, die Flügel verleihen. Mit dem «Weissen Körperfächer» (1972), zeigt Horn in einem Film, wie Flügel auch zur Verhüllung dienen können, wie sie uns ermöglichen, uns auf uns selbst zurückzuziehen, in einen Kokon einzuspinnen. Mit ihrer Hilfe kann man sich auch dem (illusorischen) Gefühl hingeben, auf und davon zu fliegen, wie es Ikarus mit fatalen Folgen versuchte. Da gibt es einen motorisierten blauen Falter («Schmetterling im Zenit», 2009), der in seinem Käfig eifrig umher flattert und doch nicht vom Fleck kommt. Und da versucht ein Koffer («Fluchtkoffer», 2013), an einer langen Stange auf- und abfahrend, sich fliegend davonzumachen. Eine zweite Werkgruppe summiert die Kuratorin unter dem Begriff «Zirkulieren». Auch hier geht es mit der frühen Arbeit «Überströmer» (1970) um den menschlichen Körper, genauer: um den Blutkreislauf, der in der Form von Schläuchen, durch die eine rote Flüssigkeit gepumpt wird, zum Kleidungsstück wird. Im Zentrum des Themas steht die Installation «El Rio de la Luna» von 1992. Wir sehen ein raumgreifende System aus Bleiröhren, durch die von einem zentralen, mit Trichtern versehenen Schrank Quecksilber gepumpt wird. Auf seinem Weg wird das «flüssige Mondlicht» in sieben Kästen sichtbar, welche die Künstlerin als «Herzkmmern» bezeichnet.

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Eine besonders grosse Zahl von Möglichkeiten erforschte Rebecca Horn beim Schreiben und Zeichnen. Sie konstruierte Apparate, die mittels motorgetriebener Stangen Schreibmaschinen bedienen, oder sie erfand eine groteske, mit Bleistiften gespickte Gesichtsmaske, die es erlaubt, mit Kopfbewegungen zu zeichnen. Vom Schreiben und Zeichnen führt eine direkte Linie zum Tasten. Die Verlängerung der Finger kann auch den Tastsinn verfeinern, wie Rebecca Horn 1979 festhielt: «Die Hebelwirkung der verlängerten Finger steigert den Tastsinn der Hand. Ich fühle, wie ich berühre, sehe, wie ich greife und kontrolliere die Entfernungen zwischen den Objekten und mir in einer selbstgewählten Distanz.»

Die Ausstellung im Museum Tinguely zeigt die künstlerische Welt einer poetischen Erfinderin, die zu ihren Objekten jederzeit ironisch Distanz hält. Die Auswahl der Werke und ihre sorgfältige Präsentation widerspiegeln sowohl die Kennerschaft als auch die Freude, mit der die Kuratorin eine rundum gelungene Präsentation realisierte.

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Unter dem Titel «Theater der Metamorphosen» ist Rebecca Horns Schaffen vom 8. Juni 2019 bis zum 13. Januar 2020 auch im Centre Pompidou Metz zu sehen. Das besondere Augenmerk der Kuratorinnen Emma Lavigne und Alexandra Müller gilt dort der «Verwandlung unter animistischen, surrealistischen und mechanistischen Gesichtspunkten», wie sie in einer Pressemitteilung schreiben. Grosses Gewicht legt die Schau in Metz zudem auf das filmische Oeuvre von Rebecca Horn, die neben zahlreichen Kurzfilmen auch mehrere Spielfilme realisierte.

Am 6. und 12. Juni 2019 zeigt das Stadtkino Basel drei Spielfilme von Rebecca Horn. Die Schauspielerin Michaela Wendt trägt am 9. und 23. Juni, sowie am 7. Juli, 25. August und 8. und 22. September jeweils um 10 Uhr zu den Werken passende Texte vor. (Details auf der Website des Museums.)

Zur Ausstellung erschien – in je einer deutschen und englischen Ausgabe – ein sehr sorgfältig gestalteter Katalog. Reimann, Sandra B. (Hrsg. für das Museum Tinguely, Basel): Rebecca Horn – Körperphantasien. Wien 2019 (Verlag für moderne Kunst), 160 Seiten, CHF 42.00, € 38.00.

Illustrationen von oben nach unten: Weisser Körperfächer (1972, Filmstill), Schmetterling im Zenit (2009), Bleistiftmaske (1973, Filmstill), Handschuhfinger (1972) © 2019 Rebecca Horn/Pro Litteris, Zürich.

Rudolf Stingel in der Fondation Beyeler

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Rudolf Stingel, dem die Fondation Beyeler in Riehen vom 26. Mai bis 6. Oktober in neun Sälen eine One-Man-Show mit 30, zumeist grossformatigen, oft raumfüllenden Werken ausrichtet, wurde 1956 in Meran geboren. Er lebt und arbeitet seit 1987 vor allem in New York. Sam Keller, der Direktor der Fondation Beyeler, bezeichnete Stingel bei der Vorstellung der Ausstellung für die Medien als «Superstar». Er habe, heisst es in einem Pressetext, «wie kaum ein anderer Künstler seiner Generation … den Begriff dessen erweitert, was Malerei sein kann und wodurch sie definiert wird». Und weiter: «Seit … den späten 1980er-Jahren erkundet er die Möglichkeiten und medienspezifischen Grenzen im Wechselspiel künstlerischer Verfahren, Materialien und Formen.» Tatsächlich ist die Fülle der verwendeten künstlerischen Techniken eindrücklich. Stingel beherrscht die fotorealistische ebenso wie die abstrakte Malerei. Als
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Malgrund verwendet er oft die Leinwand, aber auch Kunststoffplatten. Seine Werke bestehen manchmal aus Teppichen, mit denen er ganze Räume auskleidet. Er lässt das Publikum an seinen Werken mitarbeiten. Es soll Fuss- oder Handspuren auf Teppichen hinterlassen oder Kritzeleien auf Wände ritzen. (In der Riehener Ausstellung ist eine solche Mitarbeit nicht vorgesehen. Dreisprachig werden Besucherinnen und Besucher gewarnt: «Bitte die Kunstwerke nicht berühren.») Der Parcours durch die von Udo Kittelmann, dem Direktor der Berliner Neuen Nationalgalerie, zusammen mit dem Künstler kuratierte Schau wird bestimmt durch die Diversität der Exponate. Stingel bearbeitet ein Thema gern in Serien. Anderseits imponiert er gern mit kraftvollen, zuweilen auch einschüchternden, den ganzen Raum usurpierenden Installationen. So liess er zum Beispiel einen ganzen Raum mit Isoliermaterial auskleiden, das zuvor mit Rillen und Ritzen versehen und mit Silberfolie überzogen wurde. Mitten im Raum lasten auf einem, ebenfalls silbern überzogenen Tisch 96 Exemplare des zur Ausstellung erschienenen Künstlerbuches im Grossformat und jeweils dreieinhalb Kilo schwer. Das Buch, erläuterte Kurator Kittelmann, sei als Werkverzeichnis, das Abbildungen praktisch aller
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bisherigen Arbeiten Stingels enthält, ein eigenständiges Exponat. Seine Vorstellung, dass die Besucher im Lauf der Zeit für Unordnung auf dem Bücher-Altar sorgen dürften, erscheint angesichts der feierlichen Stimmung, die der Raum evoziert, ziemlich gewagt. In der Summe darf man Sam Kellers Intention loben, dem Publikum der Fondation Beyeler immer wieder wichtige Exponenten des zeitgenössischen Kunstschaffens vorzustellen. Rudolf Stingel als «Superstar» zu bezeichnen, halten wir allerdings für weit überzogen, nicht zuletzt, weil Vieles, was er uns zeigt, zwar grossen Eindruck macht, aber nicht wirklich neuartig ist. Zu bewundern ist hingegen, die Sicherheit, mit der er Materialien und Maltechniken beherrscht.

Zur Ausstellung erschien ein Künstlerbuch. Es besteht ausschliesslich aus Abbildungen von einzelnen Werken und Installationen, deren Abfolge Rudolf Stingel selbst bestimmt hat.
Kittelmann, U. (Hrsg. für die Fondation Beyeler, Riehen/Basel): Rudolf Stingel. Berlin 2019 (Hatje Cantz Verlag), 380 Seiten, CHF 65.00/€ 58.00

Illustrationen aus der Ausstellung. © 2019, Jürg Bürgi, Basel. Unten: Untitled (2018) © Rudolf Stingel, Foto: John Lehr.

«Kosmos Kubismus – Von Picasso bis Léger» im Kunstmuseum Basel

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In chronologischer Ordnung dokumentiert die Ausstellung «Kosmos Kubismus» im Kunstmuseum Basel vom 30. März bis 4. August 2019 die von Georges Braque(1882 bis 1963) und Pablo Picasso (1881 bis 1973) ab 1908 angestossene Revolution des künstlerischen Gestaltens. Anders als die 1990 auf Picasso und Braque fokussierte, von William Rubin (1927 bis 2006), dem legendären Direktor des Museum of Modern Art in New York, 1990 kuratierte Schau am gleichen Ort, erweitert die aktuelle Ausstellung das Spektrum in zeitlicher und künstlerischer Hinsicht. 130 Gemälde, Collagen und Skulpturen belegen die lustvolle Kreativität, mit der die beteiligten Künstlerinnen und Künstler die gängigen Qualitätsnormen und die Sehgewohnheiten über den Haufen warfen. Die in Zusammenarbeit mit dem Centre Pompidou in Paris und der Kuratorin Brigitte Léal entstandene und in Basel von Eva Reifert eingerichtete Ausstellung, führt Besucherinnen und Besucher durch einen in neun Kapitel gegliederten Parcours. Er beginnt bei den Landschaftsbildern aus dem heute zu Marseille gehörenden Fischerdorf L’Estaque, das sich seit seiner Entdeckung durch Paul Cézanne (1839-1906) zu einem Treffpunkt zahlreicher Künstler entwickelt hatte. Neben Cézannes südfranzösischen Landschaften beeinflussten afrikanische und pazifische Skulpturen Picassos und Braques Abkehr von der gängigen Kunstauffassung. Mit der schrittweisen Reduktion auf geometrische Formen ging eine Beschränkung des Farbspektrums einher. Grau, Braun und Grün dominieren die kubistische Kunst während Jahren. Nach 1910 tauchen in Braques und Picassos Arbeiten Buchstaben und andere typografische Elemente auf, erstmals in Braques «Der Portugiese» von 1911. Eva Reifert zitiert im Katalog Braques Begründung für die schablonierten Zeichen als «Formen, an denen es nichts zu entstellen gab». Ein eigener Raum ist sodann der Vernetzung der Kubisten mit Verlegern, Sammlern und Dichtern gewidmet, welche die neue Kunstrichtung mit Ankäufen und Auftragsarbeiten förderten.
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Besonders die amerikanische Dichterin und Sammlerin Gertrude Stein (1874-1946), der aus Mannheim zugewanderte Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler (1884-1979) und der Literat Guillaume Apollinaire (1880-1918), der polnisch-italienische Wurzeln hatte, boten tatkräftige und nachhaltige Unterstützung. In zwei Räumen ist zu verfolgen, wie ab 1912 die Farbe zurückkehrte und wie die Collage eine reale Dreidimensionalität ins Bild brachte. Der Schritt zu skulpturalen Assemblagen aus mannigfaltigen Gebrauchsgegenständen erfolgte wie selbstverständlich – und wirkte lange nach: Der Stierschädel aus einem Velosattel und einem Lenker, den Picasso 1942 zusammenbaute, ist zum Beispiel ein spätes Echo auf die Innovationen, die 30 Jahre zuvor entstanden waren. In den beiden letzten Räumen sind Arbeiten aus den sogenannten kubistischen Salons ausgestellt. Denn die Entwicklung blieb ja nicht stehen. Jüngere Künstlerinnen und Künstler liessen sich von den Erfindern des Kubismus inspirieren und brachten ihn mit eigenen Ideen weiter. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war nicht nur für zahlreiche Avantgardisten eine Katastrophe, erbeutete auch für das kubistische Schaffen eine tiefe Zäsur. Viele der begabtesten kamen in den Schützengräben um, andere überlebten und mussten sich und ihre Kunst – wie zum Beispiel Fernand Léger – gänzlich neu erfinden.

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Wer bedauert, dass die Basler Ausstellung kompakter und konzentrierter daherkommt als die im vergangenen Winter gezeigte Schau im Centre Pompidou Paris, wird ohne weiteres zugeben können, dass sie in der verbliebenen Fülle die eigene Aufnahmefähigkeit durchaus strapaziert. Und wichtiger: Die Präsentation ist für das Kunstmuseum Basel «von zentraler Bedeutung», wie Direktor Josef Helfenstein in seinem Vorwort zum Katalog bemerkt. Denn neben den Highlights der älteren Abteilungen – Holbein und Böcklin – bildet der Kubismus «eine tragende Säule in der Sammlung». Zu verdanken ist die weltweit bekannte Dichte an herausragenden Werken dieser Epoche dem Schweizer Bankier und Mäzen Raoul La Roche (1889-1965), der in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen grossen Teil seiner Kollektion, darunter zahlreiche Werke von Pablo Picasso, Georges Braque und Juan Gris, dem Kunstmuseum schenkte. Die jetzt zusammen mit dem Centre Pompidou entwickelte Ausstellung, schreibt Helfenstein, «bietet die einmalige Gelegenheit, den Kubismus in Basel so umfassend wie noch nie zu präsentieren.» Ohne den soliden Grundstock aus Basel, darf man mit bescheidenem Stolz anfügen, wäre die Dichte der Ausstellung nicht zu erreichen gewesen.

Soll man es bedauern oder sich darüber freuen: Wer den «Kosmos Kubismus» im Basler Kunstmuseum betritt, muss nicht, wie in der fast gleichzeitig in der Fondation Beyeler in Riehen stattfindenden Ausstellung «Der junge Picasso. Blaue und Rosa Periode»
(Besprechung hier) befürchten, an der Kasse Schlange stehen zu müssen und im Innern wegen der Menge der Besucherinnen und Besucher nur hin und wieder einen Blick auf die Kunstwerke erhaschen zu können. Insgesamt muss man – ohne der grossartigen Schau der Fondation Beyeler Unrecht zu tun – der klug arrangierten und in ihrer Fülle überwältigenden Präsentation des Kunstmuseums die nachhaltigere Wirkung zubilligen. Während der Publikumsmagnet in Riehen ohne Zweifel eine grosse kulinarische Wirkung entfaltet, wird die anspruchsvolle historische Präsentation des Kunstmuseums – wie vor knapp 30 Jahren «Die Geburt des Kubismus» – als einzigartiges Erlebnis noch lange nach ihrem Ende nachwirken.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist
hier im Archiv zu finden.

Der Katalog zur Ausstellung ist eine adaptierte und übersetzte Fassung der Schau im Centre Pompidou, Paris (Herbst/Winter 2018/19).
Léal, B., Briend, Ch., Coulondre, A., Helfenstein, J., Reifert E.: Kosmos Kubismus. Von Picasso bis Léger. München 2019 (Firmer Verlag) 320. Seiten, CHF 49.00/ €49.90.

Illustrationen von oben nach unten: Georges Braque: Der Portugiese (1911/12); Sonia Delaunay: Elektrische Prismen (1914); Fernand Lager: Die Treppe (1914).

Lois Weinbergers «Debris Field» im Museum Tinguely

Porträt Lois Weinberger
Im Vorraum zum «Mengele-Totentanz» präsentiert das Museum Tinguely zum dritten Mal eine Auseinandersetzung mit Jean Tinguelys beklemmendem Alterswerk. Eingeladen von Roland Wetzel, dem Direktor des Hauses, zeigt der Tiroler Lois Weinberger, geb. 1947, Fundstücke aus dem Bauernhaus in Stams, das seit vielen Generationen von seiner Familie im Auftrag des benachbarten Zisterzienser-Klosters bewirtschaftet wird. In Zwischenböden und unter dem Dach hat Weinberger jahrelang als volkskundlich-künstlerischer Archäologe nach Relikten früherer Bewohner gesucht. Ein Teil der Fundstücke, die er in den isolierenden Unterböden in jahrelanger Kleinarbeit zutage förderte, ist nun vom 17. April bis zum 1. September 2019 in elf Glaskästen unter dem Titel «Debris Field» zu besichtigen. Den Besucherinnen und Besuchern
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gibt die Schau Einblick in eine von Aberglauben und religiösem Eifer, von Angst und Unterdrückung geprägte Lebenswelt, die sich in dem Tiroler Dorf viele Jahrhunderte lang erhalten hat und nun «Erkundungen im Abgelebten» (Untertitel) möglich macht. Die konservierenden Eigenheiten der verwendeten Dämmstoffe –  gewöhnlich Kleie, Moos und Holzkohle – machten es möglich, dass sich die Zivilisationstrümmer gut erhalten haben. Darunter befinden sich Stücke aus Papier ebenso wie Textilien, die der Verrottung entgingen. Auch Mumien von Katzen, die zur Abwehr des Teufels lebendig verscharrt wurden, und Knochen von heimlich im Haus geschlachteten Tieren förderte Weinberger zutage. Viele eigentlich wertlose Fundstücke, erläutert der Künstler, wurden verborgen statt weggeworfen, um das Andenken an Verstorbene irgendwie zu bewahren. Eine besondere Bewandtnis hat es mit den Schuhen, vonToten, von denen jeweils nur einer unter dem Dach versteckt wurde: So sollten Wiedergänger, vor denen sich die Menschen besonders fürchteten, an der Rückkehr gehindert werden. Das Schuhwerk berichtet aber nicht nur über den Aberglauben. Wir erfahren auch, dass sich die Stamser Bauern kaum eigene Schuhe leisten konnten. Vielmehr reparierten sie die von den Mönchen ausgelatschten Schuhe notdürftig und trugen sie so lange, bis sie endgültig auseinander fielen. «Je mehr die Funde ans Licht gebracht wurden/» schreibt Weinberger in einem poetischen Text für die erste Präsentation seines «Debris Field» an der Documenta 14 in Athen, »desto mehr glaubte ich den menschen / die vor hunderten jahren am dachboden hantierten und rumorten nahe zu sein. der wunsch besonders
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aufregende funde zu machen wurde bedeutungslos wie das bewusstsein sich mit etwas vergangenem zu beschäftigen / alles war nichts als gegenwärtig und doch so unwirklich…» Angesichts der Fülle des Materials, die Weinberger zusammengetragen hat, und angesichts der unzähligen Einsichten, die in diesem «Archiv des Lebens» zu gewinnen sind, ist zu hoffen, dass das Museum die Zahl der öffentlichen Führungen erhöht und den Interessierten so die Möglichkeit gibt, sich über die Exponate intensiv informieren zu lassen. Denn Weinbergers Arbeit führt über das Offensichtliche im Dialog mit dem «Mengele-Totentanz» weit hinaus. Sie verdient, in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen zu werden.

Auf Einladung des Museums Tinguely realisierte die in Riehen lebende Künstlerin Nadine Cueni, geb. 1976, unter dem Titel «des hirondelles» einen filmischen Essai über den am 23. August 1986 durch einen Blitzschlag und die folgende Feuersbrunst vollständig zerstörten Bauernhof der Familie Dafflon in Neyruz. Jean Tinguely, der als Nachbar die Katastrophe miterlebte, baute aus den Trümmern von Landmaschinen der Familie Dafflon seinen «Mengele-Totentanz». Cueni hat in Neyruz mit Bauernsohn Benoît Dafflon und anderen Zeitzeugen gesprochen und sie über das Feuer und den Nachbar Tinguely sprechen lassen. Nicht überraschend ist auch hier in Erinnerungen und Anekdoten der überlieferte Aberglaube gegenwärtig. Der knapp einstündige Film, französisch mit deutschen Untertiteln, läuft im Vorraum von «Debris Field».

Zur Ausstellung von Lois Weinberger erschien ein schön illustrierter Katalog (Englisch und Deutsch), der sich an die anlässlich der documenta 14 erschienene, inzwischen vergriffene Publikation «Debris Field – Erkundungen im Abgelebten, 2010-2016» anlehnt. Er enthält einen poetischen Text von Lois Weinberger und Beiträge von Roland Wetzel und Adam Szmyczyk. Wetzel, R. (Hrsg.): Lois Weinberger. Debris Field. Erkundungen im Abgelebten. 36 Seiten CHF 14.00 im Museumsshop.

Illustrationen: Porträt Lois Weinberger © Jürg Bürgi, 2019. Lois Weinberger: Debris Field, 2010-2016, Dachbodenfunde. Elternhaus Stams in Tirol, 14. bis 20. Jahrhundert. Foto Paris Tsitsos © Studio Weinberger

Cyprien Gaillard im Museum Tinguely

Unter dem nicht weiter erläuterten Titel «Roots Canal» präsentiert das Museum Tinguely in Basel vom 16. Februar bis 5. Mai 2019 eine skulpturale Installation sowie zwei Filmarbeiten von Cyprien Gaillard. Den 1980 in Paris geborenen und teilweise in Kalifornien aufgewachsenen Franzosen, der sein Kunststudium 2005 in Lausanne mit einem Diplom abschloss, hält Museumsdirektor Roger Wetzel für «einen der interessantesten Künstler seiner Generation». Im Mittelpunkt der von Séverine Fromaigeat kuratierten Schau steht ein Ensemble von Baggerschaufeln verschiedener Grösse. Die penibel ausgerichteten Baugeräte, sauber geputzt und sorgfältig geölt, repräsentieren Gaillards Interesse an «Zerstörung, Bewahrung, Wiederaufbau» und «Beleuchtet unser ambivalentes Verhältnis zu Ruinen und dem Verschwinden», wie es im Pressetext zur Ausstellung heisst. Und weiter: «Die Baggerschaufeln aus dem Jahr 2013 … nehmen uns mit auf eine Reise in ein Hin und
Baggerschaufeln
Her zwischen Vorgeschichte und Gegenwart». Die «Vorgeschichte» repräsentieren die Mineralien Onyx und Kalkspat, die anstelle des Stahlgestänges, welche die Schaufel mit dem Baggerarm verbindet, eingesetzt sind. Zu sehen sind in Basel, erstmals in Europa, neun grosse und kleine Baumaschinenteile. (Im Gegensatz zu der umfangreicheren Installation vor fünf Jahren in der New Yorker Gladstone Gallery, wo rund ein Dutzend, bedrohlich eng neben und gegen einander platzierte Schaufeln zum Teil mit Goldbronze-Bemalung als Schmuckstücke daherkamen, soll bei der Präsentation im Tinguely-Museum das Zerstörungspotenzial im Vordergrund stehen.) Die beiden weiteren ausgestellten Werke sind Video-Arbeiten. «Koe» von 2015 zeigt einen Schwarm ursprünglich wohl aus Nordindien eingeschleppte Halsbandsittiche. Die grünen Papageienvögel, von denen es in Deutschland angeblich 30’000 geben soll, drehen in dem Film über der Innenstadt von Düsseldorf ihre Runden. Sie sind auch auf Schlafbäumen in einem Park zu beobachten. Beim Betrachten des Streifens darf man sich Gedanken über das Zusammenspiel der eleganten exotischen Eindringlinge über den Luxusläden der Königsallee machen. Ob Gaillard auch darauf hinweisen möchte, dass rund ein Viertel der Einwohner der Hauptstadt von Nordrhein-Westfalen einen ausländischen Pass haben und dass Englisch neben Deutsch zur Verwaltungssprache erhoben wurde, um hochqualifizierten Expats, darunter besonders viele Japaner, das Leben zu erleichtern, ist nicht bekannt. Der zweite Film, «Nightlife» aus demselben Jahr, ist eine 3D-Produktion, die aus mehreren, nächtlichen Szenen besteht. Zu sehen ist zunächst Rodins Skulptur «Le Penseur» vor dem Cleveland Museum of Art gefolgt von Wacholderbäumen in Los Angeles, die nach Angaben der Saalbroschüre einen «halluzinativen Tanz» aufführen und einem eindrücklichen Feuerwerk über dem Berliner Olympiastadion, wo der afro-amerikanische Leichtathlet Jesse (eigentlich James Cleveland = J.C.) Owens bei den Olympischen Spielen 1936 vier Goldmedaillen gewann und von den Organisatoren mit vier Eichen-Setzlingen geehrt wurde. Einer davon wuchs auf dem Gelände der Rhodes High School in Cleveland zu einem stattlichen Baum heran und bildet nun, beleuchtet von einem darüber kreisenden Hubschrauber, das Zentrum der letzten Filmszene. Begleitet wird das dreidimensionale Filmerlebnis durch eine von Gaillard gemixte Tonspur aus Samples eines Songs des Rocksteady-Musikers Alton Elis, dessen Refrain «I was born a loser» Gaillard in «I was born a winner» umpolt. Da auch der wortreiche Text der Saalbroschüre keinen Aufschluss darüber zu geben vermag, weshalb wir Cyprien Gaillard als einen der interessantesten Künstler seiner Generation betrachten sollen, verlassen wir die Ausstellung ratlos und enttäuscht. Wir fragen uns, weshalb von den im Internet zahlreich abgebildeten und kommentierten interessanten übrigen Arbeiten Gaillards im Museum Tinguely nichts zu sehen ist. Oder anders: Wenn es Gründe gibt, welche die Gaillard-Schau zu einem blossen Köder reduzierten, müsste offen darüber informiert werden.

Der junge Picasso in der Fondation Beyeler

Auf der Suche nach einer eigenen Bildsprache eignete sich Pablo Picasso (1881-1973), systematisch gefördert von seinem Vater, in den 1890er-Jahren das ganze Spektrum der damals gängigen malerischen Fertigkeiten an. Obwohl überaus erfolgreich, verliess der junge Künstler um die Jahrhundertwende die vorgespurte Karriere und begann, sich malerisch eine eigene Welt zu schaffen. Dabei erlebte Picasso seine Entwicklung durchaus krisenhaft. Der Selbstmord seines Freundes Carles Casagemas, den er auf dem Totenbett porträtierte, setzte ihm schwer zu. Und als er sich 1901, bleich und im schwarzen Mantel, vor blauem Hintergrund selbst darstellte, malte er einen jungen Anarchisten, der aussah, als müsse er das ganze Elend der Welt schultern. In Zusammenarbeit mit den Musées d’Orsay et de l’Orangerie sowie dem
Autoportrait 1901 (Ausschnitt, klein)
Musée Nationale Picasso in Paris zelebriert die Fondation Beyeler in Riehen vom 3. Februar bis zum 26. Mai 2019 die melancholische «blaue» und die auf den definitiven Umzug nach Paris folgende mehr Zuversicht ausstrahlende «rosa» Periode im Werk des jungen Picasso. In seiner chronologisch angelegten Schau zeigt Kurator Raphaël Bouvier in einmaliger Ausführlichkeit 80 grossartige Zeugnisse aus den sechs entscheidenden Schaffensjahren von 1901 bis 1906. Besucherinnen und Besucher können den Wandel vom virtuosen Maler, der sich alle gängigen Stilformen zu eigen machte, zum eigenständigen Künstler nachvollziehen. Besonders eindrücklich ist der Weg im Multimedia-Raum anhand von Selbstporträts zu sehen, die in jenen sechs entscheidenden Jahren entstanden sind – vom feurig-selbstbewussten «Yo Picasso» bis zum skulptural-reduzierten «Autoportrait» vom Herbst 1906, das den Übergang zu dem 1907 entstandenen Werk «Les Demoiselles d’Avignon» ankündigt, das als erstes kubistisches Gemälde gilt. Nicht überraschend präsentiert die Fondation Beyeler vom 13. Januar bis 5. Mai 2019 parallel zum jungen Picasso unter dem Titel «Picasso Panorama» die 30 Werke, die zum Sammlungsbestand gehören. Sie wurden mit Arbeiten ergänzt, welche die Fondation Beyeler als Dauerleihgaben hütet. Um dem Publikum den Zeitgeist der Pariser Bohème nahe zu bringen, wurde das «Café Parisien» eingerichtet (das allerdings nicht mit der von Picasso und seinen Freunden auf dem Montmartre bevorzugt frequentierten Kaschemme «Lapin Agile» zu vergleichen ist.) Jeden Mittwoch verwandelt sich das Lokal im Souterrrain des Museums in ein Variététheater, in dem unterhaltsame und artistische Darbietungen zu sehen sind. (Das ausführliche Programm ist unter der URL https://www.fondationbeyeler.ch/programm/kalender/ abrufbar.)

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und der Publikationen ist
hier zu finden (und nach Ende der Ausstellung im Archiv).

Zur Ausstellung erschienen drei Publikationen.
Hrsg. Raphaël Bouvier (Fondation Beyeler): Picasso – Blaue und Rosa Periode. Riehen/Berlin 2019 (Beyeler Museum AG/Hatje-Cantz Verlag), 304 Seiten, € 60.00/CHF 68.00. (Der Katalog ist in einer deutschen und einer englischen Ausgabe verfügbar.

Raphaël Bouvier: Picasso. Blaue und Rosa Periode. Riehen/Berlin 2019 (Beyeler Museum AG/Hatje-Cantz Verlag), 56 Seiten, € 12.00/CHF 9.80. (Der kleine Begleitband ist in einer deutschen und einer französischen Ausgabe erhältlich.)

Tasnim Baghdadi und Iris Brugger (Beyeler Museum AG): Der junge Picasso. Blaue und Rosa Periode - interaktiv. Das Kinderheft führt mit zehn unterhaltsamen Aufgaben und Spielanleitungen durch die Ausstellung. Das ausgezeichnet gelungene Heft ist kostenlos bei der Information im Eingangsbereich erhältlich.

Illustration: Pablo Picasso,Autoportrait, 1901 (Ausschnitt), Musée national Picasso-Paris © Succession Picasso/2018, ProLitteris, Zürich. Foto: © RMN-Grand Palais (Musée national Picasso-Paris)/Mathieu Rabeau

Radiophonic Spaces im Muesum Tinguely

Einmal mehr profiliert sich das Museum Tinguely in Basel als eine besonders experimentierfreudige Institution der Kunstvermittlung. In Zusammenarbeit mit der Bauhaus-Universität in Weimar und dem medienwissenschaftlichen Institut der Uni Basel lädt das Museum vom 23. Oktober 2018 bis zum 27. Januar 2019 zur Erkundung der Radiokunst-Geschichte ein. Unter dem Titel «Radiophonic Spaces» gibt es in der Ausstellung nichts zu sehen, dafür umso mehr zu hören. Besucherinnen und Besucher erhalten beim Eingang ein speziell präpariertes Smartphone und Kopfhörer, mit deren Hilfe sie 210 sorgfältig ausgesuchte Programme erleben können. Wer will, kann sich wie eine menschliche Sendersuchnadel auf einem klassischen Radiogerät durch den vom Multimedia-Künstler Cevdet Erek gestalteten Raum bewegen und dabei Ausschnitte von Radiostücken hören. Bei besonderem Interesse ist es möglich, das ganze Werk zu hören und an Bildschirm-Stationen zusätzliche Informationen und Querverweise abzufragen. Es ist unschwer vorauszusagen, dass nur eine Minderheit des Publikums die Fülle von Möglichkeiten nutzen kann. Das aufwändige Vermittlungskonzept, das aus einem dreijährigen, von Prof. Nathalie Singer geleiteten wissenschaftlichen Forschungsprojekt der Weimarer Bauhaus-Universität hervorging, wird viele überfordern. Denn das Fehlen von Bild-Elementen im Ausstellungsraum und der Einsatz technischen Geräts machen das Eintauchen in die Geschichte der Radiokunst zu einem anspruchsvollen Abenteuer. Wer den Mut (und die Zeit) aufbringt, sich darauf einzulassen, wird allerdings reich belohnt.

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Eine grosse Hilfe bietet eine kostenlose Begleitbroschüre mit einer Anleitung zur Benutzung der technischen Gerätschaften und der eindrücklichen Liste aller 210 Archivstücke. Darunter sind Hörspiele und experimentelle Musikstücke sowie beispielhafte historische Tonaufnahmen, die weit über die akademische Radioforschung hinaus ein breites Publikum interessieren können: Da ist zum Beispiel Kaiser Wilhelm II. mit einem «Aufruf an das Deutsche Volk» zu hören oder Adolf Reichenberg, der seiner Frau 1899 einen Phonographen zum Geschenk machte und ihr die Neuigkeit auf einer von ihm besprochenen Wachswalze gleich selbst mitteilte. Zum Angebot gehören sodann Grammophonplatten-Experimente von Paul Hindemith und John Cage, oder das epochemachende Hörspiel «The War of the Worlds» von Orson Welles, das 1938 den Überfall von Ausserirdischen auf New York so realistisch erlebbar machte, dass in der Stadt Panik ausbrach. Besondere Beachtung verdienen auch die Hörspiele aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, darunter das Rückkehrer-Drama «Draussen vor der Tür» von Wolfgang Borchert, das am 13. Februar 1947 vom NWDR gesendet wurde. (Die Hamburger Uraufführung der Bühnenfassung am 21. November desselben Jahres erlebte Borchert nicht mehr. Er starb, 26-jährig, am Tag davor im Claraspital in Basel.) Die Liste der Preziosen liesse sich fast beliebig erweitern…

Das Museum Tinguely und der verantwortliche Kurator Andres Pardey verlassen sich allerdings nicht darauf, dass ein wissenschaftlich oder historisch weniger interessiertes Publikum automatisch in die Ausstellung drängen wird. Deshalb gruppierten sie rund um die Ausstellung 15 begleitende Themenwochen. In der ersten sind zum Beispiel jeden Tag um 11.30 Uhr und um 15 Uhr zwei Spielfilme zum Thema Radio zu sehen, und in der zweiten können Besucherinnen und Besucher mit Hilfe von Amateurfunkern der Station «Notfunk Birs HB9NFB» selbst Radiosignale senden und empfangen. Auf grosses Interesse wird in der neunten Themenwoche auch die Möglichkeit stossen, unter Anleitung einen eigenen Radioapparat zu bauen. Auch viele weitere Angebote setzen auf die aktive Teilnahme des Publikums. Alle Details sind der
Website des Museums zu entnehmen.

Nicht überraschend gibt es in der Ausstellung auch ein eigenes Radiostudio. «RadioTinguely» (
www.tinguely.ch/radiotinguely) geht jeden Sonntag um 17 Uhr auf Sendung und berichtet live, moderiert vom bekannten Basler Radiojournalisten Roger Ehret, über die Höhepunkte der vergangenen Themenwoche.

Victor J. Papanek: The Politics of Design

Er war einer der bedeutendsten und einflussreichsten Designer und Design-Theoretiker des 20. Jahrhunderts: Victor J. Papanek (1923-1998), geboren in Wien und geschult in England, emigrierte 1939 nach dem Anschluss Österreichs mit seiner verwitweten Mutter in die USA. Seit 1946 amerikanischer Staatsbürger, studierte er – unter anderem bei Franz Lloyd Wright – Architektur und erwarb 1950 sein Bachelor-Diplom an der privaten Cooper Union for the Advancement of Science and Art in New York.
Papanek
Fünf Jahre später folgte das Master-Diplom am Massachusetts Institute of Technology. Nach der Ausbildung begann Papanek eine klassische Laufbahn als Industriedesigner im Atelier des «Stromlinien-Gurus» (Alison Clarke in ihrem Katalogbeitrag) Raymond Loewy. Doch bald gab es Krach, als Papanek vorschlug, die traditionellen japanischen Sandalen in einer besonders dicken Sohle als Plateau-Schuh zu gestalten, der es besonders kleinen Menschen – wie seiner Mutter, die nur anderthalb Meter gross war – den Alltag in den normierten Wohnungen zu erleichtern. Loewy spottete über den Entwurf für «die Minderheit» – und half so, Papanek zum scharfen Kritiker der Konsum- und Wegwerfgesellschaft zu machen. Mit Auftritten im Radio und Fernsehen und in zahlreichen Vorträgen verurteilte er den allgegenwärtigen Kommerz und setzte sich für ein politisch bewusstes und dem Schutz der Umwelt verpflichtetes Verständnis der Produktgestaltung ein. Sein Hauptwerk «Design for the Real World – Human Ecology and Social Change» erschien 1971 und wurde in kurzer Zeit zum weltweit meistgelesenen Buch über Design. So einflussreich dieses Werk bis heute geblieben ist, so blass ist die Erinnerung an seinen Autor geworden. Die Ausstellung im Vitra Design Museum in Weil am Rhein, die erste umfassende Retrospektive überhaupt, soll dies nun ändern. Zusammen mit der «Victor J. Papanek-Foundation» an der Universität für angewandte Kunst in Wien, der Hüterin des Nachlasses, stellen die Kuratorinnen Amelie Klein und Alison J. Clarke vom 29. September 2018 bis zum 10. März 2019 den kritischen Geist unter dem Titel «The Politics of Design» in den Zusammenhang seiner Zeit und zeigen seine Wirkung bis in die Gegenwart, indem sie an 20 zeitgenössischen Werken demonstrieren, wie Papaneks Überzeugungen weiterleben. Die ersten beiden Abteilungen präsentieren anhand einer Medien-Installation und einer eindrücklichen biografischen Übersicht, die Papaneks Leben von der Flucht aus Europa bis zum internationalen Erfolg umfasst, den zeitgeschichtlichen Kontext des bahnbrechenden Werks. Die Fülle der Dokumente in diesem Teil ist überwältigend. Wer hier lieber nicht ins Detail gehen möchte, tut gut daran, das umfangreiche und sehr ansprechend gestaltete Katalogbuch zu konsultieren, in dem zahlreiche Exponate abgebildet und ausführlich erläutert sind. In den weiteren Räumen sind die Hauptthemen von Papaneks Werk dargestellt: seine kritische Haltung zur Wegwerfkultur, sein Engagement für Minderheiten und die so genannte Dritte Welt, sowie für Ökologie und Nachhaltigkeit. Eine Fülle von Entwürfen belegen seine Überzeugung, dass gestalterische Probleme am besten im Kollektiv gelöst werden sollen.

Katalogumschlag
Zur Ausstellung erschien, wie erwähnt, ein Katalogbuch, das einen umfassenden Einblick in Papaneks Denken ermöglicht. es macht nachvollziehbar, dass sein Ansatz, der seinerzeit revolutionär war, heute allgemein anerkannt ist: Design darf sich nicht auf die blosse Ästhetik von Gegenständen beschränken, sondern muss sich seiner gesellschaftlichen Funktion bewusst sein. Mateo Kries, Amelie Klein, Alison J. Clarke (Hrsg.): Victor Papanek – The Politics of Design. Weil am Rhein 2018 (Vitra Design Museum). 400 Seiten, €59.90

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs folgen
hier.

Illustration: Porträtfoto Victor Papanek ca. 1981 (Scan aus dem Katalog, © 2018 Kansas City Art Institute).

Balthus bei Beyeler

Vom 2. September 2018 bis 1. Januar 2019 zeigt die Fondation Beyeler in Riehen – zum ersten Mal in der deutschsprachigen Schweiz – eine grosse Retrospektive auf das Werk des deutsch-französischen Künstlers Balthazar Klossowski de Rola, genannt Balthus (1908 bis 2001). Der wegen seiner lasziv inszenierten jungen Mädchen umstrittene Exzentriker wird dem Publikum von Kurator Raphaël Bouvier und Kuratorin Michiko Kono als «Künstler des Widerspruchs» (oder wohl eher der Widersprüchlichkeit) «und der Irritation» vorgestellt. Tatsächlich zeigen die 40 ausgestellten Bilder, die für das Gesamtwerk von lediglich 340 Gemälden als repräsentativ gelten,
Balthus_Le-Roi-des-chats_klein
ein grosses Spektrum von Sujets: Strassenszenen, Landschaftsbilder, Porträts, Interieurs. Im Zentrum steht dabei die grossformatige «Passage du Commerce Saint-André», die 1952 bis 1954 gemalt wurde und als Dauerleihgabe zur Sammlung der Fondation Beyeler gehört. Die rätselhafte, raffiniert gebaute Szene zeigt acht Personen und einen Hund, die – nicht unähnlich einem Video-Still – in ihren Bewegungen eingefroren scheinen. Typisch für Balthus ist die Raffinesse des Bildausschnitts. Scheinbar spontan werden Figuren an- und Füsse abgeschnitten: ein Bild wie eine Lomografie. Balthus war Autodidakt, hoch begabt, wie schon Rainer Maria Rilke feststellte, der den Sohn seiner Geliebten Else Kosslowski nach Kräften förderte. Mit 16, zusammen mit Mutter und Bruder wieder in Paris, begann er auf Anraten des Familienfreundes Pierre Bonnard im Louvre alte Meister zu kopieren, später malte er in der Toskana Bilder von Frührenaissance-Künstlern nach. Dies alles ist, folgt man den Balthus-Experten, im Werk zu sehen. Unbestritten ist, dass die Malerei keinem Stil der Moderne zuzuordnen ist. Balthus malte gegenständlich, wenn seine Freunde, darunter Pablo Picasso, die Möglichkeiten der Abstraktion erprobten oder dem Surrealismus frönten. Nach einer ersten Einzelausstellung 1934, die ein totaler Misserfolg war, gewann er als Porträtist ein gewisses Renommee. Gleichzeitig pflegte er sein Image als Aussenseiter, der sich dank reicher Freundinnen und Freunde einen extravaganten Lebensstil leisten konnte. Die Selbstinszenierung, zu der auch ein erfundener Grafentitel gehörte, seine Bildnisse pubertierender Mädchen und die übrigen, oft rätselhaften Sujets sowie sein handwerkliches Geschick wurden zu seinen Markenzeichen. Wer die Ausstellung in der Fondation Beyeler besucht, erhält die Möglichkeit, sich über die Qualität dieses eigenartigen Œuvres ein Urteil zu bilden und sich die Frage zu stellen, ob es auch jenseits der Provokation weiter Bestand haben wird.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Museo Nacional Thyssen-Bornemisza in Madrid entstanden ist, und des sehr ansprechend gestalteten Katalogs
ist hier nachzulesen.

Illustration: Le Roi des chats (Selbstporträt 1935) © Balthus, Foto Etienne Malapert, Musée cantonal des Beaux-Arts des Lausanne

Möbelgestalter Dieter Waeckerlin

Porträt 1990_klein
Unter der Leitung von Dominic Haag-Walthert hat das Institut für Innenarchitektur der Hochschule Luzern im Basler Christoph Merian Verlag dem Innenarchitekten und Möbel-Gestalter Dieter Waeckerlin (1930-2013) eine mit Sorgfalt und Enthusiasmus gestaltete Monografie gewidmet. Leben und Werk eines der wichtigsten und einflussreichsten Designer der Schweiz werden in sieben kenntnisreichen Essays und einem umfassenden Anhang mit biografischen Angaben und einem ausführlichen Werkverzeichnis abgehandelt. Der Bildteil zeigt nicht nur Illustrationen aus Anzeigen und Katalogen der familieneigenen Idealheim AG, sondern auch Fotografien von Waeckerlin-Möbeln, die bis heute in Gebrauch sind, sowie zahlreiche Zeichnungen und Patent-Anträge. Sie belegen, wie der versierte Kaufmann und gelernte Schreiner in seinen Entwürfen in einzigartiger Weise handwerkliches Können und technische Kreativität verband. Fast zehn Jahre lang, schreibt Dominic Haag-Walthert im Vorwort, sei für das Buch recherchiert worden, das «erstmals das gesammelte Wissen» über Dieter Waeckerlin zugänglich mache.

Eine ausführliche Besprechung des Buches
steht hier zur Verfügung.

Hochschule Luzern, Institut für Innenarchitektur (Hrsg.): Dieter Waeckerlin und Idealheim. Basel 2018 (Christoph Merian Verlag), 212 Seiten, CHF 49.00/€ 48.00.

Das Museum Tinguely präsentiert seine Sammlung neu

Reliefs klein
Mit einer von Sandra Beate Reimann kenntnisreich und mit grosser Sorgfalt eingerichteten Präsentation hat das Museum Tinguely auf 1200 Quadratmetern den Parcours durch die eigene Sammlung von Grund auf neu gestaltet. Beginnend auf der Galerie im ersten Stock ist Jean Tinguelys Werk in thematischen Gruppen zusammengefasst und, grosso modo, chronologisch geordnet. Die Ausstellung der rund 60 Arbeiten aus eigenen Beständen und zusätzlich 16 Leihgaben beginnt mit den filigranen Reliefs in schwarz und weiss, die zwischen 1954 und 1960 entstanden sind. Die Präsentation in einer engen Hängung sollen an die prekären Platzverhältnisse in Tinguelys Atelier an der Impasse Ronsin in Paris erinnern, wo die fertigen Arbeiten auf einem Zwischenboden gelagert wurden. Eines der Reliefs.– «Horizontal I, Relief méta-mécanique» - ist jetzt wieder, wie damals im Atelier, vertikal aufgehängt. In einem zweiten Raum sind die Klangmaschinen zu sehen. Besonders interessant ist die Arbeit «Mes étoiles – Concert pour sept peintures», die 1957 bis 1959 entstand und jetzt vor einer schwarzen Wand ausgestellt ist, wie seinerzeit in den Galerien von Iris Clert in Paris und Alfred Schmela in Düsseldorf. Auch die ersten Zeichenmaschinen und das erste Multiple – ein Relief zum Selbstbau – stammen aus dem ersten Jahrzehnt. Der Zeit nach 1960 sind im zweiten Obergeschoss drei Räume gewidmet: Im ersten sind auf hängenden Leinwänden die Filme von drei Zerstörungsaktionen – die «Homage à New York» (1960), die «Étude pour une fin du monde I», 1961 im Park des Louisiana Museum of Modern Art in Humblebæk (DK) mit grossem Getöse explodiert, sowie, ein Jahr später, die gross fürs Fernsehen inszenierte «Study for an End of the World No. 2», die bei Las Vegas ein Stück Wüste in bedrohliche Rauchschwaden hüllte. Daneben sind die ersten aus Schrott und objets trouvés hergestellten Skulpturen platziert, gefolgt von streng schwarz bemalten Maschinen, teils martialisch bewegt wie «Hannibal II» von 1968, teils sich elegant und leicht drehend. Das grosse, den dritten Raum füllende «Plateau agriculturel», das 1978, ein Jahr nach dem Fasnachtsbrunnen entstand, gehört zu einer Gruppe von Werke, die zum Bestand der Sammlung gehören, aber seit langem im Museum nicht mehr ausgestellt waren. Dasselbe gilt für das «Relief méta-mécanique sonore II» von 1955, das «Ballet des Pauvres» von 1961 und das farbenfroh beleuchtete «Café Kyoto» von 1987. Im Untergeschoss sind Arbeiten aus den 1970er-Jahren bis 1990, der letzten Schaffensperiode des Künstlers, zu sehen. Neben dem monumentalen «Pit-Stop» von 1984, der im Auftrag und mit Material von Renault gebaut wurde, gibt es hier eine witzige Sammlung von Bohrmaschinen-Arbeiten, die sich über die Do-it-yourself-
Brückenmodell klein
Welle lustig machen. Ein Highlight der Ausstellung bilden sodann die Dokumente und Modelle, die Tinguely – mit Bernhard Luginbühl und seinen Söhnen in der eigens gegründeten «Bildhauer Union 90» verbunden – für eine neue Wettsteinbrücke entwarf. Da sich die Künstler nicht um den längst abgeschlossenen politischen Entscheidungsprozess kümmerten und erst zwei Wochen vor der Volksabstimmung an die Öffentlichkeit traten, fielen ihre erst skizzenhaften Ideen damals leider diskussionslos aus Abschied und Traktanden.

Aus Anlass der neuen Sammlungspräsentation führt das Museum auch den digitalen Ausstellungsguide Meta-Tinguely ein, der anhand der Biografie des Künstlers und von neun ausgewählten Werken durch Jean Tinguelys Œuvre führt und sein künstlerisches Schaffen erläutert. Der ebenso übersichtlich wie unterhaltsam gestaltete Guide kann entweder über die Website oder – in der Ausstellung – über das Gratis-WLAN des Museums aufgerufen werden. Er bietet in Wort, Bild und Ton eine Fülle von Informationen, die entweder mit Hilfe der Suchfunktionen oder als Antworten auf einfache Fragen auf Smartphones und Tablets zur Verfügung stehen.

Illustrationen: © Jürg Bürgi 2018. Oben: Kinetische Reliefs aus der ersten Schaffensperiode. Unten: Ideen für den Neubau der Wettsteinbrücke in Basel.

Gauri Gill zeigt Geburt und Tod in Rjasthan

Porträt A
Mit 17 grossformatigen Bildern der indischen Fotokünstlerin Gauri Gill setzt das Museum Tinguely in Basel vom 13. Juni bis 1. November 2018 die Reihe von Ausstellungen im Vorraum des 2017 neu installierten «Mengele-Totentanzes» fort. Gauri Gill, 1970 in Chandigarh geboren und in New Dehli sowie in den USA ausgebildet, begann 1999 den indischen Bundesstaat Rajasthan im Nordwesten des Subkontinents zu bereisen. Das Gebiet, das fast so gross ist wie die Bundesrepublik Deutschland, wird von rund 67 Millionen Menschen bewohnt. Besonders der an Pakistan grenzende, von der Thar-Wüste geprägte Landstrich ist nach offiziellen Angaben «relativ unfruchtbar und trocken». Die Bewohner betreiben Landwirtschaft so gut es der karge Boden zulässt. Die Zahl der Analphabeten ist überdurchschnittlich hoch; im ganzen Gliedstaat kann ein Drittel der Erwachsenen nicht lesen und schreiben. Gauri Gill ärgerte sich auf ihrer ersten Reise zwar über die Rückständigkeit der Gesellschaft, wo sie Lehrer beim Prügeln ihrer Schüler zusehen musste, aber sie war auch fasziniert vom Stolz und von der Stärke der einfachen Menschen, vor allem der Frauen, unter denen sie bald Freundinnen gewann. Indem sie mit und bei den Bewohnern lebte, lernte sie das harte Leben aus eigener Anschauung kennen. Und schon bei ihrem zweiten Besuch begann sie, den Existenzkampf dieser teils sesshaften, teils nomadisierenden Bauernfamilien zu dokumentieren. Aus den «Notes from the Desert», wie sie das Archiv von mittlerweile 40’000 Fotos nennt, stellt die Künstlerin thematische Portfolios zusammen. Die 17 jetzt im Vorraum zu Tinguelys «Mengele Totentanz» von 1986 ausgestellten Werke gehören zur Serie «Traces». Sie dokumentieren individuelle, mit den ganz bescheidenen, in der Natur vorhandenen Mitteln gestaltete Grabstätten in der Wüste, welche die Fotografin mit Verwandten Freunden der Verstorbenen besuchen durfte. Nur wenige – muslimische – Gräber sind mit einem Grabstein und einer Inschrift versehen. Die Mehrheit sind simple – oft in runder Form angelegte – Erinnerungsorte an junge und alte Menschen. Viele der Gräber sind nur den Angehörigen vertraut, weil sie dort Gegenstände deponierten,
Installationsansicht schmal
die an die Toten erinnern – sei es, weil sie ihnen besonders lieb, oder sei es, weil sie ihnen ein Leben lang von Nutzen waren. Es ist absehbar, dass die Gedenkstätten, die Wind und Wetter ausgesetzt sind, mit der Zeit verschwinden oder nicht mehr gefunden werden. Als Kontrapunkt zu diesem gänzlich unsentimentalen Totentanz setzt Gauri Gill acht Bilder aus der «Birth Series», Dokumente einer Hausgeburt in einer einfachen Lehmhütte. Die engagierte Feministin und erfahrene Hebamme Kasumbi Dai wollte der Fotografin zeigen, wie sie in dem abgelegenen Dorf Ghafan in der Provinz Motasar hygienisch fortschrittliche Methoden anwendet. Sie brachte eine Kunststoff-Plane und sterile Instrumente mit. Aber die Gebärende, die Enkelin der Geburtshelferin, lehnte das neumodische Zeug ab und gebar ihr Kind nach traditioneller Art, halb sitzend in eine zwischen ihren Beinen aus dem Lehmboden gebuddelte Kuhle, wo das Neugeborene auch abgenabelt wurde. Geburt und Tod, zeigt die Ausstellung auf eindrückliche Weise, gehören zusammen – nicht nur bei den armen Bauern im indischen Gliedstaat Rajasthan.

Illustrationen aus der Ausstellung: ©2018, Jürg Bürgi, Basel.

Nur keine Panik! Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger im Museum Tinguely

Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger
So viel Spass beim Hinschauen, Entdecken und Ausprobieren wie vom 6. Juni bis 23. September 2018 im Museum Tinguely in Basel bieten Kunstausstellungen nur selten. Und selten passt eine künstlerische Haltung so perfekt zu Jean Tinguely wie die von Séverine Fromaigeat unter dem Titel «Too early to panic» kuratierte Retrospektive auf das künstlerische Wirken von Gerda Steiner (geb. 1967) und Jörg Lenzlinger (geb. 1964), die seit 1997 zusammenarbeiten. Im Lauf der Jahre ist daraus eine einzigartige, erfindungsreiche und witzige Kunstwelt entstanden. Beim Eingang müssen die Besuchenden einen von drei Eingängen wählen. Sie führen in die Vergangenheit, in die Gegenwart oder in die Zukunft. Wer sich, was empfehlenswert ist, spontan für die Holztür in die Vergangenheit entscheidet, lernt den Werdegang des Künstlerpaars kennen, der zunächst stark von der Malerei geprägt war. Jörg Lenzlinger machte zum Beispiel Versuche mit tropfender Aquarellfarben, und Gerda Steiner erkundete Möglichkeiten, mit papierenen Farbpunkten zu malen. Das Paar brachte von langen und weiten Reisen viele Inspirationen mit, die es direkt und indirekt zu Kunstwerken gestaltete. Viele dieser
Samen aus Mali
Arbeiten sind bei aller Fröhlichkeit und allem Witz, die sie auf das Publikum übertragen, durchaus auch als Denkanstösse gemeint. So ist auf einem Tisch eine Sammlung von Samen ausgelegt, die auf einer Reise nach Mali zusammen kamen. Wer sich die mannigfaltigen Formen und Grössen ansieht, wird auch in Betracht ziehen, welche Rolle diese Pflanzen für die malische Bevölkerung spielen. Wichtig ist auch, die mannigfaltigen Papierstücke zu betrachten, mit denen das Saatgut verpackt wurde und auf denen es nun ausliegt. Sie sind, wie Gerda Steiner erklärt, «Teil der Geschichte» – Fundstücke aus einem Land, in dem jeder Fetzen verwendet wird, weil Papier Mangelware ist. Die Natur, in lebendiger, toter oder künstlicher Form ist allgegenwärtig in der Ausstellung. Besonders vif sind die hüpfenden Hühner, die beim Spaghetti-Pflücken von tief hängenden
Dünger-Kristalle
Ästen gefilmt wurden (Hühnerhüpfen, 2016), tot ist das Vogelnest, in goldenen Stöckelschuhen (Goldschatz, 2013) und künstlich sind Blumen und andere Verzierungen, die sowohl im Innern des Museums in urwaldartigen Arrangements aus totem Holz wie auch im Park in einem Schiffscontainer voll Schlingpflanzen vegetieren. Im Hauptraum der Ausstellung wachsen in einer wunderbar farbigen Skulptur Harnstoff-Kristalle, und daneben verschafft eine vielfältig vernetzte und verdrahtete Fitness-Maschine Einblick in den menschlichen Protein-Kreislauf. Wer sich hinsetzt und mit dem Drahtzug seine Armmuskeln trainiert, öffnet links und rechts die Deckel von Tiefkühltruhen, aus denen das Grunzen von Schweinen und das Muhen von Kühen an die Lieferanten des Kühlguts erinnern, gleichzeitig gerät – zum grössten Teil unsichtbar für die Trainierenden – die ganze raumgreifende Skulptur in Bewegung. Weil es zu der Retrospektive weder ein vollständiges Verzeichnis aller ausgestellten Objekte noch einen Katalog gibt, ist es ratsam, sich genügend Zeit für die eindrückliche Schau zu nehmen. Nur so bleiben auch weniger grosse Arbeiten in Erinnerung. Zum Beispiel eine Metallplatte die seit 30 Jahren in einem mit Säure gefüllten Gefäss in Auflösung begriffen ist, oder ein mit Mikroskopen bestücktes Labor, in dem die Wunderwelt von Kristallen aus Tränen zu bestaunen ist, sowie ein Mobile aus menschlichen Ersatzteilen – Prothesen, Herzschrittmacher, künstliche Gelenke, Hörgeräte. Weil es unmöglich scheint, allen Ideen und Geistesblitzen beschreibend gerecht zu werden, ist es ein schöner Gedanke, sich vorzustellen, dass dereinst das Ganze der überaus eindrucksvollen Ausstellung nur im kollektiven Gedächtnis ihrer Besucherinnen und Besucher aufgehoben sein wird.

Illustrationen: © 2015, Domaine de Chaumont-sur-Loire - Centre d’arts e t de nature (oben),
© 2018 Jürg Bürgi, Basel (Mitte, unten).

Francis Bacon und Alberto Giacometti in der Fondation Beyeler

Buchumschlag
Die Gegensätze könnten nicht grösser sein: Hier der Bergeller Bergler Alberto Giacometti (1901-1966), Sohn einer Künstlerfamilie, dort Francis Bacon (1909 – 1992) in Dublin geboren, Sohn eines gewalttätigen ehemaligen Berufsoffiziers. Vom 29. April bis zum 2. September 2018 hängen und stehen 100 ihrer Werke in neun Räumen der Fondation Beyeler in Riehen und warten darauf, dass das Publikum die «erstaunlichen Gemeinsamkeiten» entdeckt, denen die Kuratorin Catherine Grenier, Direktorin der Fondation Giacometti in Paris, und die Kuratoren Ulf Küster von der Fondation Beyeler, und Michael Peppiatt, Bacon-Kenner und Freund des Künstlers, auf die Spur gekommen sind. Bei einem Rundgang durch die neun, je einem Thema gewidmeten Räume, werden tatsächlich einige Gemeinsamkeiten sichtbar, doch das Gegensätzliche wiegt schwerer. Gemeinsam war den beiden Künstlern zum Beispiel, dass sie von der Malerin Isabel Rawsthorne fasziniert waren. Gemeinsam war beiden auch, dass sie sich mit der Darstellung von Figuren im Raum befassten und sich dabei käfigartiger Gebilde bedienten. Und eine weitere Gemeinsamkeit war ihre Vorliebe für die Abbildung des menschlichen Gesichts, wobei sie sich beide weniger der Abbildung der Natur als vielmehr der Darstellung des seelischen Befindens verschrieben. In vielen anderen Belangen waren die Gegensätze dagegen unüberbrückbar. Giacometti zeigte seine Modelle – oft Menschen, die ihm nahestanden – immer in würdevoller Menschlichkeit, während Bacon in die abgebildeten Personen seine eigene Zerrissenheit und Lebensqual integrierte. Unterschiedlich war natürlich auch die bevorzugte Technik: Giacometti war in erster Linie Bildhauer, während Bacon ganz der Malerei zugewandt ist. Bacon malte farbig, oft leuchtend farbig, während Giacomettis Werk von Grau- und Brauntönen dominiert wird - auch seine Malerei! Es ist unser erster Eindruck, noch nicht das letzte Wort: Auf die Art, wie Bacons und Giacomettis Werke einander gegenüber gestellt werden, könnte man das Œuvre vieler anderer Künstlerinnen und Künstler konfrontieren und dabei Gemeinsamkeiten sichtbar machen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass auf die Ausstellung nicht ein gemeinsames Plakat – zum Beispiel mit dem Motiv des grossartig gestalteten Katalog-Umschlags – hinweist, sondern zwei. Dabei wird nur in der Schriftzeile eine Gemeinschaftsschau affichiert – «Giacometti Bacon» zeigt die Gipsversion des «Homme qui marche II» und «Bacon Giacometti» das «Portrait of Michel Leiris». Aber sicher ist allemal: Wer nicht auf die behaupteten Gemeinsamkeiten fokussiert, sondern eine reich bestückte und klug aufgebaute Doppel-Ausstellung erwartet, kommt auf jeden Fall auf seine Rechnung. Vor allem die Fülle der Werke Alberto Giacomettis aus der Pariser Fondation Giacometti ist überwältigend. Und auch die Möglichkeit, mehrere von Bacons Tryptichons am gleichen Ort zu sehen, ist einzigartig.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und eine Würdigung der begleitenden Publikation ist
hier zu finden.

Zur Ausstellung erschien eine reich illustrierte Publikation in je einer deutschen und englischen Ausgabe.
Grenier, C., Küster, U., Peppiatt M. (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Bacon-Giacometti. Riehen/Berlin 2018 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag), 204 Seiten, € 58.00/CHF 62.50
Illustration: Umschlag des Ausstellungskatalogs.

Basel Short Stories im Kunstmusem Basel

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«Basel Short Stories» heisst eine Ausstellung des Kunstmuseums Basel, die vom 10. Februar bis 21. Mai 2018 «von Erasmus bis Iris von Roten» mit bekannten und unbekannten Exponaten aus öffentlichen und privaten Sammlungen ein kulturhistorisches Panorama entfaltet, das vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht. Das schön gestaltete Begleitbuch aus dem Christoph Merian Verlag ist mehr als ein gewöhnlicher Ausstellungsführer. Es hilft, das kollektive Gedächtnis zu stärken, indem es eine Fülle von Verbindungen zwischen den Epochen der lokalen Geschichte sichtbar macht und den Reichtum der Museumsbestände in Erinnerung ruft.

Die ausführliche Besprechung der Ausstellung und der Publikation
steht hier als PDF zur Verfügung.

Helfenstein, J., Düblin, K., Wismer, M. (Hg): Basel Short Stories. Von Erasmus bis Iris von Roten. Basel 2018 (Christoph Merian Verlag). 238 Seiten, CHF 38.00

Night Fever im Vitra Design Museum

Nightclubs als Gesamtkunstwerke – Innenarchitektur, Möbeldesign, Grafik und Kunst, Licht und Musik – waren in vielen Grossstädten seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Zentren der populären Kultur. Hier tobte sich die Kunstszene aus, hier mussten sich Schwule und Lesben nicht verstecken, hier wurden – zum Teil in atemberaubendem Tempo – neue Musikstile kreiert und technisches Equipment lanciert, bevor der Kommerz die kreative Subkultur überrollte und der Niedergang seinen Anfang nahm. Unter dem Titel «Night Fever – Design und Clubkultur 1960 bis heute» zeigt das Vitra Design Museum in Weil am Rhein vom 17. März bis 9. September 2018 in Zusammenarbeit mit dem Brüsseler Design Museum «ADAM» die erste umfassende Ausstellung zur Design- und Kulturgeschichte der Nachtclubs. Die chronologisch aufgebaute Ausstellung präsentiert sowohl Erinnerungsstücke wie (Plakate, Möbel und Nachtschwärmer Outfits) als auch Filmdokumente Musikbeispiele und technische Einrichtungen von Clubs in Italien, Spanien, Deutschland, Grossbritannien und den USA. Ein Rundgang durch die mit grosser Kennerschaft von Jochen Eisenbrand, Catharine Rossi und Katarina Serulus gestaltete Schau führt von den Anfängen in den 1960er Jahre, als junge
DJ klein
Menschen erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg bereit und in der Lage waren, um in der Freizeit Geld auszugeben. In Italien und Grossbritannien entstanden – oft als Teil von grossen Einkaufszentren – neuartige Unterhaltungsstätten, wo nicht nur getanzt wurde, sondern auch Konzerte, Theateraufführungen und Performances stattfanden. Zehn Jahre später waren Discos modern, wo Schallplatten mit Musik verschiedener Stilrichtungen gespielt wurden. Die immer bessere technische Ausrüstung ermöglichte neue, die Sinne berauschende Licht- und Toneffekte, und die Disc-Jockeys, die bis dahin nur dafür sorgten, dass keine Lücken im Soundteppich entstanden, entwickelten sich zu eigenständigen Tonkünstlern. Klar, dass sich die Entwicklung in technischer Hinsicht und der Zwang, dem anspruchsvollen Publikum zu gefallen, auch auf die Architektur der Freizeittempel auswirkte. Sie wurden immer grösser, ihre Einrichtungen immer aufwändiger – bis das System kollabierte, weil hohe Mieten und Immobilienpreise in den Cities mit den Einnahmen nicht mehr zu finanzieren waren und das Publikum von Festivals und anderen Grossveranstaltungen absorbiert wurde. Man mag bedauern, dass sich die Ausstellung «Night Fever» ausschliesslich auf die Auswirkungen der Clubszene auf Design und Kultur konzentriert. Die Ausweitung des Fokus auf die historische Einbettung in den Kontext einer besonders aufgewühlten Epoche – Stichworte: Vietnamkonflikt, Drogenkonsum, Studentenbewegung, Kalter Krieg – hätte illustrieren können, dass Diskotheken mehr sein konnten als «ein Organismus hedonistischer Ausschweifung» (so Damon Rich im Essay «Palladian Demise»). Im Begleitbuch zur Ausstellung zeigt Iván López Munuera am berühmten «Palladium» in New York, dass die «Gemeinde der Tanzenden … mit ihrem Treiben eine bestimmte Art des politischen Engagements» verkörperten. In der Anfangszeit waren Männer-Tanzlokale illegal; mindestens jeder vierte Gast in einem New Yorker Nightclub musste weiblich sein. Die Tanzfläche, schreibt Munuera, sei damals ein umkämpftes Territorium gewesen, das überwiegend von sexuellen Minderheiten in Beschlag genommen wurde. Afroamerikaner, Lateinamerikaner und Frauen rangen um ihre Emanzipation, die ihnen in der Nixon-Ära und später unter Reagan «demokratische Repräsentanz» sichern half. «Als Folge dieses Prozesses bildete sich eine Art kollektiver Intelligenz heraus, die …ihre grösste Wirkung entfaltete, als es ab Mitte der achtziger Jahre darum ging, gemeinsam auf die Krise von HIV und Aids zu reagieren.»

Der Katalog der Ausstellung, der in einer deutschen und einer englischen Ausgabe erschien, ist eine sehr schön gestaltete, ebenso facettenreiche wie tiefgründige Materialsammlung mit einer Reihe von aufschlussreichen Aufsätzen und Interview-Texten.
Kries, M., Eisenbrand, J., Rossi, C. (Hrsg.): Night Fever. Design und Clubkultur 1960-heute. Weil am Rhein 2018 (Vitra Design Museum), 400 Seiten, €59.90.

Illustration: © Jürg Bürgi, Basel (2018), Installationsansicht aus der Ausstellung (DJ Larry Levan, Paradise Garage, New York, 1979 mit Grafik von Keith Haring.)

Bruce Nauman im Schlaulager der Laurenz-Stiftung

Über 170 Arbeiten auf über 4000 Quadratmetern: Eine so umfassende Retrospektive auf das in über 50 Künstlerjahren entstandene Werk von Bruce Nauman (*1941) gab es seit Jahrzehnten nicht mehr. In Zusammenarbeit mit dem Museum of Modern Art in New York bietet die Laurenz-Stiftung in ihrem Schaulager in Münchenstein bei Basel vom 17. März bis zum 26. August 2018 einen einzigartigen Einblick in das kreative Universum eines der wichtigsten Kunstschaffenden der Gegenwart. Auf dem Parcours durch die von Kathy Halbreich (Laurenz Foundation und MoMA) mit Heidi Naef und Isabel Friedli (Schaulager) kuratierte Schau sind unter dem Titel «Disappearing Acts» sowohl ganz frühe als auch neueste Werke zu entdecken, darunter – als Weltpremieren – die 3D-Video-Installation «Contraposto Split» (2017) und die vor kurzem fertiggestellte Skulptur «Leaping Foxes» (2018), eine kopfstehende Variante der «Animal Pyramide» von 1989. Selbstverständlich sind auch die seit Jahren als Ikonen der Gegenwartskunst geltenden
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Neonröhren-Installationen prominent präsent. Unübersehbar ist die Fülle der Medien und Materialien, die Nauman für seine Werke verwendet. In der Vorbereitungsphase arbeitet er seit jeher ganz traditionell mit Entwurfszeichnungen auf Papier, bevor er seine Ideen umsetzt und dabei neben vergänglichem und dauerhaftem Material für Skulpturen und Environments in grossem Massstab auch Fotos, Video, Film und Neonröhren verwendet. Typisch für Nauman ist, dass seinen Arbeit kein einheitliches stilistisches oder konzeptuelles Prinzip zugrunde liegt – was ihm gelegentlich auch zum Vorwurf gemacht wurde. Kuratorin Kathy Halbreich fand in den «verschiedenen Erscheinungsweisen des Verschwindens» ein Muster in Naumans Gesamtwerk, das sie nun ihrem Ausstellungskonzept zugrunde legte.«Disappearing Acts», schreibt sie, «weckten und fesselten seine emotionale, intellektuelle und formale Aufmerksamkeit von seinen letzten Studienjahren bis heute». Uns fiel auf unserem ersten Rundgang auf, wie oft der Künstler ausweglose Situationen darstellt: Die beklemmende Enge der «Corridor-Installation», die 100 Varianten des «Live and Die»-Neon-Tableaus, die Endlosschleife der Neon-Installation «The True Artist Helps the World by Revealing Mystic Truths», die Folter von Clowns in Videos, oder das von Todesfurcht geprägten Finale des gefilmten Zwiegesprächs «Good Boy Bad Boy»: «I don’t want to die. You don’t want to die. We don’t want to die. This is fear of death.» Auf ähnliche Beklemmung zielen die bewegten Neon-Skulpturen aus, die Sex mit Mord und Selbstmord verbinden. Und viele andere.

Weil im Schaulager der Platz für drei weitere, besonders raumgreifende Arbeiten fehlte, sind diese im Kunstmuseum Basel ausgestellt. Das Ausstellungsticket, das zum dreimaligen Eintritt ins Schaulager berechtigt, gilt auch für einen einmaligen Besuch des Kunstmuseums.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung, auch unter Berücksichtigung der Publikationen, folgt demnächst
hier.

Der Bedeutung der Retrospektive entsprechend befassen sich mehrere neue Publikationen mit Bruce Naumans Werk.

Der Katalog enthält weit mehr als die ausgestellten Werke und Erläuterungen dazu, er bietet vielmehr ein Inventar des ganzen Œuvres und versammelt Aufsätze der bedeutendsten Fachleute über zahlreiche Aspekte von Naumans Kunst-Kosmos. Halbreich, K. et al. (Hrsg.): Bruce Nauman: Disappearing Acts. Münchenstein/New York 2018 (Laurenz-Stiftung/Museum of Modern Art). 356 Seiten, CHF 75.00.

Eine weitere Publikation befasst sich aus kunstwissenschaftlicher Sicht mit der Zeitgenossenschaft von Naumans Werk. Ehninger, E. (Hrsg. für die Laurenz-Stiftung): Bruce Nauman: A Contemporary. Münchenstein 2018 (Laurenz-Stiftung). 262 Seiten, CHF 28.00

Für Besucherinnen und -besucher steht ein sorgfältig gestaltetes Ausstellungsheft zur Verfügung, in dem der Künstler und seine Werke kenntnisreich vorgestellt werden.

Illustration: Bruce Nauman, The True Artist Helps the World by Revealing Mystic Truths (Window or Wall Sign), 1967, Ausstellungskopie, © Bruce Nauman / 2018, ProLitteris, Zürich, Foto: Tom Bisig, Basel (Ausschnitt der Ausstellungsansicht).

RE-SET: Die Paul Sacher Stiftung im Museum Tinguely

Das Museum Tinguely spricht in seinen Texten zur Ausstellung «RE-SET – Aneignung und Fortschreibung in Musik und Kunst seit 1900», die es vom 28. Februar bis 13. Mai 2018 präsentiert, von einer «Zusammenarbeit». In Wirklichkeit gewährt das Museum Tinguely der «Paul-Sacher-Stiftung» Gastrecht für eine grosse Ausstellung, während im Erdgeschoss ein bedauernswert kurzer, von Annja Müller-Alsbach kuratierter «kunsthistorischer Prolog» zu sehen ist, der auf die Wirkung von Marcel Duchamps ikonischen Werken auf das Kunstschaffen von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart fokussiert.

Sosehr man das Ungleichgewicht bedauern mag: Sehr sehenswert sind die ungleichen Teile der Ausstellung allemal.

Im zweiten Obergeschoss dokumentiert die Sacher-Stiftung, losgelöst von jedem Bezug zur bildenden Kunst, ihre weltweit einzigartige Rolle bei der Erforschung der Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Schade, dass die Ausstellung ganz davon absieht, Brücken zwischen den kreativen Welten zu bauen, obwohl sowohl zum Beispiel Igor Strawinsky als auch Arnold Schönberg, die in der Stiftung prominent vertreten sind, enge Beziehungen zur bildenden Kunst pflegten: Strawinsky verglich sein Komponieren mit dem Malen von Bildern; er liess sich von Gemälden inspirieren und sass dutzendfach seinen Künstlerfreunden Modell. Und der doppelt begabte Schönberg gehörte in München zum Kreis des «Blauen Reiter».

Spanschachtel
Mauricio Kagel ist zwar im Durchgang zum Treppenhaus ein kurzer Auftritt mit seiner witzigen Hommage zu Ludwig van Beethovens 200. Geburtstag, dem WDR-Film «Ludwig van» von 1970 vergönnt – aber wer mag schon 90 Minuten stehend vor einem kleinen Bildschirm verbringen? Zudem: Dass das Werk in Zusammenarbeit mit Kagels Künstlerfreunden Joseph Beuys, Ursula Burghardt, Robert Filiou Klaus Lindemann, Heinz-Klaus Metzger, Dieter Roth, Otto Tomek und Stefan Wewerka entstand, hätte mannigfaltige Möglichkeiten geboten, das Zusammenspiel unter Kunstschaffenden zu illustrieren.

Bartók
Die Kuratorin Heidy Zimmermann und der Kurator Simon Olbert inszenieren ihr Thema in vier Kapiteln. Im ersten Raum zeigen sie Komponisten – unter dem Titel «Eigentümlich fremd» – im Dialog mit historischen Vorbildern, darunter der mittelalterliche Musiker Guillaume de Machaut (gest. 1377), aber auch Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven oder, aus neuerer Zeit, Erik Satie (1866-1925). Sie alle lieferten Material für Bearbeitungen. Besucherinnen und Besucher steht beim Eingang ein Tablet-Computer mit einem speziellen Programm zur Verfügung, das die ausgestellten Notenblätter zum Klingen bringt.

Im zweiten Raum wird gezeigt, wie Komponisten ihr eigenen Einfälle variierten und weiter entwickelten. Igor Strawinsky war einer der fleissigsten Selbstbearbeiter, wie am Beispiel des Balletts «Der Feuervogel» gezeigt wird, das er mehrfach bearbeitete, um es konzerttauglich zu machen. Das dritte Kapitel befasst sich mit «Anbindungen an die Volksmusik». Es zeigt, wie Komponisten Reisen unternahmen, um die musikalische Volkskultur festzuhalten – wie das zum Beispiel mit wissenschaftlichem Eifer der Ungar Béla Bartok (1881-1945) in Südosteuropa oder der amerikanische Musiker Steve Reich (*1936) im westafrikanischen Ghana betrieb. Beide liessen sich in ihrem Werk durch ihre Erfahrungen nachhaltig inspirieren.

Erstaunlich ist die im vierten Teil der Ausstellung illustrierte Erkenntnis, dass sich Komponisten des 20. Jahrhunderts weniger oft vom Jazz und anderer populärer Musik ihrer Zeit beeinflussen liessen als von älteren Werken der Musikgeschichte oder von der Folklore. Aber es gibt Ausnahmen! In der Ausstellung ist zu sehen und zu hören, wie Dmitri Schostakowitsch ein Orchester den Schlager «Tea for Two» spielen lässt. Auch die Filmindustrie griff – unter Mithilfe der Komponisten – gern auf Konzertstücke zurück. Strawinskys Ballettmusik «Le Sacre du printemps» von 1913 gehört zum Soundtrack des Disney-Films «Fantasia» aus dem Jahr 1940, und György Ligetis (1923-2006) Stück «Atmosphère» von 1961 wurde ausserhalb der Avantgarde-Konzertsäle weltberühmt, als Stanley Kubrick es 1968 in
Bethan Huws, Forest VI
seinen epochemachenden Film «2001: Odyssee im Weltraum» einbaute.

Der Reichtum des musikalischen Teils der Ausstellung RE-SET könnte dem Eindruck Vorschub leisten, der eingangs erwähnte, in drei Räumen konzentrierte «kunsthistorische Prolog» sei bloss als Teaser, laut Wörterbuch ein «Neugier weckendes Werbeelement», für den musikalischen Teil zu verstehen. Ganz falsch! Die Konzentration auf Duchamps ikonische Werke – das Pissbecken «Fountain» von 1917 und der «Flaschentrockner» von 1914 – bringt das Thema der Ausstellung auf einzigartige Weise auf den Punkt. Im ersten Raum dominieren die Wiedergänger der «Fountain», die rund um Duchamps in mehreren Serien gestaltetes Multiple «Boîte-en-valise», ein Mini-Museum in einem Karton-Koffer, versammelt sind. Im zweiten Raum sind teils schwarz-weisse, teils kolorierte Postkarten aus dem Jahr 1917 zu entdecken, die der französische Künstler Saâdane Atif (*1970) gesammelt hat. Alle zeigen ausschliesslich Brunnen im öffentlichen Raum.

Auf ähnlich intensive Art befasst sich die walisische Künstlerin Bethan Huws (*1961) in ihrem Werk mit Marcel Duchamp. Im dritten und grössten Raum des «Prologs» dokumentiert sie ihre Recherchen zu dem bis heute einflussreichen Ahnherrn der Konzeptkunst. Und daneben ist ihr «Forest» von 2008-2009 aufgebaut, ein Wald von Flaschengestellen, über denen die Leuchtschrift «At the Base of the Brain There is a Fountain» signalisiert, was sowohl für die Bildende Kunst als auch für das Musikschaffen gilt: Am Grund des menschlichen Bewusstsein sprudelt eine Quelle der Kreativität.

Zur Ausstellung erschien ein reich illustriertes Katalogbuch. Obert, S. und Zimmermann, H. (Hg.): RE-SET. Rückgriffe und Fortschreibungen in der Musik seit 1900. Eine Publikation der Paul Sacher Stiftung. Mainz 2018 (Schott Music). 328 Seiten, CHF 35.00 (Vorzugspreis während der Ausstellung).

Die Besprechung mit Illustrationen steht
hier auch im PDF-Format zur Verfügung.

Illustrationen: Oben: Still aus dem Fernsehfilm von Mauricio Kagel "Ludwig van" (WDR, 1970); Mitte: Béla Bartok transkribiert Volksmelodien (1910er Jahre) © 2018 Bartok Archivum, Budapest; unten: Bethan Huws in ihrem «Forest». © 2018 Jürg Bürgi, Basel.

Gottfried Honegger: Selbstbiografie in Gesprächen

Buchcover
Der Grafiker, Maler und Plastiker Gottfried Honegger (1917 bis 2016) ist in der Schweiz in erster Linie als prominenter Vertreter der Zürcher konkreten und konstruktiven Kunst sowie als Gestalter öffentlicher Räume bekannt. In Frankreich, wo er während Jahrzehnten lebte und arbeitete, gehörte er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den einflussreichsten Kunstschaffenden. Vor allem seine Bemühungen um eine systematische Kunsterziehung in der Schule trugen entscheidend zu seinem Renommee bei. Während er in der Schweiz, besonders in Zürich, als notorischer Nörgler berüchtigt war, genoss er in seiner Wahlheimat grösste Wertschätzung. Indem der Journalist Ruedi Christen den Künstler in acht sorgfältig redigierten Interviews ausführlich zu Wort kommen lässt, entsteht eine lebendige Selbstbiografie. Sie belegt einerseits, dass Honegger nicht unrecht hatte, wenn er klagte, man erweise ihm in seiner Heimat nicht den Respekt, den er und seine Arbeit verdiene, und anderseits zeigt sie, dass er mit polemischen Äusserungen seinen Ruf als Kratzbürste immer wieder gerne selbst bestätigte.

Christen, Ruedi: Gottfried Honegger. Eine Biographie in Gesprächen. Zürich 2017 (Limmat Verlag). 240 Seiten, CHF 42.00.

Hier geht es ausführlichen Besprechung des Buches.

Sofia Hultén im Museum Tinguely

Hultén Porträt
Das Museum Tinguely in Basel präsentiert vom 24. Januar bis zum 1. Mai 2018 das faszinierende Werk der 1972 in Stockholm geborenen, im britischen Birmingham aufgewachsenen und ausgebildeten und seit 20 Jahren in Berlin wirkenden Künstlerin Sofia Hultén. Die von Lisa Anette Ahlers kuratierte Schau unter dem zunächst rätselhaften Titel «Here’s the Answer. What’s the Question?» entstand in Zusammenarbeit mit der Ikon-Gallery in Birmingham und umfasst neun skulpturale Installationen und acht Videofilme aus der Zeit von 2008 bis 2017. In drei Fällen dokumentieren Filme die Entstehung der Installationen. Zwei rote Fäden sind bei einem Rundgang sogleich auszumachen: Sofia Hultén manipuliert erstens alltägliche Fundstücke zu irritierenden Artefakten und sie spielt zweitens dabei gern mit dem Lauf der Zeit. Besonders zeigt sich das Verfahren beim Objekt «Mutual Annihilation» von 2008: Eine alte, grün bemalte Schubladen-Kommode wird zunächst sorgfältig renoviert. Die Farbe wird entfernt, die Kratzer und Schrammen werden aufs Penibelste verspachtelt, die Oberflächen geschliffen und geölt. Dann wird alles rückgängig gemacht, die Zeit zurückgedreht: Das Möbelstück erhält seine hässliche grüne Bemalung zurück, die weissen Farbspritzer werden – nach Recherchen über die Art ihrer zufälligen Applikation – erneut aufgetragen; mit Stechbeitel und anderen Werkzeugen wird die Oberfläche, die eben noch sorgfältig poliert worden war, erneut zerkratzt. Indem sie das Objekt in seinen ursprünglichen Zustand zurück versetzte, erläutert die Künstlerin mit schelmischem Lachen, sei es ihr gelungen, die Zeit umzukehren. Umkehren, umstülpen ist ein weiterer Aspekt von Sofia Hulténs Schaffen. Abfallcontainer faszinieren sie in dieser Hinsicht wie Abfallsäcke. Diese leert sie aus, dreht das Innere des Sacks nach aussen und befüllt ihn erneut. Dasselbe übte sie mit einem Container: Sie schweisste das mächtige Behältnis aus einander und setzte es – umgestülpt – erneut zusammen. Ironische Distanz ist immer präsent, wenn sich die Künstlerin ganz ernsthaft ans Werk macht. So liess sie sich von dem Buch «Problem der Erkennung» des russischen Kybernetikers Mikhail Bongard (1924-1971) anregen, der 1967 eine Reihe von 100 Rätseldiagrammen vorlegte, bei denen es galt, ein Muster zu erkennen. Sofia Hultén benützt zur Präsentation ihrer eigenen Rätsel gebrauchte Lochplatten, die in Werkstätten als Werkzeughalter dienen. Sie arrangierte darauf Gegenstände und Werkzeuge zu Bongard-Problemen, darunter auch Materialien, von denen unklar bleibt, wozu sie einst dienten.

Die faszinierende Ausstellung im Museum Tinguely erfordert Geduld beim Schauen und, wenn möglich, sachkundige Erläuterungen, wie sie im sorgfältig gestalteten und reich illustrierten Katalog zu finden sind oder von versierten Sachverständigen bei Führungen vermittelt werden.

Zu den Ausstellungen in Birmingham und Basel erschien ein gemeinsamer Katalog in deutscher und englischer Sprache: Ahlers, L. A. und Watkins, J. (Hg.): Sofia Hultén – Here’s the Answer. What’s the Question?, Birmingham/Basel 2017, 128 Seiten, CHF 28.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
steht hier zur Verfügung .

Illustration: Sofia Hultén. © Jürg Bürgi 2018

Paul Klee – Die abstrakte Dimension in der Fondation Beyeler

Wer bisher glaubte, das riesige, oft ausgestellte Werk des Malers und Kunstlehrers Paul Klee (1879-1940) biete keine Überraschungen mehr, darf sich vom 1. Oktober 2017 bis 21. Januar 2017 in der Fondation Beyeler in Riehen eines Besseren belehren lassen. Anhand von 110 Bildern aus allen Schaffensperioden demonstriert Kuratorin Anna Szech unter dem Titel «Paul Klee - Die abstrakte Dimension» die lebenslange Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Gegensatz von Gegenständlichkeit und Abstraktion. Während sich viele seiner Zeitgenossen – Kasimir Malewitsch (1878-1935) und Wassily Kandinsky (1866-1944) reklamierten zum Beispiel beide die Erfindung für sich – verbissen stritten, hielt sich Paul Klee abseits und bewegte sich leicht und spielerisch auf dem polemisch verminten Gelände. Es ist sicher nicht falsch zu behaupten, dass Klees Fähigkeit, auch in abstrakten Gemälden in Farben und Formen Hinweise auf Gegenständliches zu geben und sie so lesbar zu machen, zu seinem Erfolg beitrug.
Porträt aus der Ausstellung
Die Ausstellung, welche sich über sieben Säle erstreckt, zeigt in chronologischer Folge und nach thematischen Werkgruppen geordnet, Klees Arbeit im Spannungsfeld von figurativer und abstrakter Malerei beginnt in München, wo er 1910 schnell Anschluss an die Künstlerszene fand, in der Franz Marc und Wassily Kandinsky den Ton angaben. Der junge Klee liess sich allerdings nicht vereinnahmen. Er kennt auch die Pariser Avantgarde und war von Paul Cézanne ebenso beeindruckt wie von Paul Matisse und Pablo Picasso. Und besonders faszinierten ihn die Farbfeld-Bilder von Robert Delaunay. Für sein späteres Werk von elementarer Bedeutung erweist sich die Reise nach Tunesien, die er 1914 vor dem Kriegsausbruch mit den Freunden August Macke (1887-1914) aus München und Louis Moilliet (1880-1962) aus Bern unternahm. Es ist faszinierend in der Ausstellung zu verfolgen, wie sich der junge Klee zuerst den Formen und dann den Farben zuwendet. Auf der Tunesienreise notiert er euphorisch im Tagebuch: «Die Farbe hat mich. … Ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler.» Der Erste Weltkrieg – die Freunde Macke und Marc fallen 1914, bzw. 1916 – macht dem Überschwang ein Ende. «Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter die Kunst», bemerkt er in dieser Zeit, und fährt fort, «während eine glückliche Welt, eine diesseitige Kunst hervorbringt.» Ein faszinierender Gedanke, dass die Abstraktion dem Jenseitigen, will wohl sagen: der Seelenwelt zuzuordnen ist, während das Bodenständige einer heilen Welt vorbehalten ist. Dürfen wir annehmen, dass sich der in Bern aufgewachsene Paul Klee, der 1916 als Deutscher eingezogen wurde, aber vom Frontdienst verschont blieb, gegen die Schrecken wehrte, indem er während der Kriegsjahre gegenständlich malte: Auf den ausgestellten Werken sind Gärten, Häuser, Kirchen gut erkennbar. Der grösste Raum ist dem Jahrzehnt 1921 bis 1931 gewidmet, in dem Klee nicht nur malte, sondern Staatlichen Bauhaus in Weimar und später in Dessau als Meister lehrte. Auch während dieser sehr intensiven und fruchtbaren Schaffensperiode sind Gegenständliches und Abstraktes immer neben einander als «reichblühender farbiger Vielklang» präsent. Am Ende der zwanziger Jahre und zu Beginn der dreissiger Jahre werden Reisen nach Ägypten und Italien in ähnlicher Weise wie der Aufenthalt in Tunesien zu wichtigen Inspirationsquellen. Sehr eindrücklich sind die pointillistischen Mosaikbilder, die nur sehr selten als Serie gezeigt werden können. Den Schluss der überaus eindrücklichen Schau, die von der Begeisterung und der Expertise der Kuratorin durchdrungen ist, bilden Werke aus der Spätzeit, in der – gleichsam im Schlussspurt – über 2000 Bilder entstanden, die von Zeichen und Buchstaben geprägt sind, in denen aber immer wieder auch menschliche Gesichter und Gestalten erkennbar sind.

Illustration: Paul Klee (Ausschnitt), fotografiert von Felix Klee, 1921 in Possenhofen. © Klee-Nachlassverwaltung, Bern

Zur Ausstellung erschien in einer deutschen und einer englischen Ausgabe eine Publikation mit Beiträgen von Anna Szech, Teodor Currentzis, Fabienne Eggelhöfer, Jenny Holzer, Regine Prange und Peter Zumthor.
Szech, Anna (Hrsg.): Paul Klee – Die abstrakte Dimension. Riehen/Berlin 2017 (Fondation Beyeler/Hatje-Cantz Verlag). 236 Seiten, CHF/EUR 62.50.


«An Eames Celebration» im Vitra Design Museum

Mit einer alle Facetten des Werks umfassenden Präsentation feiert das Vitra Design Museum in Weil am Rhein vom 30. September 2017 bis zum 25. Februar 2018 das einflussreichste Architekten- und Designerpaar des 20. Jahrhunderts – Charles (1907-1978) und Ray (1912-1988) Eames. Die «Eames Celebration» besteht aus vier Ausstellungen: Der Hauptteil vermittelt im Vitra Design Museum unter dem Titel «The Power of Design» einen Überblick über das lebenslange gemeinsame Schaffen des Ehepaars Eames. Die Schau, ursprünglich für das Barbican Centre, London, konzipiert und nun von Kuratorin Jolanthe Kugler ergänzt und neu arrangiert, gibt Einblick in die Entstehung ihrer Möbel; sie zeigt, wie langwierig die Entwurfsprozesse verliefen und mit welcher Sorgfalt das Team im Eames Office arbeitete. Dargestellt wird die ganze Bandbreite des Werks von Charles und Ray Eames, die auch als Ausstellungsarchitekten, Fotografen und Filmschaffende wirkten. Zu sehen sind Entwürfe, Modelle, Zeichnungen, Skulpturen, Filminstallationen und Diaschauen. Gleich nebenan, in der Vitra Design Museum Gallery, ist unter dem Titel «Play Parade» eine Eames-Ausstellung für Kinder aufgebaut. Von Ray und Charles Eames entworfene Spielzeuge sind hier nicht nur zu besichtigen, sie sollen auch ausprobiert werden. In dem bunt inszenierten Raum gibt es zudem Nischen, in denen Kurzfilme zu sehen sind, mit denen das Ehepaar Eames, die auf ausgedehnten Reisen gesammelte Spielsachen lebendig machte. Das Vitra-Museum verfügt über eine einzigartige Sammlung von Möbel-Modellen und -Entwürfen, die das ständige Experimentieren von Charles und Ray Eames dokumentieren. Unter dem Titel «Kazam! Die Möbelexperimente von Charles und Ray Eames» werden diese Preziosen nun im Schaudepot zugänglich gemacht. Und schliesslich die Filme! Nicht weniger als 100 Kurzfilme produzierten Charles und Ray Eames im Lauf der Jahre. Dazu kamen Multimedia-Installationen (als es diesen Begriff noch gar nicht gab) und Ausstellungen über Wissenschaft und Technik. Nicht weniger als 60 dieser Filme sind nun im Rahmen des Eames-Festivals im Feuerwehrhaus zu sehen. Wer alle anschauen will, muss sich allerdings Zeit nehmen: Nicht weniger als acht Stunden und zehn Minuten, rechnet Kuratorin Jolanthe Kugler vor, dauert das ganze Programm. Auch die übrigen Teile des Ausstellungs-Parcours sind es übrigens wert, ohne Eile betrachtet zu werden.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogbuchs gibt es
hier.
Zur Ausstellung erschien in einer deutschen und einer englischen Version die Publikation: Kries, M., Kugler, J. (Hrsg.): Eames Furniture Source Book. Weil am Rhein 2017 (Vitra Design Museum). 336 Seiten, €49.90

Schweizer Performancekunst von 1960 bis heute

Unter dem Titel «PerformanceProcess» präsentiert das Museum Tinguely in Basel vom 19. September 2017 bis zum 28. Januar 2018 einen Überblick über «60 Jahre Performancekunst in der Schweiz». Die Schau, kuratiert von Jean-Paul Felley und Olivier Kaeser sowie Sévérine Fromaigeat ist eine erweiterte Version eines Festivals, welches das Centre Culturel Suisse in Paris 2015 realisiert hatte. Sie versammelt «über 50 künstlerische Positionen», wie das in den Zeiten der Beliebigkeit genannt wird, um jede Verbindlichkeit zu vermeiden. Ergänzt wird die Präsentation durch eine enge Kooperation mit der Kaserne Basel und der Kunsthalle. Beide Institutionen tragen ihre eigenen Programme zum Projekt bei.
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Erwartungsgemäss stehen am Anfang des von Video-Sequenzen und Fotografien dominierten Ausstellungs-Parcours im zweiten Stock Jean Tinguelys grandioses Selbstzerstörungs-Happening in New York, das Weltuntergangs-Show in der Wüste von Nevada und andere Spektakel ähnlichen Kalibers. Gemessen an diesen wegweisenden Werken, haben die jüngeren und jüngsten Performances die grösste Mühe, eine eigenständige, über den grassierenden Narzissmus hinaus weisende Wirkung zu entfalten. Wenn einer sich beim Joggen in einem Tunnel filmen lässt, ein anderer Zauberkunststücke zum Besten gibt und ein Dritter alte Herren im Superman-Outfit ins Gelände schickt, weckt das beim Publikum, wenn’s hoch kommt, ein Achselzucken. Die Ausstellung, sorry, dokumentiert nichts als eine grosse Ratlosigkeit. Wenn alles erlaubt ist, und sich niemand mehr provoziert fühlt, wenn sich Performance-Künstlerinnen und -Künstler in erster Linie auf ihren Körper konzentrieren, wie das an der Medien-Vorbesichtigung behauptet wurde, sind kreative Überraschungen nicht zu erwarten. Die Kunsthalle, kündigte Direktorin Elena Filipovic in ihrem Pressetext an, beende ihr Programm «mit einem grossen Finale in den Nachtstunden des 18. Februar 2018 bis hin in den frühen Morgen des 19. Februar 2018, wenn um 4 Uhr morgens alle Lichter der Stadt für den Morgestraich gelöscht werden – dem rituellen Auftakt der Fastnacht (sic!), Basels ganz eigener ‹Kollektiv-Performance›». Kein Witz? Kein Witz.

Illustration: Jean Tinguely, Study for an End of the World, N° 2, 1962
Filmstill aus “David Brinkley’s Journal”, NBC, 1962 © LIFE Magazine; Foto: Life Magazine

Wim Delvoye im Museum Tinguely

Dem belgischen Konzeptkünstler Wim Delvoye, geb. 1965, widmet das Museum Tinguely in Basel vom 13. Juni 2017 bis 1. Januar 2018 die erste grosse Retrospektive in der Schweiz. Die in Zusammenarbeit mit dem MUDAM (Musée d’Art Moderne) in Luxemburg von Andres Pardey kuratierte Schau zeigt Werke eines witzig-kreativen Geistes, der weit mehr kann, als mit seinen inzwischen weltweit berüchtigten Verdauungsmaschinen das Publikum zu provozieren. Das heisst, dass diese aufwändig und wissenschaftlich genau den menschlichen Verdauungsvorgang simulierenden Apparate auch in dieser Ausstellung einen wichtigen Platz einnehmen. Aber sie sind in einen Kontext eingebettet, der die Intention des Künstlers verständlich macht, für alle Menschen, ohne Unterschied der Herkunft und Klasse und für alle gleichermassen lebensnotwendige natürliche Prozesse zu simulieren.
Truck Tire Detail
Das Konzept, erläuterte Wim Delvoye bei der Vorbesichtigung, sei stark von seiner Faszination für die Forschung am menschlichen Genom und anderen Errungenschaften der Biomedizin beeinflusst. Wie sich in der Ausstellung zeigt, ist dies allerdings nur eine der Quellen, aus denen sich Delvoyes Imaginationen speisen. Eine zweite sind die traditionellen Handwerke, zum Beispiel die Kunstschnitzerei in Indonesien oder die Porzellanmalerei in Holland. Diese Fertigkeiten nutzt er zur Ironisierung und Verfremdung von Alltagsgegenständen – zum Beispiel, indem er 18 Propangasbehälter wie Delfter Porzellan bemalen oder indem er eine ganze Baustelle mit Schubkarre, Betonmischer und allem weiteren Drum und Dran aus Tropenholz schnitzen lässt. Die dritte Abteilung zelebriert das Ornament in sakraler Brechung: Die nach oben strebende, nach Ansicht von Wim Delvoye, von den europäischen Wäldern inspirierte Gotik als Baustil und Weltanschauung ist hier auf vielfältige Weise präsent: zum Beispiel in den ornamental geschnitzten Lastwagenreifen, in dem «Suppo» genannten, von der Decke hängenden extrem verdrehten neugotischen Kathedralenmodell oder, draussen im Park, im – ebenfalls neugotisch gestalteten – «Cement-Truck», der ganz aus lasergeschnittenen, langsam rostenden Cortenstahl-Platten zusammengesetzt ist.

Zur Ausstellung erschien ein reich illustrierter Katalog mit sachkundigen deutsch/englischen Texten.
Andres Pardey (Hrsg. für das Museum Tinguely): Wim Delvoye, Paris 2017 (Somogy éditions d’art), 224 Seiten, CHF48.00.

Eine Besprechung der Ausstellung und des Katalogs gibt es
hier.

Illustration: Wim Delvoye: Ohne Titel (Geschnitzter LKW-Reifen) 2013 (Detail). Foto © Jürg Bürgi, 2017.

Kapelle für Tinguelys «Mengele Totentanz» und ein Vorraum von Jérôme Zonder

«Mengele Totentanz» nannte Jean Tinguely seine aus Trümmern des im August 1986 abgebrannten Bauernhofes seiner Nachbarn in Neyruz (FR) gestaltete Skulpturengruppe. Sie entstand nach und nach, zuerst der Hochaltar aus einer zur Unkenntlichkeit deformierten Maisernte-Maschine der Marke «Mengele», und die vier «Ministranten»: «der Bischof», «der Fernseher», «die Gemütlichkeit» und «die Schnapsflasche». Während «der Bischof», zusammengebaut aus Motorsäge, Bajonett und Karabinerlauf, Tinguelys Überzeugung von der Komplizenschaft der katholischen Kirche mit der Mord-Maschinerie der Nazis verkörpert, symbolisieren die drei anderen Skulpturen, wie Roland Wetzel im neuen Katalog zur Werkgruppe schreibt, «das Unpolitische». Sie stehen «für den individuellen Rückzug ins Private oder für die Meinungsbildung am Stammtisch, die Mechanismen der Ausgrenzung in Gang setzen kann und damit Populismus und Totalitarismen durch Ignoranz begünstigt». Auch die 13 weiteren Teile versinnbildlichen den Totentanz und ihren Tanzmeister Josef Mengele, der auf der Rampe im Vernichtungslager Auschwitz ungezählte Juden aus ganz Europa in die Gaskammern schickte.

Eingang zum Mengele Totentanz von Jérôme Zonder
Als angemessenen Ausstellungsraum für den «Mengele Totentanz», stellte sich Jean Tinguely zeitlebens eine Kapelle vor, nachdem er das Ensemble 1987 in Venedig, im Rahmen einer Retrospektive im Palazzo Grassi in Venedig in der gegenüber am Canale Grande liegenden Kirche San Samuele präsentiert hatte. Ein Jahr später überzeugte er seine Freunde Paul Sacher und Fritz Gerber, dass die Werkgruppe zusammenbleiben und im besonders totentanz-affinen Basel ausgestellt werden sollte. Tatsächlich kaufte die Firma Hoffmann-La Roche einen Teil der Skulpturen und Tinguely versprach, den verbliebenen Rest der Gruppe beizusteuern. Er entwarf einen Kapellenraum unter Paul Sachers Anwesen auf dem Schönenberg. Als Tinguely 1991 starb, kam das Werk als eines der ersten in das von der Roche finanzierte und von Mario Botta gebaute Tinguely-Museum.

Was dort bis heute fehlte, war ein ganz auf den «Mengele Totentanz» zugeschnittener Ort. Diesen hat das «Museum Tinguely», wie es nun offiziell und mit frischem Logo heisst, in einem neu eingebauten Raum geschaffen. Tinguely, darf man annehmen, hätte seine Freunde daran: Die neue Kapelle ist dunkel und düster, gerade gross genug, um ein eindrückliches sowohl visuelles als auch akustisches Erlebnis zu ermöglichen.

Es ist ein Glücksfall, dass zur Eröffnung des neuen Ausstellungsraums der Pariser Künstler Jérôme Zonder (*1974) den Vorraum gestaltete. Im Foyer des Totentanzes – in seinem «Dancing Room» – zeigt Zonder vom 6. Juni bis 1. November 2017 eine Art Ballsaal der organisierten und der individuellen Grausamkeit. Drei Seiten sind mit Bildern des Schreckens bedeckt. Die schwarz-weissen Bleistift-, Kohle- und
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Fingerabdruck-Zeichnungen orientieren sich teils an Filmszenen, an tief im kollektiven Gedächtnis verankerten Kriegsbildern oder auch an einer aus dem Basler Kunstmuseum bekannten Totentanz-Darstellung von Hans Baldung Grien (1484-1545) aus der Zeit um 1520. Das kleine, rund 31 mal 19 Zentimeter messende, farbige Tafelbild, hat Zonder überlebensgross schwarz-weiss, neu interpretiert. Auch die übrigen Exponate bestechen durch Zonders einzigartiges Zeichentalent und seine technische Fertigkeit.

Auch in Zukunft sollen junge Kunstschaffende Gelegenheit erhalten, den Vorraum zum «Mengele Totentanz» im Dialog mit Tinguelys Werk zu gestalten.

Eine Publikation über Jérôme Zonder aus der édition Galerie Eva Hober, Paris, ist angekündigt.

Zur Neueinrichtung von Tinguelys «Mengele Totentanz» erschien auf Deutsch, Französisch und Englisch eine Publikation mit aktuellen Texten von Sophie Oosterwijk, Sven Keller, Roland Wetzel und dem Nachdruck eines Gesprächs, das Margrit Hahnloser 1988 mit Jean Tinguely über den Totentanz führte.
Museum Tinguely (Hrsg.): Mengele Totentanz. Heidelberg, Berlin 2017 (Kehrer Verlag), 64 Seiten, CHF 24.00 (Museumsausgabe), ca. €22.00 (Buchhandel).

Illustrationen: Jérôme Zonder: Eingangsbereich zum «Mengele Totentanz» © Bild Jürg Bürgi, 2017; unten links: Hans Baldung Grien: Tod und Frau (1518-1520, Kunstmuseum Basel), rechts: Jérôme Zonder: Tod und Frau nach Baldung Grien (2017).

Stephen Cripps im Museum Tinguely

Cripps Plakat
Der Brite Stephen Cripps (1952-1982) gehört zu den Künstlern, die hierzulande bisher nur Spezialisten bekannt waren. Das hat zum einen damit zu tun, dass er sehr früh (an einer Überdosis Methadon) gestorben ist, und zum andern, dass seine weit gespannten Interessen – Performance, Musik, Film, bildende Kunst – vor allem in Konzepten, Zeichnungen und Collagen sowie in meist wenig ausführlich dokumentierten Happenings ihren Niederschlag fanden. So entwarf er einen mechanischen Garten, der unter anderem mit Gummi-Enten auf einem Fliessband und explodierenden Vogelscheuchen aufwarten sollte. Eine andere «Maschinen-Performance» bestand darin, dass ein Helikopterrotor einen Galerieraum attackierte und sich gleichzeitig selbst zerlegte. Und in dem Projekt «Shooting Gallery» wurde das Publikum angehalten, mit einer modifizierten Pistole auf Musikinstrumente – Becken, Xylophon – zu schiessen. In seinen pyrotechnischen Werken waren die Schalleffekte der Detonationen ebenso wichtig wie Feuer und Rauch. In der thematisch arrangierten Ausstellung im Museum Tinguely zeigt Kuratorin Sandra Beate Reimann vom 27. Januar bis 1. Mai 2017 in Zusammenarbeit mit dem Henry Moore Institute in Leeds erstmals auch, wie sich Cripps’ bisher unveröffentlichte Klangkompositionen anhören. Er setzte dabei quietschende Türen ein und liess sich von allerlei Lärmquellen – Düsentriebwerke, Rasenmähermotoren – inspirieren. Die über 200, zumeist aus dem Nachlass stammenden Arbeiten, die jetzt in Basel zum ersten Mal zu sehen und zu hören sind, belegen eine entfesselte künstlerische Fantasie, die schon zur Zeit ihrer Konzeption alle Grenzen sprengte, und heute aus Sicherheitsgründen keine Chance zur Realisierung erhielte. Jean Tinguelys Maschinenskulpturen und vor allem seine Zerstörungsaktionen entfalteten für Cripps eine starke, vorbildhafte Wirkung. Die überaus sehenswerte Retrospektive ist alles andere als eine im Schnellgang zu konsumierende Kunstschau. Sie verlangt von den Besuchenden vielmehr Geduld und Phantasie und vor allem die Bereitschaft, die Exponate aus der Nähe zu betrachten. Wer sich darauf einlässt, wird ein künstlerisches Universum ganz eigener Art kennen lernen.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
gibt es hier.

Zur Ausstellung erschien – in je einer deutschen und englischen Version – ein sehr ansprechend gestalteter Katalog mit Beiträgen der Kuratorin und weiterer sachkundiger Kenner von Cripps und der britischen Kunstszene der 1970er-Jahre. Als erste umfassende wissenschaftliche Veröffentlichung zum Werk des Künstlers ist die Publikation das Referenzwerk für die weitere Erforschung von Cripps’ Œuvre.
Sandra Beate Reimann (Hrsg. für das Museum Tinguely): Stephen Cripps – Performing Machines. Wien 2017 (VfmK Verlag für moderne Kunst GmbH), 192 Seiten, CHF 48.00, €38.00

Claude Monet in der Fondation Beyeler

Monet Porträt
Zu ihrem 20. Geburtstag schenkt die Fondation Beyeler in Riehen dem Publikum eine opulente Werkschau des besonders beliebten Impressionisten Claude Monet. Kurator Ulf Küster begnügt sich allerdings zum Glück nicht mit einer oberflächlichen Präsentation des Seerosen- und Landschaftsmalers. Vielmehr zeigt er Monet als einen grandiosen, seines immensen handwerklichen Könnens allzeit bewussten und innovativen Künstler. Die Ausstellung beleuchtet die Entwicklung seines Werks in den mittleren, malerisch besonders ergiebigen Schaffenszeit – von den 1880er Jahren bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – und demonstriert, wie konsequent sich Monet von der Weichzeichner-Welt des Impressionismus auf die Abstraktion hinbewegte. Es ist faszinierend, an den 62, thematisch gruppierten Werken die zahlreichen Experimente mit wechselnden Licht- und Farbenspielen zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten zu beobachten. Auch Äusserlichkeiten fallen den Betrachtenden auf: eine erstaunliche Gleichförmigkeit der Bildformate - die meisten 60 bis 70 Zentimeter hoch und 80 (selten 100) Zentimeter breit – und die heute schwülstig wirkenden vergoldeten Rahmen. Die Fondation Beyeler verdient hohes Lob, dass sie die berühmte Darstellung der Kathedrale von Rouen im Morgenlicht (La Cathédrale de Rouen: Le Portail, Effet du Matin von 1894), die zu ihrer Sammlung gehört,
Rouen
neu und schlicht rahmen liess. Der Unterschied zu den umgebenden Bildern ist frappant, und man würde sich gern vorstellen, wie sich andere Gemälde in neuen Rahmen präsentieren würden. Würde die magische Leuchtkraft ebenso viel stärker zur Geltung kommen? Diese magische Leuchtkraft – als ob der Künstler in seine Werke unsichtbare Leuchten eingebaut hätte – sowie die faszinierende Gestaltung der Schatten sind Elemente, welche in dieser Schau besonders schön zur Geltung kommen. Natürlich gehört auch das riesige Seerosen-Bild «Le Bassin des Nymphéas» aus der Sammlung der Fondation Beyeler zur Ausstellung. Als ein Höhepunkt des Alterswerks, zwischen 1917 bis 1920 entstanden, bildet es nicht den Auftakt, sondern den Schlusspunkt einer rundum gelungenen Schau. Sie verdient, nicht nur als Publikumsmagnet im Jubiläumsjahr wahrgenommen, sondern auch als kuratorische Glanzleistung anerkannt zu werden.
Zur Ausstellung erschien ein traditionell und sorgfältig gestalteter Katalog mit sechs kenntnisreichen Essays und erläuternden Texten und 130 Abbildungen:
Ulf Küster (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Monet. Riehen/Berlin 2017 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag), 180 Seiten. CHF 62.50/€ 58.00.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs gibt es
hier.

Illustrationen: Foto-Porträt von Claude Monet in der Ausstellung (Ausschnitt).
«La Cathédrale de Rouen» (1894) im neuen Rahmen. Foto © Jürg Bürgi 2017

Musikmaschinen/Maschinenmusik im Museum Tinguely

Vom 19. Oktober 2016 bis 22. Januar 2017 präsentiert das Museum Tinguely in Basel zum ersten – und wohl zum einzigen – Mal Jean Tinguelys vier monumentale «Méta-Harmonien» aus den Jahren 1978 bis 1985 als Ensemble. Als erste dieser riesigen Musikmaschinen, die auf einzigartige Weise seine Ansichten über Töne und Klänge, Schall und Lärm illustrieren, konstruierte der Künstler 1978 für die legendäre «Hammer-Ausstellung» des Basler Galeristen Felix Handschin die dreiteilige «Méta-Harmonie», in die er zahlreiche Musikinstrumente einbaute. Sie ist nach Überzeugung der Kuratorin Annja Müller-Alsbach die melodiöseste der im grössten Raum des Museums versammelten Musikmaschinen. Der Mäzen Peter Ludwig war seinerzeit schnell zur Stelle und sicherte sich das Werk, das jetzt zur Sammlung des Museums moderner Kunst, Stiftung Ludwig in Wien gehört.

Im Jahr darauf, als Tinguely gemeinsam mit Bernhard Luginbühl das Frankfurter Städel Museum in Beschlag nehmen durfte, entstand die ähnlich üppig mit Instrumenten bestückte, ebenfalls dreigeteilte «Méta-Harmonie II». Ein ganzes Klavier, eine mit Druckluft betriebene Melodica und zahlreiche Schlaginstrumente sind für die Skulptur charakteristisch. Gleichzeitig baute er um einen alten Bührer-Traktor herum seine Fahrskulptur «Klamauk», die nicht nur lärmte, sondern auch mit Rauch und Knallfröschen auftrumpfte.

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Die Tokioter Warenhauskette «Seibu» gab 1984 mit ihrem Auftrag den Anlass, die Reihe der Méta-Harmonien mit einer Nummer 3 fortzusetzen. Die Maschine fällt – nicht zuletzt wegen der offenbar grosszügigen finanziellen Ausstattung – durch ihre barocke Üppigkeit auf. Co-Kuratorin Sandra Reimann berichtet, dass Tinguely und sein Assistent Seppi Imhof zur Vorbereitung bei Musik Hug in Basel gross Perkussions-Equipment eingekauft hätten. Es ist sicher kein Zufall, dass diese Maschine zuerst den Namen «Pandämonium» verpasst bekam. Denn sie produziert nicht nur höllische Klänge, sondern bietet auch eine Fülle grotesker visueller Reize – vom Tierschädel bis zur Plastikeule, von der Souvenir-Kuhglocke bis zum Fondue-Caquelon – die mit Hilfe von 52 Elektromotoren in Bewegung gehalten werden. «Pandämonium 1 – Méta-Harmonie 3» gehört zur Sammlung des «Sezon Museum of Modern Art» in Karuizawa, einer als Ausflugsziel und Ferienort beliebten Kleinstadt in der Präfektur Nagano, am Fuss des Mount Asama, eines der aktivsten Vulkane des Landes.

1985 baute Tinguely seine «Méta-Harmonie IV», die Seppi Imhof nach Angaben des Künstlers «Fatamorgana» betitelte. Sie entstand nicht im Atelier, sondern in einer riesigen, nicht mehr benutzten Giesserei-Halle der von Roll in Olten, wo zahlreiche hölzerne Gussformen gelagert waren. Diese farbigen Holzräder prägen den Charakter der über zwölf Meter langen und mehr als vier Meter hohen Skulptur, die zur Sammlung des Museums Tinguely gehört. Eine Kuhglocke, sowie eine Trommel und ein Becken sind die einzigen «Musikinstrumente»; die übrigen akustischen Effekte werden von industriellen Werkstücken erzeugt, darunter Metallfässer, Eisenstücke, Hämmer und Schraubenschlüssel. So entsteht zum gemächlich sich drehenden Räderwerk eine fabrikmässige Geräuschkulisse.

Eine weitere «Méta-Harmonie» ohne Nummerierung entstand um 1980 im gigantischen Gemeinschaftswerk «Le Cyclope» in Milly-le-Forêt. Das Werk ist in der Ausstellung in einem Film zu sehen, der insbesondere zeigt, wie sich die Maschine ins Ensemble der begehbaren Grossskulptur einfügt und mit ihren Kratz- und Schleifgeräuschen zur düsteren Klangkulisse beiträgt.

Neben Tinguelys sechs massiven, breitspurig auftretenden Klangskulpturen ist zu Beginn der Ausstellungszeit eine Wand-Installation des Berner Künstlers Zimoun zu sehen. Sie ist elf Meter lang und sie heisst, was sie ist: «275 prepared dc-motors, filler wire». An jedem der 275 Elektromotörchen rotiert ein ein Meter langer Schweissdraht. Die Drähte schlagen gegen einander und gegen die Wand, was eine rauschende Klangkulisse erzeugt.

Im Lauf des weiteren Verlaufs der Ausstellung werden weitere Künstlerinnen und Künstler als Gäste den Dialog mit Tinguelys «Méta-Harmonien» aufnehmen. Das Begleitprogramm umfasst zahlreiche weitere – zumeist musikalische – Events.- Eine komplette Übersicht bietet die Website des Museums (
http://www.tinguely.ch/de/ausstellungen_events/events).

Zur Ausstellung ist zudem eine reich bebilderte Publikation erschienen. Sie enthält neben einer detaillierten Beschreibung der ausgestellten Kunstwerke Texte von Annja Müller-Alsbach, Sandra Beate Reimann und Heidy Zimmermann sowie ein Vorwort von Roland Wetzel.

Hier geht es zur ausführlichen Besprechung von Katalog und Ausstellung.

Illustration «Méta-Harmonie I» (Ausschnitt) © Jürg Bürgi 2016

Roni Horn in der Fondation Beyeler

In sechs Räumen zeigt die Fondation Beyeler in Riehen vom 2. Oktober 2016 bis zum 1. Januar 2017 an beispielhaften Arbeiten aus den letzten 20 Jahren das Werk der amerikanischen Künstlerin Roni Horn. 1955 in New York geboren, wuchs sie im Rockland County, im südlichsten Zipfel des Staates New York auf. Ihr Kunststudium an der Rhode Island School of Design schloss sie 1975 mit dem Bachelor ab, bevor sie an der Yale University in New Haven ihr Master-Studium mit Schwerpunkt Skulptur aufnahm, reiste sie 1975 als 20-jährige zum ersten Mal nach Island. Diese Reise und zahlreiche weitere Aufenthalte auf der Vulkaninsel im Nordatlantik waren prägend für Horns künstlerische Entwicklung. Roni Horn ist ungeachtet ihrer Ausbildung zur plastischen Künstlerin in erster Linie Zeichnerin. Dabei benutzt sie den Zeichenstift nicht nur als künstlerisches Werkzeug, sondern auch als Werkzeug
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der Selbstvergewisserung. Das Zeichnen ermöglicht ihr, neue Ideen auszuprobieren, bevor sie sie dann umsetzt – zum Beispiel als eine Art Collage – wie die imposante Galerie von zehn abstrakten Bildern in der Ausstellung zeigen. Ausgangsmaterial sind bei allen mehrere ähnliche Zeichnungen, die dann sorgfältig mit dem Messer zerschnitten und neu zu einem Grossformat zusammengesetzt wurden. Eröffnet wird die Schau aber durch die Foto-Installation «a.k.a.» von 2008/09, eine Sammlung von 30 paarweise präsentierten Porträts der Künstlerin als Kind, Jugendliche und Erwachsene. Da die Bilder nicht chronologisch geordnet sind, bleibt immer ein Rest an Zweifel, ob es sich auf den Fotos immer um die gleiche Person handelt. Besonders beeindruckend fanden wir die neusten Papierarbeiten, die unter dem Titel «Th Rose Prblm» auf vielfältige Weise und in grosser Farbigkeit an Gertrude Steins (1874-1946) meistzitierte Gedichtzeile «Rose is a rose is a rose is a rose» erinnern – und wohl auch als Hommage an die Mutter aller Avantgardisten gedacht. Horn weitet Steins Vorgabe aus, indem sie weitere Redewendungen verwendet, in denen das Wort «Rose» vorkommt. Der Titel, dem sie, wie im Hebräischen, die Vokale bis auf das O in der Rose entzieht, ist ein zusätzliches Aperçu. Im dritten Raum zeigt Kuratorin Theodora Vischer, welche die Schau in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin gestaltete, 15 grossformatige Fotografien des Wassers der Themse. «Still Water (The River Thames, for Example)» entstand 1999. Unterhalb der Bilder platzierte Fussnoten fordern die Betrachtenden auf, nicht nur zu schauen, sondern auch nachzudenken: «Is water sexy?» wird da etwa gefragt, oder es werden Anekdoten über Vorkommnisse in und an der Themse zitiert – alles in einem Tonfall, als ob man einem Selbstgespräch der Künstlerin zuhören würde. Der grösste Raum der Ausstellung ist drei zylindrischen Glasskulpturen-Paaren mit dem Titel «Water-Double» vorbehalten.
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Die viele Tonnen schweren Gebilde sind alle gleich gross, aber von verschiedener Farbe. Sie wirken mächtig durch ihre Masse und vermitteln paradoxerweise gleichzeitig den Eindruck von Zerbrechlichkeit – weil wir Glas spontan als fragil erleben. Von allen Exponaten lässt sich bei dieser Arbeit am ehesten die Inspiration durch die isländische, von Wasser, Eis und Vulkanasche geprägte Landschaft vorstellen. An den Schluss der Schau haben die Ausstellungsmacherinnen eine zweite, ganz neue und erstmals gezeigte Porträtarbeit gestellt. Der Raum präsentiert 67 einzelne, in Gruppen arrangierte Fotografien von Objekten, die Roni Horn zwischen 1974 und 2015 zum Geschenk gemacht wurden. Es sind Bücher darunter, aber auch ein Liebesbrief, das versteinerte Ei eines Dinosauriers oder ein ausgestopfter Schwan. In der Summe, ist die Künstlerin überzeugt, lässt sich dieses Inventar von Geschenken und Mitbringseln auch als Selbstporträt lesen.

Im Verlauf der Ausstellung erscheint eine Broschüre mit einem Gespräch Theodora Vischers mit der Künstlerin und Installationsaufnahmen der Ausstellung. Zudem steht ein Heft mit Saaltexten zur Verfügung.

Illustrationen: Oben: «Th Rose Prblm» (2015/2016), unten: «Water Double, v 1-v. 3 (2013-2016). Fotos aus der Ausstellung © Jürg Bürgi, Basel.

Der Blaue Reiter in der Fondation Beyeler

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Unter dem Titel «Kandinsky, Marc und Der Blaue Reiter» inszeniert Kurator Ulf Küster vom 4. September 2016 bis 22. Januar 2017 in der Fondation Beyeler in Riehen eine wunderbare Schau über eine kurze Epoche der Kunstgeschichte, die zuerst für die Entstehung der Moderne und dann – wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte – für die Versöhnung der Deutschen (und sicher auch vieler Schweizerinnen und Schweizer) mit der bis dahin unverstandenen «abstrakten Kunst» eine herausragende Bedeutung erlangte. Die Ausstellung beginnt mit farbenfrohen Landschaften aus Murnau, dem inspirierenden Sommersitz Gabriele Münters, der ab 1909 zu einem Treffpunkt der Künstlerpaare Münter-Kandinsky und von Werefkin-von Jawlensky wurde und, zwei Jahre später, auch von Franz und Maria Marc, die im nahen Sindelsdorf logierten. Dort entstand nach einem Krach in der «Neuen Künstlervereinigung München» (NKVM) das Konzept für den Almanach «Der Blaue Reiter», als Plattform für einen offenen, möglichst wenig durch Regeln eingeengten Neuanfang der Künste. Zu Recht dient die Publikation in der Ausstellung als Dreh- und Angelpunkt: In einem Kabinett gibt es die Möglichkeit, in einer digitalisierten Ausgabe des Almanachs blätternd das Konzept eines Malerei, Literatur und Musik umfassenden Gesamtkunstwerks zu erleben und gleichzeitig einzelne, im Buch abgebildete Exponate in natura zu sehen. Ganz im Sinn der Grundgedanken des «Blauen Reiters» zeigt die Ausstellung die 70 Werke der Künstlerfreunde in einem Mit- und Nebeneinander auf ihrem je eigenen Weg von der figurativen zur abstrakten Malerei.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs gib es
hier.

Zur Einführung in die Ausstellung dient im ersten Saal eine animierte Wandprojektion, mit der die Künstlerinnen und Künstler und ihre Wirkungsstätten vorgestellt werden. Zudem bietet die Fondation Beyeler ein vielfältiges Begleitprogramm mit Workshops, Vorträgen, Lesungen und einem Konzert und Führungen.

Zur Ausstellung erschien in einer deutschen und einer englischen Ausgabe ein sehr schön gestalteter Katalog: Ulf Küster (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Kandinsky, Marc und Der Blaue Reiter. Riehen/Ostfildern 2016 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag), 188 Seiten, CHF 62.50/€58.00

Katharina Fritsch und Alexej Koschkarow im Schaulager in Münchenstein

Wenn zwei Künstler eine Zusammenarbeit vereinbaren, heisst das nicht, dass sie sich gemeinsam an einem Ort an die Arbeit machen. Der kreative Prozess, zeigt sich auch am Projekt «Zita – Щара. Kammerstück von Katharina Fritsch und Alexej Koschkarow», das vom 12. Juni bis zum 2. Oktober 2016 im Schaulager in Münchenstein bei Basel zu sehen ist, verläuft eigenwillig und widersetzt sich gewöhnlich jeder banalen Kooperation. «Zita», der Beitrag, den die 1956 in Essen geborene Künstlerin zum «Kammerstück» beisteuert, nimmt Bezug auf die letzte Kaiserin der am Ende des Ersten Weltkriegs untergegangenen Habsburger Monarchie.
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Er besteht aus zwei leuchtend farbigen Werken. Das erste, eine Gruppe von drei Figuren – zwei Bauernfrauen und ein Bauernkind, den kleinen, kunstvoll aus Maisstroh gefertigten Figuren aus dem Repertoire des traditionellen slowakischen Kunsthandwerks nachgebildet – ist im ersten von drei Räumen eines eigens für diese Präsentation im Erdgeschoss des Schaulagers aufgebauten Gehäuses platziert. Die mit der Spritzpistole leuchtend gelb pigmentierten Gestalten sind das Erste, was die Besucher sehen – eine Art Begrüssungskomitee, dem Publikum frontal zugewandt. Zuvorderst steht das Kind mit einem grünen Ball, dahinter die Magd mit Besen und roter Schürze, daneben die Mutter mit einem weissen Tuch über dem rechten Arm. Wer sich im Raum umsieht, erkennt allerdings, dass die Figuren ihre Aufmerksamkeit nicht nur den Ankömmlingen zuwenden, sondern auch dem rechts vom schmalen Eingang platzierten Kachelofen. Die Tür zum Feuerraum ist offen. Zu sehen ist ein Feuerschein und einige
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schwarze Holzscheite. Doch die von Alexej Koschkarow geschaffene, glänzend weiss bemalte Ofen-Skulptur irritiert nicht nur durch den gefährlich offenen Feuerraum, sondern durch ihre ganze Gestalt: eine explodierende Handgranate. Folgen wir der Dramaturgie des «Kammerstücks» von Fritsch und Koschkarow, so findet in diesem Raum der erste Akt statt, repräsentiert durch die (nur angeblich) heile Welt im weitläufigen Kakanien, die durch den Ersten Weltkrieg beendet wird. Die Kaisersgattin Zita, geborene von Bourbon und Parma, lebte fortan im Exil und starb 96-jährig 1989 im Johannes-Stift in Zizers im Kanton Graubünden. Bei der Einbalsamierung der Leiche in Chur wurde das Herz entnommen und in der
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Familiengruft im Kloster Muri im Kanton Aargau (in dem auch das Stammhaus der Familie, die Habsburg, steht) bestattet. Die Trauerfeier im Wiener Stephansdom und die Überführung des Sarges in die Kaisergruft wurde in einer fünfstündigen Zeremonie mit allergrösstem Pomp und in Anwesenheit der gesamten Nomenklatura der Republik Österreich durchgeführt. Im Wissen um diese groteske Geschichte ist der aus billiger MDF-Platte hergestellte blaue Sarg auf orangen Böcken, mit dem Katharina Fritsch im zweiten Raum Zitas Auftritt in dem Kammerstück endgültig beendet.

Der Doppeltitel der Ausstellung – «Zita – Щара» – weist daraufhin, dass Alexej Koschkarow, 1972 in Minsk (Weissrussland) geboren, dort und in Düsseldorf ausgebildet, mit Zita, dem scheinbar unverwüstlichen Symbol der Donaumonarchie, wenig anzufangen weiss – zumal die Erinnerungen an das Erste und Zweite Weltkriegsgeschehen am Fluss Schtschara (Щара) und in ganz Weissrussland nicht nur in seiner Familie noch sehr lebendig sind. So trennen sich die Wege der Künstlerin und des Künstlers schon nach dem ersten Raum. Den dritten bespielt Koschkarow, der in New York lebt und arbeitet, mit eigenen Werken, von denen er eines, «Das was keinen Namen hat» genannt,
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eigens für diese Ausstellung konzipiert hat. Es handelt sich um eine über zwei Meter hohe, schwarz-weisse Skulptur. Man kann sich gut vorstellen, das Kunst-Stück als Modell eines riesigen, begehbaren Denkmals zu sehen, dessen oberer Teil über Treppen und eine tunnelartige Zufahrt erreichbar ist. Dort öffnet sich, auf eine Seite hin, wie das aufgerissene Maul eines Molochs die Eingangshalle einer Festungsanlage, die von Geschütz-Scharten mit ihren Deckungen gekrönt wird. Und zuoberst, rings um den turmartigen Ausguck, halten drei kräftige, mit Kugeln und Stöcken bewaffnete, behelmte, nackte Amazonen mit drei Kampfhunden Ausschau. Gleich gegenüber diesem standfesten Sinnbild der Brutalität hat Koscharow seine Skulptur «Schtetl» platziert. Der aus kleinen Holzstücken zusammengesetzte, eigentlich Frieden und idyllische Harmonie ausstrahlende Häuserhaufen ist sofort als bedroht zu erkennen. Die ganze Anlage steht auf gebrochenen und notdürftig geflickten Stelzen. Und in der Mitte der Siedlung ist ein gewaltiges Beil zu sehen. Im Unterschied zum Schwert von Dionysos II. von Syrakus, unter dem der Schmeichler Damokles zum Festmahl geladen wurde, hat das Beil im
Schtetl
menschenleeren Schtetl schon eingeschlagen: Es steckt tief in einem Baumstrunk. Obwohl die beiden Werke in diesem Raum ohne Bezug zu einander entstanden sind – «Schtetl» von 2012 gehört zur Sammlung der Emanuel Hoffmann-Stiftung und ist als Dauerleihgabe im Basler Kunstmuseum deponiert – entsteht eine intensive, beklemmende Spannung zwischen ihnen. Sie wird noch verstärkt durch die an der Wand hängenden, vom Künstler «Smearings» genannten grauen Frottagen «Höllentor» (2012) und «Bellevue» (2014). Wer will, darf die beiden grossformatigen Leinwände als Abschluss des Kammerstücks betrachten und einen Bezug zum Anfang der Schau herstellen – zumal der Doppeladler sowohl als Symbol Österreich-Ungarns als auch – neuerdings wieder – der Russischen Föderation dient.
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Wie eingangs angemerkt: Das Zusammenspiel der Arbeiten von Katharina Fritsch und Alexej Koschkarow ist reine Interpretationssache. Wie die Schönheit liegt es gänzlich im Auge des Betrachters. Der grosse intellektuelle Aufwand, die künstlerischen Leistungen der beiden unter einen Hut zu zwingen, scheint uns übertrieben. Es ginge einfacher und ehrlicher, und der Ernsthaftigkeit der Künstlerin und des Künstlers angemessener: Wie der grossartige Bildteil des Katalogs nämlich belegt, gibt es zwischen den beiden durchaus zahlreiche Gemeinsamkeiten. Sie betreffen weniger die Sujets, die Art ihrer Inspiration, als vielmehr der ungeheuren Sorgfalt, mit der sie ihre Ideen formen, variieren und schliesslich mit grösstem handwerklichem Geschick umsetzen. Es ist selten, dass man in der Publikation zu einer Ausstellung einen so tiefen Einblick in kreative Prozesse nehmen kann.

Die Ausstellung «Zita – Щара, Kammerstück von Katharina Fritsch und Alexej Koschkarow», ist vom 12. Juni bis 2. Oktober 2016 im Schaulager, Ruchfeldstr. 19 in Münchenstein bei Basel zu sehen. Öffnungszeiten: Donnerstag 13-19 Uhr, Freitag bis Sonntag 11-17 Uhr.
Der Eintritt ist kostenlos.

Katalog: Laurenz-Stiftung. Schaulager (Hrsg.): Zita – Щара, Kammerstück von Katharina Fritsch und Alexej Koschkarow. Mit Beiträge von Jacqueline Burckhardt, Robert Fleck, Julian Heynen und Michael Rooks. Münchenstein/Basel 2016. 168 Seiten, zweisprachig D/E, CHF 28.00

Fotos © 2016 Jürg Bürgi. Von oben nach unten: «Puppen» (Katharina Fritsch, 2016), «Kalter Ofen» (Alexei Koschkarow, 2016), «Sarg» (Katharina Fritsch, 2016), «Das was keinen Namen hat» (Alexei Koschkarow, 2016), «Schtetl» (Alexei Koschkarow, 2014), «Bellevue» (Alexei Koschkarow, 2014).

Michael Landy im Museum Tinguely Basel

Michael Landy, 1963 in London geboren, aufgewachsen und ausgebildet, erhält vom 8. Juni bis zum 25. September 2016 Gelegenheit, sein ganzes bisheriges künstlerisches Schaffen im Museum Tinguely in Basel zu präsentieren. Sein sagenhafter Akt der Selbstentäusserung, mit dem er 2001 unter dem Titel «Break Down» seine 7227 damaligen Besitztümer mit Unterstützung von zehn Helfern zuerst inventarisierte und dann zerstörte – und dem wir 2010 anlässlich der Ausstellung «Under Destruction» am
Landy Porträt sw
gleichen Ort den «Pokal im Wettbewerb um die radikalste Aktion im Kampf zwischen Sein und Haben» zuerkannten – ist in der aktuellen Schau zwar weiterhin zentral präsent, er bildet jedoch nur eine von zahlreichen wohl durchdachten Manifestationen, mit denen sich Landy gegen die existenziellen Herausforderungen einer ungerechten Welt auflehnt. «DerAusstellungstitel ‹Out of Oder› und seine unterschiedlichen Bedeutungen», schreibt Museumsdirektor Roger Wetzel in der Einleitung zum Katalog, «konterkarieren ein Grundprinzip westlicher Konsumgesellschaften. Innovation und Erneuerungen stehen (geplanter) Obsoleszenz und dem Verschleiss durch Gebrauch (und Nicht-Gebrauch) gegenüber.» Verschlissen werden längst nicht nur Gegenstände, obsolet werden auch Menschen – wie Landy es am Beispiel seines, durch einen Arbeitsunfall invalid gewordenen Vaters eindrücklich darstellt. 1995 erfand er mit der Aktion «Scrapheap Services» eine allgemein gültige Metapher für diese organisierte Missachtung der Menschenwürde, indem er eine Putzequipe tausende von Papierfigürchen zusammenkehren und einen Teil dieser Fetzenhaufen zur Erinnerung in einem Glaszylinder aufspiessen liess. Auch an zahlreichen anderen Stellen der Ausstellung zeigt sich, mit wie viel Witz der Künstler seine Botschaften vermittelt. Gewiss: Es ist immer ein bissiger Humor, der uns hier begegnet – und den man in Basel besonders zu schätzen weiss. Das führt auf direktem Weg zu Jean Tinguely, als dessen grosser Bewunderer sich Landy erweist. Als junger Mann faszinierte ihn 1982 die spontane Bereitschaft der Besucher, bei der One-Man-Show in der Tate-Gallery mit den Maschinen zu spielen. Und später befasste er sich intensiv mit Tinguelys legendärem Zerstörungsspektakel «Homage à New York»: Er suchte Überbleibsel der Aktion von 1960; er befragte Zeitzeugen, und er versuchte eine Rekonstruktion des Ereignisses. Wie sich auf dem als Gang zwischen leeren Marktständen inszenierten Parcours zeigt, interessierte sich Michael Landy in den letzten Jahren auch für Heilige und andere fromme Menschen, deren legendäres Leben durch ihr dramatisches Scheitern geprägt war. Anlass dazu gab ihm die Konfrontation mit Gemälden aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die er 2010 bis 2013 als «Artist in Residence» in der Londoner «National Gallery» täglich um sich hatte. Es entstanden zahlreiche Gemälde und überlebensgrosse, zum Teil motorisierte Skulpturen. Insgesamt beeindruckt die von Andres Pardey und Michael Landy gemeinsam kuratierte Ausstellung «Out of Order» als wohl durchdachte, mit Witz, Intelligenz und grosser Sorgfalt gestaltete Werkschau. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier zur verfügung.

Andres Pardey (Hrsg, für das Museum Tinguely, Basel): Michael Landy. Out of Order. Basel/Heidelberg 2016 (Museum Tinguely/Kehrer Verlag). 240 Seiten, CHF 48.00. Der Katalog erschien in einer deutschen und einer englischen Ausgabe.

Illustration © Jürg Bürgi 2016

Neu im Vitra-Campus: Das Schaudepot

Schaudepot
Am Südende des Vitra Campus in Weil am Rhein, gegenüber dem berühmten Feuerwehr-Haus von Zaha Hadid und teilweise über dem schon bestehenden Lager- und Archivkeller des Vitra Design Museums, entwarfen die Architekten Herzog & de Meuron im Auftrag von Rolf Fehlbaum, des «Chairman emeritus» von Vitra und Spiritus Rector der Gestaltung des Campus zu einem weltberühmten Architektur-Park, einen schlichten, fensterlosen Backstein-Bau, um die einzigartige Möbelsammlung des Museums öffentlich zugänglich zu machen. Das Gebäude schliesst unmittelbar an eine bestehende Fabrikationshalle an und erhält durch einen über Treppenstufen erschlossenen «Podest», der sich zu einem grosszügigen Vorplatz weitet, gegenüber dem dominanten Hadid-Bau einen selbstbewussten Auftritt. Im Innern sind in einer Dauerausstellung in chronologischer Ordnung über 400 Stühle und Kleinmöbel zu besichtigen. Die einzelnen Exponate sind dabei nur spärlich beschriftet. Ausführliche Informationen werden über Nummern in einem digitalen Katalog erschlossen, der im Schaudepot auf dem eigenen Smartphone und auf Leih-Tablets zur Verfügung steht. Die ebenerdige Halle bietet auch Platz für kleinere Wechselausstellungen. Im Untergeschoss werden den Besuchenden hinter Glas thematische Einblicke in die Kollektion von mehreren tausend Möbeln und über 1000 Leuchten gewährt. Insgesamt verfügt das Museum über mehr als 100’000 Archivstücke, darunter die Nachlässe von Charles und Ray Eames, Verner Panton und Alexander Girard (dem bis Ende Januar 2017 im Bau von Frank Gehry eine grandiose Schau gewidmet ist).
Dauerausstellung
Zu sehen ist im Untergeschoss des Schaudepots auch eine Rekonstruktion des Ateliers von Charles Eames. Und eine besondere Attraktion bildet gleich daneben das «Schaudepot Lab». Zu sehen sind an der Wand Einzelteile von Stühlen, die in den Schubfächern im darunter aufgestellten Korpus als Materialbibliothek zum Anfassen bereit liegen. Neben den rund 350 Materialproben sind auf Tablets weitere Informationen verfügbar. In dem Raum, erläuterte Co-Direktor Marc Zehntner bei einer Vorbesichtigung, sollen Workshops für Schulklassen sowie Seminare für Studenten und weitere Interessierte stattfinden. Ganz generell sei es ein grosses Anliegen des Museums, der Vermittlung der Designgeschichte mehr Gewicht beizumessen und die Tätigkeit der über 120 Mitarbeitenden sichtbar zu machen. Aus der Cafeteria, «Depot-Deli» genannt, ergeben sich Einblicke in das Museumsbüro, die Bibliothek und in die Restaurierungswerkstatt.

Die Eröffnung des Schaudepots hat den praktischen Nebeneffekt, dass der Vitra Campus an seiner Südseite zur Stadt Weil hin geöffnet wird. Das Gelände wird damit von der Endstation der 8er-Tramlinie der Basler Verkehrsbetriebe (und auch vom Bahnhof Weil der DB) bequem zu Fuss erreichbar.

Das Schaudepot des Vitra Design Museums ist ab 4. Juni 2016 für das Publikum täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet.

Illustrationen © Jürg Bürgi, 2016

Alexander Calder mit Fischli/Weiss in der Fondation Beyeler

Es war die Idee der Kuratorin Theodora Vischer, das Werk von Alexander Calder (1898-1976), dem amerikanischen Altmeister des prekären Gleichgewichts, mit dem Schaffen des ebenfalls von der Equlibristik faszinierten Schweizer Künstler-Duos Peter Fischli (geb. 1952) und David Weiss (1946-2012) in einer gemeinsamen Schau zusammenzuführen. Die Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel dauert vom 29. Mai bis zum 4. September 2016. Zu sehen sind 100 Exponate in 12 Räumen. Der Parcours beginnt im Foyer mit einer – distanzierten – Begegnung der Kinderkostüme von Ratte und Pandabär, den Alter Egos von Fischli und Weiss mit Calders «Otto’s Mobile» von 1952. Und im ersten Saal geht die Konfrontation weiter: Im Vordergrund sind Werke aus der vergleichsweise bodenständigen Serie «Walls, Corners, Tubes», die teils aus ungebranntem Lehm, teils aus
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schwarzem Gussgummi gefertigt sind. Sie stehen im Kontrast zu Calders filigraner Seiltanz-Installation «Tightrope» von 1936. Die folgenden vier Räume sind ganz Calder vorbehalten, dem, wie sich zeigt, in der Ausstellung eindeutig der Lead zukommt. Das zeigt sich besonders am grössten Saal, in dem zwei Dutzend Skulpturen und Mobiles zu einem imposanten Panorama der besonders fruchtbaren Schaffenszeit von 1930 bis 1950 zusammengestellt sind. Inspiriert wurde dieser zentrale Teil der Ausstellung und die Auswahl der gezeigten Werke von einer Präsentation am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, die Calder 1950 selbst inszeniert hatte. Davor ist von Fischli/Weiss ihr populärstes Werk, der Film «Der Lauf der Dinge» zu sehen – zum ersten Mal zusammen mit einer Vitrine von Überbleibseln der ebenso witzigen wie faszinierenden Kettenreaktion. Der Raum daneben vermittelt unter dem Titel «Equilibres (Stiller Nachmittag)»anhand von Schnappschüssen von waghalsigen Gleichgewichts-Arrangements aus Alltagsgegenständen, wie die Idee zum «Lauf der Dinge» gewachsen ist. Etwas abseits der Fondation, auf einem Pflanzblätz am Bachtelenwegli, ist ein Projekt auferstanden, das Fischli/Weiss 1997 in Münster im Rahmen einer Skulpturenausstellung erstmals realisiert hatten: ein sorgfältig angelegter
Rüebli
Bauerngarten mit Blumen und Gemüse,mit Sitzplatz und Geräteschuppen. Es fällt nicht schwer, darin das ideale Gleichgewicht zwischen Natur und menschlichem Handeln zu erkennen. Leider ist die Gewöhnlichkeit des Projekts so gross, dass – wie Patrick Frey schon vor knapp 20 Jahre formulierte – «die künstlerische Arbeit … als solche von vielen Besucherinnen und Besuchern gar nicht erkannt wird». In Riehen kommt erschwerend hinzu, dass es mangels angemessener Signalisation besonderer Anstrengung bedarf, den Garten zu finden.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs folgt demnächst
hier.

Zur Ausstellung ist ein sehr schön gestalteter und überaus informativer Katalog erschienen: Theodora Vischer (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Alexander Calder & Fischli/Weiss. Museumsausgabe: Riehen 2016 (Fondation Beyeler), Buchhandelsausgabe: Ostfildern (Hatje Cantz Verlag), 272 Seiten CHF 62.50 (Museumsausgabe). Der Katalog ist sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache verfügbar.

Illustrationen: Alexander Calder: «Two Acrobat» 1929 (oben); Fischli/Weiss: «Stiller Nachmittag» 1994 (unten). © Jürg Bürgi, 2016 (Bilder in der Ausstellung fotografiert).

Alexander Girard im Vitra Design Museum

Seine herausragende Stellung in der Geschichte der Innenarchitektur und des Textil-Designs des 20. Jahrhunderts verdankt der 1907 in New York als Sohn eines französisch-italienischen Vaters und einer amerikanischen Mutter geborene und in Italien und England aufgewachsene Alexander (Sandro) Girard der Tatsache,
Daisy Face
dass er sehr früh damit begann, seine Interieurs gegen den herrschenden Trend der kühlen Sachlichkeit farbenfröhlich und mit Motiven aus der Volkskunst zu gestalten. Die erste umfassende Rückschau auf sein Werk, die Kurator Jochen Eisenbrand aufgrund des privaten Nachlasses vom 12. März 2016 bis zum 29. Januar 2017 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein präsentiert, zeugt von einzigartiger Kreativität und einer unerhörten Schaffenskraft. Girard plante Häuser und ganze Inneneinrichtungen, darunter das Restaurant «La Fonda del Sol» in New York. Er gestaltete komplette Firmenauftritte – zum Beispiel das Erscheinungsbild der «Braniff International Airlines», die sich damit brüstete, das Ende des schlichten, unattraktiven Flugzeugs («The end of the plain plane») herbeigeführt zu haben– und er entwarf für Herman Miller unzählige Stoff-Kollektionen und Wanddekorationen für Grossraumbüros, die sogenannten «Environmental Enrichment Panels». Girard liess sich von der Natur, von Landschaften und von der Volkskunst inspirieren, denen er auf ausgedehnten Reisen in Europa, Afrika, Asien und vor allem in Nord- und Südamerika begegnete. Seine Sammlung von Volkskunst aus der ganzen Welt umfasste am Schluss nahezu 100’000 Objekte. Zur Pflege und Erforschung dieser immensen Kollektion, die er auch in mehreren grossen Ausstellungen kunstvoll zu inszenieren wusste, gründete er mit seiner Frau 1961 die Girard Foundation. Der Ausstellung im Vitra Design Museum, die das Londoner Design-Studio «Raw Edges» gestaltete, gelingt es, die ganze Vielfalt von Girards gestalterischem Universum fassbar zu machen. Und der von Jochen Eisenbrand herausgegebene und konzipierte prächtige Katalog ist nichts weniger als das wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Inventar eines für die moderne Geschichte der Gebrauchskunst ebenso einzigartigen wie richtungsweisenden Lebenswerks. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier zur Verfügung.

Der Katalog erschien in einer deutschen und einer englischen Ausgabe.
Kries, M., Eisenbrand, J: Alexander Girard. A Designer’s Universe. Weil am Rhein 2016 (Vitra Design Museum). 512 Seiten, € 69.90

Illustration: Daisy Face. Environmental Enrichment Panel #3036, für Herman Miller 1971, Vitra Design Museum, Nachlass Alexander Girard.

Das Museum Tinguely zeigt eine Kunstgeschichte des Tastsinns

Wie schon vor einem Jahr, in der Ausstellung, die sich unter dem Titel «Belle Haleine» dem Geruchssinn widmete, ist Marcel Duchamp auch beim zweiten Versuch des Museums Tinguely in Basel, künstlerische Manifestationen eines der fünf menschlichen Sinne vorzuführen, der Titelgeber. «Prière de toucher» hiess 1947 der Katalog seiner grossen Pariser Surrealisten-Präsentation, der mit einer Schaumstoff-Brust dekoriert war, und «Prière de toucher» ist jetzt der Titel der von Roland Wetzel kuratierten Schau, die in 22 Räumen rund 220 Kunstwerke von 70 Künstlerinnen und Künstlern präsentiert.
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Der überaus abwechslungsreich angelegte Parcours hält ähnlich einer Wundertüte mehrfach Überraschungen bereit. Er beginnt und endet zum Beispiel mit zwei Filmen über die haptischen Erfahrungen von Blinden beim Berühren und «Begreifen» eines Elefanten und beim Malen mit den Händen. Thematisiert werden religiöse Berührungsrituale (Kuratorin: Eva Dietrich) ebenso wie die Darstellung des Tastsinns in allegorischen Darstellungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert (Kuratorin: Lisa Anette Ahlers). Auch wenn die Möglichkeit, Kunstwerke zu berühren, in einem Museum erwartungsgemäss beschränkt sind, erhalten die Besucher durchaus Gelegenheit, einzelne Objekte ausgiebig zu begreifen. In Zusammenarbeit mit der Skulpturhalle stehen Gipsabgüsse antiker Plastiken aus vier Jahrhunderten zum Anfassen mit verbundenen Augen bereit, um ihre Entwicklung von der schematisierten bis zur naturalistischen Darstellung zu erfahren. Selbstverständlich sind auch die aus der Kunstgeschichte der Moderne bekannten Objekte zum Thema zu sehen – von Yves Kleins «Anthropométrie sans titre» mit den Ganzkörperabdrücken von drei weiblichen Aktmodellen, die er 1960 mit seiner patentierten Farbe «International Klein Blue» bemalt hatte, bis zu Marinettis Tastrelief «Sudan-Paris» von 1920, das als praktische Anwendung seines futuristischen Manifests des Taktilismus zu verstehen ist. Insgesamt summiert sich die Schau zu einem eindrücklichen Panorama, das die Vielfalt künstlerischer Auseinandersetzung mit dem menschlichen Tastsinn mit grosser Intensität abbildet. Es ist deshalb ratsam, den Museumsbesuch als anspruchsvolles Entdeckungsabenteuer zu verstehen und sich dafür genügend Zeit zu nehmen.

An Stelle eines Katalogs erschien zur Ausstellung eine 24-seitige Broschüre als Sondernummer der «Weltkunst». Die Beiträge zu einem am 8. und 9. April geplanten Symposium werden später in einer separaten Publikation erscheinen.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung steht
hier.

Jean Dubuffet in der Fondation Beyeler

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«Ich finde, Porträts und Landschaften müssen einander ähneln», schrieb Jean Dubuffet (1901-1985), «das ist mehr oder weniger dasselbe.» Mit dem Titel «Metamorphosen der Landschaft» nimmt Raphaël Bouvier den grossen Anreger der modernen Kunst und Erfinder der «Art brut» beim Wort. Mit rund 100 Werken aus allen künstlerischen Schaffensphasen, von den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis zu seinem Tod, belegt die grosse Retrospektive, die vom 31. Januar bis zum 8. Mai 2016 in der Fondation Beyeler in Riehen zu sehen ist, wie sehr Dubuffets Bilder – egal, ob sie als Köpfe, Körper, Äcker oder urbane Häuser-Haufen in Erscheinung treten – immer als Landschaften zu lesen sind. Die imposante Ausstellung demonstriert zudem, wie sich im Lauf der Zeit seine Farbskala veränderte: Auf Bilder mit lauten Farben folgten Gemälde, auf denen erdige und dunkle Töne dominierten, bevor in den 1960er- und 1970er-Jahren, der für Dubuffet zum Markenzeichen gewordene Hourloupe-Zyklus mit einer trikoloren Palette und schwarz umrandeten Farbflächen folgte. Sie prägt auch den Höhepunkt der Schau in Riehen: Im grössten Ausstellungssaal sind 60 Elemente des riesigen Gesamtkunstwerks «Coucou Basar» zu sehen, das als «animiertes Gemälde» aus Kulissen-Teilen und kostümierten Figuren bestand und Malerei, Skulptur, Theater, Tanz und Musik zu einem grandiosen Spektakel vereint. Die beiden einzigen Kostümfiguren, die aus konservatorischen Gründen noch verwendet werden dürfen, haben während der Ausstellung zweimal wöchentlich – mittwochs um 15.00 und 17.00 Uhr, sowie sonntags um 14.00 und 16.00 Uhr – einen Auftritt. Dubuffet verdankt seinen Ruf als einer der ganz grossen Anreger der Avantgarde aber nicht bloss der Vielfalt seines künstlerischen Schaffens, sondern vor allem seiner ganz vorurteilsfreien Verwendung von naturgegebenem Material. Baumrinde, Laub und Schmetterlingsflügel collagierte er zu einzigartigen Gemälden und aus bemalten Schwämmen konstruierte er kleine Plastiken. Auf seinen Leinwänden spachtelte er die Farbe zu skulpturalen Haufen, er klebte, kratzte und schabte. Bis in die Mitte seiner Jahre schwankte der vielseitig begabte Jean Dubuffet, Sohn einer begüterten Weinhändler-Familie aus Le Havre, zwischen Lebensentwürfen als Künstler und Kaufmann. Seit einer Reise in die Schweiz, kurz nach Kriegsende war, er von der kreativen Kraft psychisch Kranker fasziniert. Er fand dafür die Bezeichnung «Art brut», um damit die Spontaneität und Ursprünglichkeit ihrer Arbeiten deutlich zu machen. «Die wahre Kunst», äusserte er einmal «ist immer da, wo man sie nicht erwartet.» Das Wilde, Anarchische zog ihn an. Zeitweise pflegte er enge Kontakte zu den Surrealisten. Sein grösster Held in der Literatur war der Arzt und Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline (1894-1961), der sich seit dem Ende der 1930er-Jahre als hemmungsloser Antisemit äusserte und sich noch kurz vor Kriegsende in Deutschland der Wehrmacht als Truppenarzt andiente. Der Verehrung Dubuffets tat dies keinen Abbruch. Gleichzeitig war er eng mit der grauen Eminenz des Literaturbetriebs, Jean Paulhan, befreundet, der während der Okkupation für die «Résistance littéraire» arbeitete – aber auch von intensiven Kontakten zu Kollaborateuren profitierte. In der Ausstellung sind diese Verwicklungen kein Thema; aber es ist sicher nützlich sie beim Betrachten von Dubuffets fulminantem Kunst-Universum mit zu bedenken. Zur Ausstellung erschien ein sehr sorgfältig gestalteter Katalog mit kenntnisreichen Texten. Das Museum bietet während der Ausstellung zudem ein reichhaltiges Begleitprogramm an. Besonders hervorzuheben sind die Bemühungen um junge Besucherinnen und Besucher, die bei zahlreichen Gelegenheiten freien Eintritt geniessen.

Raphaël Bouvier (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Jean Dubuffet – Metamorphosen der Landschaft. Riehen/Ostfildern (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag) 232 Seiten, € 58.00/CHF 62.50.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs findet sich
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Illustration: Kostümierte Figur aus «Coucou Bazar». © Bild Jürg Bürgi, 2016

Maria Netter: Augenzeugin der Moderne

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Die Journalistin Maria Netter (1917-1982) war in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine der einflussreichsten Kunstkritikerinnen der Schweiz. Dass sie auch eine ausgezeichnete Fotografin war, zeugt im Museum Tinguely vom 28. Oktober 2015 bis 7. Februar 2016 eine von Annja Müller-Alsbach sorgfältig gestaltete Ausstellung von über 100 Foto-Reproduktionen mit informativen Texttafeln. In Berlin geboren, kam Maria Netter 1936 zum Studium der Theologie und später der Kunstgeschichte nach Basel, wo sie, nicht nur in der Kunstszene eng vernetzt, ein Leben lang blieb. Nach der Promotion bei Joseph Gantner (Dissertation: «Die Postille des Nikolaus von Lyra in ihrer Wirkung auf die Bibelillustration des 15. und 16. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der ‹Icones› Hans Holbeins d.J.») arbeitete sie anderthalb Jahre als Assistentin des Kunstmuseum-Direktors Georg Schmidt und gleiste ihre Karriere als Kunstjournalistin auf. Sie schrieb zuerst für die «Basler Nachrichten», seit 1943 hauptsächlich für die «National-Zeitung», die «Luzerner Neusten Nachrichten», das «St. Galler Tagblatt» und «Die Tat». Später wurde sie als regelmässige Mitarbeiterin des Architekten- und Werkbund-Organs «Werk» beim Fachpublikum zu einer landesweit beachteten progressiven Stimme. Auch die Fachpublikationen «Graphis» und die «Schweizerische Finanzzeitung» boten ihr eine Plattform, ebenso wie die «Die Weltwoche» und die «Schweizerischen Monatshefte». Ihr sicheres und eigenständiges Urteil, ihr ungeheurer Fleiss und ihre Hartnäckigkeit machten es Maria Netter möglich, sich in der von Männern dominierten ersten Liga der helvetischen Kunstkritik einen der vordersten Plätze zu sichern. Das Fotografieren, das sie sich selbst beibrachte, integrierte sie schon früh in ihre Arbeit. Ihre Kleinbild-Leica M3 mit dem lichtstarken Objektiv, das auch Innenaufnahmen ohne Blitz möglich machte, war immer dabei. So wurde sie auch bildmässig zur Augenzeugin der Moderne. Sie dokumentierte Ausstellungen und Atelierbesuche und porträtierte viele der Künstler, über die sie schrieb. Mit dem Rückblick auf die Kunstjournalistin Maria Netter ergänzt das Museum Tinguely seine Reihe mit Arbeiten von Künstler-Fotografen und -Fotografinnen. Sie begann im Frühjahr 2012 mit den Bildern der Baslerin Vera Isler (1931-2015) und setzte sich ein Jahr später mit einer Präsentation der Werke des holländischen Kurators Ad Petersen fort. Von Maria Netter wurden die Exponate aus über 20’000 Aufnahmen ausgewählt, die nach ihrem Tod der Schweizerischen Stiftung für Photographie übergeben wurden. Seit 2014 befindet sich der Nachlass als Dauerleihgabe der Winterthurer Fotostiftung Schweiz beim Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) in Zürich.

Die Publikation «Augenzeugin der Moderne 1945-1975. Maria Netter, Kunstkritikerin und Fotografin» von Bettina von Meyenburg und Rudolf Koella ist im Verlag Schwabe in Basel erschienen, 276 Seiten CHF 48.00.

Eine Besprechung des Buches
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Illustration: Maria Netter fotografiert sich 1960 im Spiegel © Maria Netter/SIK-ISEA, Zürich/Courtesy Fotostiftung Schweiz

Ben Vautier im Museum Tinguely Basel

Bei seinen Landsleuten machte sich Ben Vautier (*1935) durch ein Missverständnis bekannt, als er 1992 am Eingang des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung in Sevilla das Schrift-Bild «La Suisse n’existe pas» anbrachte. Er wollte damit sagen, dass es DIE Schweiz, einen einheitlichen, stromlinienförmigen Schweiz-Eintopf nicht gebe, dass vielmehr die Diversität des Landes seine Existenz bestimmt. Damals, im Jahr nach dem Kulturboykott aus Anlass der mit künstlichem Patriotismus aufgeladenen 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft, nahm die Öffentlichkeit Vautiers Spruch als Nestbeschmutzung wahr. Heute können wohl auch jene, die sich damals empörten, die Sache entspannter sehen und Ben Vautier als vielseitigen, ernsthaften Künstler anerkennen. Die grosse Retrospektive, die das Museum Tinguely in Basel vom 21.10.2015 bis zum 22.1.2016 dem
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80-jährigen ausrichtet, bietet Gelegenheit dazu. Die von Andres Pardey und Alice Wilke kuratierte Rückschau stellt den Fokus auf die ersten 20 Jahre von Vautiers Schaffen ein und der Künstler selbst, der den zweiten Teil einrichtete, weitet ihn in über 30 Kojen bis in die Gegenwart aus. Dabei wird deutlich, dass das Werk keineswegs auf witzige und träf formulierte Schrifttafeln reduziert werden darf. Er begann mit Malereien, wobei ihn, wie in der Ausstellung unübersehbar, besonders «Bananen» faszinierten, und als er seine ersten Schriftbilder malte, war noch lange nicht klar, dass dies sein bevorzugtes Medium würde. Denn als Mitglied der «École de Nice» und als Fluxus-Pionier, trat er ab 1959 vor allem mit typischen Happenings auf, die er «gestes» nannte. Die Nähe zu den Nouveaux Réalistes, denen er nicht zugehörig war, ist unübersehbar. Kein Zufall, dass er Daniel Spoerri und Jean Tinguely neben den Freunden aus Nizza, Arman, Yves Klein und Martial Raysse besonders schätzt. Die mit über 400 Exponaten fröhlich schrankenlose Ausstellung im Museum Tinguely darf für sich in Anspruch nehmen, das Publikum in umfassender Weise mit Ben Vautiers Universum bekannt zu machen, einem Universum, in dem es ebenso um Kunst wie um Freiheit und Mut geht – drei Begriffe, die für Ben wie kommunizierende Röhren funktionieren.

Zur Ausstellung erscheint – in deutscher und englischer Fassung – ein umfangreicher, reich illustrierter Katalog mit aktuellen Texten von Ben Vautier, Margret Schavemaker, Andres Pardey, Roland Wetzel und Alice Wilke, sowie von historischen Beiträgen verschiedener Wegbegleiter Ben Vautiers. Andres Pardey für das Museum Tinguely (Hrsg.): Ben Vautier – Ist alles Kunst? Basel (Museum Tinguely)/Heidelberg und Berlin (Kehrer Verlag) 2015. 256 Seiten, CHF 52.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs findet sich
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Die Russische Avantgarde in der Fondation Beyeler

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Zum 100-Jahre-Jubiläum der legendären «Letzten futuristischen Gemäldeausstellung ‹0,10›», die vom 19. Dezember 1915 bis zum 19. Januar 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, sieben Künstler und sieben Künstlerinnen im «Kunst-Büro» Dobytschin in Petrograd vereinigte, versucht die Fondation Beyeler in Riehen vom 4. Oktober 2015 bis 10. Januar 2016 unter dem Titel «Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei» eine «kritische Rekonstruktion» der legendären Avantgarde-Schau. Hervorragend kuratiert vom amerikanischen Spezialisten Matthew Dutt, bringt die Präsentation etwa zwei Drittel dessen, was die Wirren der Revolution und die bleiernen Jahre des Stalinismus von den 154 vor hundert Jahren ausgestellten Werken übrig liessen, zusammen. Was als «Schock-Ausstellung», als die «Letzte futuristische Gemäldeausstellung» firmierte, war der zweite Versuch Iwan Punis, die zum Teil heftig zerstrittenen Kolleginnen und Kollegen zu einer gemeinsamen Präsentation ihrer Werke zu versammeln. Bereits im März 1915 hatte er die nach dem Kriegsausbruch aus Paris zurückgekehrten Gefährten in einer Ausstellungshalle der Kaiserlichen Gesellschaft zur Förderung der Künste zur «Ersten Futuristischen Gemäldeausstellung ‹Tramway V›» überredet. Sowohl die «Erste» als auch die «Letzte» machten auf der Kunstszene Petrograds erheblichen Wirbel. Ein Kritiker schrieb entsetzt: «Ich befürchte, sie alle werden schlecht enden. Die Wände dieses Raumes zeigen das Ende der menschlichen Moral, gleich danach beginnen Raub, Mord und der Weg zum Schafott». Aber auch die Künstlerinnen und Künstler gaben einander Saures. Vor allem das Paar Ivan Puni und Xana Boguslawskaja und ihr selbstbewusstes Auftreten als Organisatoren sorgte in Künstlerkreisen für heftige Ausbrüche: «Meine Beziehung zu Oxana [Boguslawskaja] ist gespannt bis an die Grenze des Erträglichen», schrieb Olga Rosanowa im Dezember 1915 dem befreundeten Dichter Alexei Krutschonych. «Es gibt dagegen keine Spannungen zwischen mir und Iwan Albertowitsch [Puni], aber die Bogulawskaja führt sich auf wie eine dumme alte Schachtel. Ausser Malewitsch steht absolut niemand auf Punis Seite.» Doch diese Verbindung hatte die nachhaltigste Wirkung. Malewitsch war der radikalste Neuerer unter den Ausstellenden. In durchaus blasphemischer Absicht hängte er sein «Schwarzes Quadrat» dorthin, wo in Russland die Hausikone hängt: zuoberst in die Ecke des Raumes. Ähnlich wie 1915 sind die Werke in der Fondation Beyeler den Künstlerinnen und Künstlern zugeordnet; anders als vor 100 Jahren, als sie dicht gedrängt in den Zimmern Galerie von Nadeschda Dobytschina hingen, dürfen die einzelnen Werke nun Raum beanspruchen.

Parallel zur «Suche nach 0,10» zeigt die Fondation Beyeler unter dem Titel «Black Sun» Werke aus der eigenen Sammlung und Leihgaben von 36 Künstlerinnen und Künstlern aus dem 20. und 21. Jahrhundert, die direkt und indirekt in der Tradition von Kasimir Malewitsch stehen. So ist das ganze Haus der Fondation Beyeler bis 10. Januar 2016 ganz der russischen Avantgarde und ihrem Einfluss auf die moderne und zeitgenössische Kunst gewidmet.

Auch der umfangreiche und prächtig gestaltete Katalog unterstreicht das Gewicht, das die Fondation Beyeler ihrem einmaligen Vorhaben zuspricht. Neben Texten von ausgewiesenen Fachautoren enthält der Band wichtige, zum Teil erstmals übersetzte Dokumente zur russischen Avantgarde.
Matthew Dutt (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei. Riehen/Ostfildern 2015 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag), 280 Seiten € 65.00. Der Katalog erscheint in deutscher, englischer und russischer Version.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht
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Bauhaus-Design im Vitra-Museum

Der trendige Titel «Das Bauhaus #allesistdesign», unter dem die Kuratorin Jolanthe Kugler ihre Retrospektive im Vitra Design Museum In Weil am Rhein affichiert, weist auf die ungebrochene Kraft der mittlerweile bald 100-jährigen Designtradition der Bauhäusler aus Weimar und Dessau hin; der Hashtag möchte zudem eine neue Debatte über die Aktualität der Bauhaus-Kultur anstossen. In der Tat sind die klaren Formen und nüchternen Linien auch für die heutigen Gestalter eine massgebende Quelle der Inspiration. Sie beeinflussen nicht nur das Aussehen von Gegenständen, vielmehr spiegeln sie auch eine bestimmte Haltung der Kreativen. So wie die Bauhaus-Studentinnen und -Studenten von ihren Meistern seinerzeit nicht nur handwerkliche und
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künstlerische Grundlagen vermittelt erhielten, sondern auch ihre Rolle in der Gesellschaft reflektieren mussten, so wird auch heute von Designern nachdrücklich mehr verlangt als die Herstellung von gefälliger Warenästhetik. Die Stichworte für die Wiederbelebung der umfassenden Bauhaus-Denkart heissen «Social Design», «Open Design» oder «Design Thinking». Die Ausstellung, die das Bauhaus – vom 26.9.2015 bis 28.2.2016 in Weil am Rhein und vom 1.4. bis 14.8.2016 in der Bundeskunsthalle in Bonn – als «komplexes ‹Labor der Moderne›, das mit heutigen Designtendenzen eng verknüpft ist» (Pressetext) präsentiert, ist in vier Teile gegliedert: Der erste fokussiert auf den historischen Kontext, der zweite zeigt ikonische Objekte sowie ihre Entstehung, der dritte demonstriert an Beispielen, wie viele verschiedene Professionen an der Entstehung des «Bauhaus-Stils» beteiligt waren. Der vierte Teil befasst sich mit den kommunikativen Werkzeugen des Bauhauses (Typgrafie, Fotografie, Film), die verwendet wurden, um der Schule den eigenen, unverwechselbaren Nimbus zu geben. Wie ein erster Durchgang zeigt, erfüllt die Ausstellung die eigenen hohen Ansprüche in vollem Umfang. Neben der mit zahlreichen Leihgaben und Objekten aus der eigenen Sammlung opulent orchestrierten Schau krönt der inhaltreiche und sorgfältig gestaltete Katalog die überzeugende Leistung der Kuratorin und ihres engagierten Teams.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist
hier zu finden.

Kries, M., Kugler, J.: Das Bauhaus #allesistdesign, Weil am Rhein 2015 (Vitra Design Museum) 464 Seiten, € 69.90. (Englische Ausgabe: The Bauhaus #itsalldesign).

Haroon Mirza/hrm199 Ltd. im Museum Tinguely

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Haroon Mirza, 1977 in London geboren und pakistanischer Herkunft, nimmt auf Einladung des Hauses vom 10. Juni bis 9. September 2015 das Museum Tinguely in Basel in Beschlag. Er tut das, seiner Überzeugung entsprechend, dass die Zeit der künstlerischen Originalgenies vorbei ist, nicht allein, sondern in vielfältiger Kooperation mit den Mitarbeitenden seines Ateliers «hrm199.Ltd» und anderen Kunstschaffenden, deren Werke er in seine eigenen Installationen integriert. Haroon Mirza studierte Malerei, Design und Kunsttheorie an der Winchester School of Art, am Goldsmiths College der University of London sowie am Chelsea College of Art. 2011 erregte er erstmals internationales Aufsehen, als ihm die Jury der 54. Biennale von Venedig einen silbernen Löwen verlieh. 2014 erhielt er den vom Haus Konstruktiv und der Zurich Versicherungsgruppe ausgelobten «Zurich Art Prize». Die jetzt im Museum Tinguely – erstmals in solcher Fülle – präsentierten Werke sind darauf angelegt, unsere visuelle und akustische Wahrnehmungsfähigkeit zu strapazieren. Mirza setzt dafür alle aktuellen Mittel der digitalen Technik ein; er baut auf die Möglichkeiten des LED-Lichts; er nutzt seine reichen Erfahrungen als DJ beim Erzeugen akustischer Effekte, und er verknüpft seine Einfälle zu komplexen Netzen. So kommt zum Beispiel das Geräusch rauschenden Wassers in seinem schalldichten «Pavillon for Optimisation» nicht etwa einer Tonkonserve eines Wasserfalls, vielmehr wird es von einem gleich ausserhalb des Raums installierten Duschkopf erzeugt. An einem anderen Ort verfremdet Mirza unter anderem eine längst geschlossene Ausstellung über die irische Architektin und Möbel-Designerin Eileen Grey (1878–1976) und einen Youtube-Film, auf dem die isländische Sängerin Björk erklärt, wie ein TV-Gerät funktioniert sowie weitere Fundstücke zur Multimediaschau «System». Und im zweiten Untergeschoss orchestriert er mit «Bitbang Mirror» einen vom Kollegen Anish Kapoor ausgeborgten Hohlspiegel («Ohne Titel», 2013) mit einer Arduino-Plattform, Lautsprechern, Verstärker und Stroboskop-Blitzen von LED-Leuchten zu einem dröhnenden Spektakel. Bemerkenswert an dieser Arbeit ist weniger das (überzeugend gelungene) Experiment mit der Fähigkeit des Spiegels den Schall zu reflektieren, als vielmehr die Rückführung eines anerkannten Kunstwerks in den Zustand blossen Materials. Von Roland Wetzel und Sandra Beate Reimann kuratiert, bespielt die anspruchsvolle, die Besucher ebenso bereichernde wie anstrengende Schau das ganze Museumsgebäude sowie den Solitude-Park. Und sie zeigt auf vielfältige Weise, wie sehr künstlerisches Schaffen heute stets ein Prozess mit zahlreichen Akteuren ist.

Zur Ausstellung erschien ein Katalog, der das prozesshafte Kunstverständnis von Haroon Mirza und seiner «hrm199 Ltd.» perfekt widerspiegelt. Er bietet gleichzeitig ein Werkverzeichnis und eine Beschreibung des Entstehens der aktuellen Ausstellung. Roland Wetzel, Sandra Beate Reimann (Hrsg.): Haroon Mirza/hrm199 Ltd. Basel/Köln 2015 (Museum Tinguely/Snoeck Verlagsgesellschaft mbH), 408 Seiten, CHF 48.00 (Museumspreis),

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs befindet sich
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Illustration: © La Nouvelle République, 18.7.2013

Marlene Dumas – Das Bild als Bürde

Portrait
Nach London (Tate Modern) und Amsterdam (Stedelijk Museum) erreicht die grosse Marlene-Dumas-Retrospektive «The Image as Burden» («Das Bild als Bürde») vom 31. Mai bis zum 6. September 2015 in der Fondation Beyeler ihre dritte und letzte Station. Geboren 1953 in einem ländlichen Vorort von Kapstadt – ihr Vater war Weinbauer – kam die junge Künstlerin 1976 zur weiteren Ausbildung nach Amsterdam, wo sie seither lebt und arbeitet. Marlene Dumas gilt als eine der bedeutendsten zeitgenössischen Malerinnen. Ihr Werk konzentriert sich in eigenständiger und eigensinniger Weise um die «condition humaine», um die Vielfalt menschlicher Existenz und die mannigfaltigen Umstände des Lebens. Die von der Kuratorin Theodora Vischer zusammen mit Marlene Dumas geplante Hängung in der Fondation Beyeler folgt weitgehend chronologisch dem künstlerischen Werdegang in den letzten 40 Jahren. Zu sehen sind rund 80 Gemälde und 30 Aquarelle sowie Zeichnungen, Collagen und Skizzen. Die Ausstellung beginnt mit einem Selbstporträt, dessen Titel «The Sleep of Reason» auf Francesco Goyas Radierung «Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer» anspielt, und mit dem Bildnis «The Painter».Es zeigt ein farbverschmiertes kleines Kind, das den Betrachter auf verstörende Art trotzig und aus dunklen Augenhöhlen anstarrt. In den beiden Gemälden ist das Werk gleichsam in nuce umrissen. Die Arbeitsweise: Dumas malt nach fotografischen Vorlagen, nicht nach einem lebenden Modell; das Handwerk: sorgfältige, dem Sujet angepasste Maltechnik und Farbwahl, die nur den Anschein macht, skizzenhaft zu sein; die Bildtitel: anspielungsreich und zur Interpretation einladend. «Es gibt das Bild (die Fotografie, die als Quelle dient)», erläutert Marlene Dumas, «mit dem man anfängt, und das Bild (das gemalte Bild), mit dem man aufhört, und das eine ist nicht das gleiche wie das andere. Ich wollte dem mehr Aufmerksamkeit geben, was die Malerei mit dem Bild macht, und nicht nur das in den Blick nehmen, was das Bild mit der Malerei macht.» Der Katalog zur Ausstellung enthält nicht nur die an den drei Ausstellungsorten gezeigten Exponate, sondern –neben den üblichen Erläuterungen kenntnisreicher Expertinnen und Experten – eine Fülle von Selbstzeugnissen der auch literarisch aktiven Künstlerin.
Leontine Coelewji, Helen Sainsbury, Theodora Vischer (Hrsg.): Marlene Dumas – The Image as Burden. Riehen/Basel und Ostfildern (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag). 196 Seiten, €38.00.

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Vitra Design Museum: Design in Afrika

Brille
Es gibt – in unseren Augen – amerikanisches Design. Gibt es europäisches Design – und nicht viel eher deutsches, französisches, britisches, skandinavisches? Und erst afrikanisches Design! Was verbindet ägyptische und südafrikanische Künstlerinnen und Gestalter? Das ist die Hauptfrage, die uns die Ausstellung «Making Africa – A Continent of Contemporary Design» im Vitra Design Museum in Weil am Rhein vom 14. März bis zum 13. September 2015 beantworten möchte. Die Kuratorin Amelie Klein und ihr Berater, der aus Nigeria stammende und zur Zeit als Direktor des Münchner Hauses der Kunst sowie der 56. Biennale von Venedig tätige Okwui Enwezor verzichten bewusst darauf, einen umfassenden Überblick über die vielgestaltige Kunst- und Designszene Afrikas zu geben. Sie blicken nicht auf einen nach wie vor von Hungersnöten und kriegerischen Auseinandersetzungen gebeutelten Kontinent, vielmehr konzentrieren sie sich auf die kreative Kraft der gut ausgebildeten, mit der ganzen Welt vernetzten urbanen Mittelklasse, die seit etwa zehn Jahren den wirtschaftlichen Aufschwung antreibt. Auf ausgedehnten Recherche-Reisen sammelte die Kuratorin eine immense Fülle von Material; sie sprach in Einzelinterviews mit Künstlern und Gestaltern; sie führte mehrere Workshops durch, um der eigenwilligen Design- und Kunstszene den Puls zu fühlen. Während die sehr sorgfältig gestaltete Ausstellung auf den ersten Blick etwas Foto- und Video-lastig wirkt und nicht alle der 280 Exponate von 120 Gestalterinnen und Gestaltern ihren Bezug zu Afrika offenkundig machen können, bietet der 346-seitige, grossformatige Katalog eine überwältigende Fülle von Materialien und Informationen, die belegen, dass «Design in Afrika viel umfassender verstanden wird als in westlichen Kulturkreisen», wie es in einer Pressemitteilung heisst.

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Paul Gauguin in der Fondation Beyeler

Gauguin 1903
Als sich Paul Gauguin 1903 auf der Marquesas-Insel Hiva Oa, seinem zweiten Fluchtort in der Südsee, selbst porträtierte, war er schon todkrank. Die Nebenwirkungen seiner Syphilis und seiner Alkoholsucht bekämpfte er mit Morphium. Mehrfach hatte er versucht, sich mit Arsen zu vergiften. Die Bilder aus dieser Zeit zeugen von der depressiven Stimmung des Malers, der sich in seinen letzten Monaten mit den strafrechtlichen Folgen seiner Streitsucht herumschlagen musste. Es ist zu loben, dass Martin Schwander und Raphael Bouvier, die Kuratoren der Ausstellung «Paul Gauguin», die vom 8. Februar bis zum 28. Juni 2015 in der Fondation Beyeler in Riehen ein halbes hundert herausragende Gemälde präsentieren, zu Beginn und zum Schluss des Parcours ausführlich über die biografischen und künstlerischen Eigentümlichkeiten Paul Gauguins informieren. Vor allem die Verbindung von Einzelwerken und ihren biografischen Begleitumstände – Erläuterungen des Künstlers, Briefzitate – ist technisch brillant umgesetzt. Das ist auch nötig, denn aus den Exponaten allein ist nicht ersichtlich, dass wir beim Betrachten der Bilder einen Spätberufenen bei der Suche nach seiner Bestimmung beobachten. Gauguin, nach einer Jugend in seinem Mutterland Peru, wurde zunächst Seemann; später lebte er mit seiner dänischen Frau und fünf Kindern als Börsenmakler in wohlhabenden Verhältnissen – bis er sich mit 35 entschloss, Maler zu werden. Der Übergang von Bourgeois zum Bohémien bedeutete Ausstieg und Abstieg in Raten. Die Ausstellung beginnt mit Werken vom Ende der 1880er Jahre, die in der Bretagne entstanden und religiösen Themen gewidmet sind. Seine Frau war schon 1884 mit den Kindern zu ihren Eltern nach Kopenhagen umgezogen.1891 machte sich Gauguin vom bretonischen Pont-Aven aus, wo er jungen Malern – darunter Pierre Bonnard – ein Vorbild war, erneut auf die Suche nach einem Sehnsuchtsort. Mit dem Erlös aus der Versteigerung seiner Werke schiffte er sich nach Tahiti ein, wo er nicht nur ein naturnahes, sondern auch ein billiges Leben zu führen hoffte. Hier entstehen seine bekanntesten Bilder, mit denen er die üppige Vegetation und die natürliche Lebensart der Menschen feiert. Die Wirklichkeit sah allerdings anders aus. Abgeschnitten vom weit entfernten Kunstbetrieb gestaltete sich der Alltag viel schwieriger als gedacht. Zwar lebte er bald mit blutjungen Gefährtinnen zusammen, doch die Geldnot bestimmte sein Leben so sehr, dass er zuweilen gezwungen war, Aushilfsjobs anzunehmen. Zudem legte er sich alsbald mit der Kolonialverwaltung und dem katholischen Klerus an, weil er sich für die einheimischen Maohi einsetzte und sie unter anderem zum Steuerstreik anstachelte. Die Bilder sprechen nicht davon. Sie sind vielmehr Zeugnisse einer mentalen Flucht aus der Wirklichkeit. Sie evozieren Szenen aus dem täglichen Leben und aus der polynesischen Mythologie. 1893 war Gauguin, völlig mittellos und krank, gezwungen, auf Staatskosten nach Paris zurück zu reisen. Doch seine Situation besserte sich nicht: Ohne Erfolg stellte er seine Bilder aus und versuchte 1895 mit einer zweiten Auktion zu Geld zu kommen. Gleichwohl brach er im Juli 1895 erneut nach Polynesien auf. Die Arbeiten aus dieser zweiten polynesischen Schaffensperiode gipfeln im monumentalen Grossformat «Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?».Es entstand 1897/98 in nur vier Wochen als eine Art Lebensbilanz. Sein Zustand war zu der Zeit verzweifelt, seine Gesundheit ruiniert. Trotzdem arbeitete er, so gut es ging, weiter. 1901 verliess er Tahiti, um sich auf einer der 1400 Kilometer entfernten Marquesas-Inseln niederzulassen. In der Ausstellung sind sieben Bilder aus dieser Zeit zu sehen; sie zeigen bereits bekannte Motive, ohne dass sie die Intensität der früheren Arbeiten erreichen.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des sehr schön gestalteten Katalogs und der darin enthaltenen Aufsätze steht
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Duft der Kunst im Museum Tinguely

36 Künstlerinnen und Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts und ein halbes Dutzend Kollegen aus der Zeit des Barock schufen das Material, das vom 11. Februar bis zum 17. Mai 2015 im Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «Belle Haleine», den «Duft der Kunst» verbreitet. Es sei die erste Ausstellung einer geplanten Reihe über die menschlichen Sinne, erklärte Museumsdirektor Roland Wetzel in seiner Einführung. Und der Start ist, wie ein erster Rundgang zeigt, trotz der Schwierigkeit, olfaktorische Reize und visuelle Effekte zu Kunstwerken zu vereinen, fulminant gelungen. Dies ist wohl in erster Linie dem Mut der Kuratorin Annja Müller-Alsbach zu verdanken, die Schau nicht künstlich einem Oberthema unterzuordnen, sondern die Kunstwerke lediglich
Nase
lose zu gruppieren. So gibt es eine Werkgruppe, die dem menschlichen Körper und seinen Ausdünstungen gewidmet ist, eine andere befasst sich mit der Kommerzialisierung der Düfte und eine dritte mit den Gerüchen der Natur. Die Fülle der Variationen ist überwältigend überraschend. Sie beginnt mit Duftbildern aus dem Barock, demonstriert an Beispielen – Duchamps Glasphiole mit «Air de Paris» oder Jean Tinguelys mit Abgas- und Maiglöckchenduft gefüllter Ballon, den er 1959 auf der ersten Pariser Biennale zum Getöse seiner «Méta-Matic Nr. 17» platzen liess – die lange Tradition olfaktorischer Kreativität. Wie man mit Düften manipulatorisch wirkt, zeigt etwa die gemeinsam von Carsten Höller und François Roche erfundene «Hypothèse de grue» – ein Spiel mit dem Wortfeld zwischen Kran und Schnepfe (Dirne): Eine Nebelmaschine stösst den Sexuallockstoff Pheromon aus und dazu weitere nicht deklarierte Neurostimulanzien und macht die ahnungslosen Betrachtenden zu Versuchskaninchen. Wie sich im Bereich der Gerüche Kunst und Wissenschaft, Inspiration und Rationalität verbinden, ist sehr eindrücklich in der Arbeit «The Fear of Smell – the Smell of Fear» der norwegischen Künstlerin Sessel Tolaas zu sehen. Die Arbeit basiert auf einer wissenschaftlichen Studie, welche die Ausdünstungen von Phobikern erforschte. Die Duftmoleküle wurden analysiert und anschliessend synthetisiert und mikroinkapsuliert, sodass die Künstlerin damit die Wände imprägnieren konnte, und die Betrachtenden nun da und dort eine Nase voll nehmen können.

Zur Ausstellung erschien an Stelle eines Katalogs eine 24-seitige Broschüre. Die Beiträge zu einem am 17. und 18. April geplanten Symposium werden später in einer separaten Publikation erscheinen.

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Poesie der Grossstadt: Die Affichistes im Museum Tinguely

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Sie gehörten zu den innovativsten, von neuen Ideen strotzenden Künstlern in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie waren dabei, als der Kunstkritiker und grosse Anreger Pierre Restany (1930–2003) am 27. Oktober 1960 in der Wohnung von Yves Klein (1928-1962) sein Manifest eines «Nouveau Réalisme» vorlegte, um sie – darunter auch Arman, Martial Raysse, Jean Tinguely und Daniel Spoerri – zu einer Künstlergruppe zu formen. Und gleichwohl sind ihre Namen hierzulande (und auch in Deutschland) kaum bekannt: François Dufrêne (1930–1982), Raymond Hains (1926–2005) und Jacques Villeglé (geb. 1926). Später kamen noch der Italiener Mimmo Rotella und der Deutsche Wolf Vostell dazu. Unter dem Titel «Poesie der Grossstadt – Die Affichisten» ermöglicht das Museum Tinguely in Basel einen umfassenden Einblick in das Schaffen dieser Anti-Maler, die als eine Art Stadtindianer von der Sonne gebleichte, vom Regen aufgeweichte und von Vandalen verunstaltete Plakate von Mauern und Zäunen rissen, um sie als urbane Zeitzeugnisse zu bearbeiten und auszustellen. Die von Roland Wetzel, Direktor des Museums Tinguely in Basel, und Esther Schlicht, Kuratorin und Ausstellungsleiterin der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main, gemeinsam konzipierte Schau gibt vom 22. Oktober 2014 bis 17. Januar 2015 in Basel (und danach in Frankfurt) einen umfassenden Einblick in das künstlerische Universum dieser ausgeprägten Individualisten, die sich zum Ziel setzten, gemeinsam den Kunstbetrieb auf eine höhere, alle möglichen Ausdrucksformen verbindende Stufe zu heben. Die Décollage, das Abreissen und weiter bearbeiten des städtischen Plakatmülls, war nur eine ihrer Methoden. Sie experimentierten, allein oder in Gruppen, mit Auftritten als Poeten, welche – ähnlich wie seinerzeit die Dadaisten – die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks erforschten, oder sie widmeten sich mit grösstem Enthusiasmus dem Film und der Fotografie. Mit grossem Geschick führen die Ausstellungsmacher die Besucher durch Themen und Räume und zeigen die ungeheure Vielfalt der affichistischen Formen – von der kleinformatigen, etüdenhaften Dekonstruktion bis zum grossformatigen, marktschreierischen Auftritt. In allen Fällen überzeugt die bildnerische Präsenz der zwischen 1946 und 1968 entstandenen Werke. Es ist dem Museum Tinguely (und später der Schirn Kunsthalle) hoch anzurechnen, dass sie sich auf dieses anspruchsvolle Projekt, das sich ganz auf die Präsentation einer ausserhalb Frankreichs in Vergessenheit geratenen Kunstrichtung konzentriert, eingelassen haben.

Ein sorgfältig gestalteter, opulent bebilderter grossformatiger Katalog mit kenntnisreichen Essays von Bernard Blistène, Fritz Emslander, Esther Schlicht, Didier Semin, Dominique Stella und einem Interview von Roland Wetzel mit dem letzten lebenden Affichisten Jacques Villeglé und einem ausführlichen Dokumentarteil unterstreicht den Anspruch, die grossstädtische Poesie der Affichisten zu vergegenwärtigen. Die Publikation ist bei der Snoeck Verlagsgesellschaft mbH Köln erschienen. 280 Seiten, CHF 42.00.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
folgt demnächst hier.

Alvar Aalto: Natürliche Formen

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Unter dem Titel «Second Nature» präsentiert das Vitra Design Museum in Weil am Rhein Alvar Aalto (1898–1976), einen der wichtigsten Architekten und Designer der Moderne, als Gestalter komplexer, auf die Natur und ihre Formen und Materialien Bezug nehmender Räume. Kuratiert von Jochen Eisenbrand und gemeinsam mit dem Alvar-Aalto-Museum in Jyväskylä entwickelt, zeigt die sorgfältig konzipierte Ausstellung den weit über seine finnische Heimat hinaus einflussreichen Grossmeister der «organischen Architektur» in vier, lose chronologisch geordneten Abteilungen. Die erste zeigt Aalto unter dem Titel «Wahlverwandtschaften» am Anfang seiner Karriere als universal interessierten Gestalter, der Sakralbauten,
Mehrzweckgebäude und im karelischen Viipuri (Vyborg. heute Russland) eine Bibliothek entwirft und sich gleichzeitig für bildende Kunst,Theater und Kino interessiert. Er entwirft Bühnenbilder, gründet eine Filmproduktion, und gestaltet selbstverständlich die Einrichtung seiner Bauten selbst. Das erste Gesamtkunstwerk wird das Lungensanatorium in Paimio. Das zweite Kapitel der Schau, «Natur, Kunst, Architektur» überschrieben, ist Aaltos Nähe zur natürlichen Umwelt und seinem dauernden Austausch mit wichtigen Künstlern seiner Zeit gewidmet. Jean Arp und Alexander Calder, Fernand Léger und der Bauhaus-Meister László Moholy-Nagy übten einen besonders starken Einfluss auf ihn aus, wie anhand ihrer Werke zu sehen ist. Der dritte Schwerpunkt fokussiert unter dem Titel «Die Kunst des Alltags» auf den Designer Aalto, der die Serienproduktion moderner Möbel und Leuchtkörper mit der eigenen Firma «Artek» förderte und ihre Verbreitung zu einer «mundialen Aktivität» erklärte. Im Obergeschoss schliesslich kulminiert die Ausstellung unter dem Titel «Architektur der Synthese». Gezeigt werden Entwürfe und Modelle beispielhafter Bauten, die Aaltos humanistisches Architekturverständnis manifestieren, darunter das Kulturzentrum in Wolfsburg, ein achtstöckiges Wohnaus im Berliner Hansaviertel, Wohnsiedlungen und Kommunalbauten in Finnland, ein Studentenwohnheim auf dem Campus des MIT in Cambridge (USA) und – wie eine Summe seiner Könnerschaft– die Finlandia-Halle in Helsinki. Insgesamt entwarf Alvar Aalto in fünf Jahrzehnten rund 500 Bauten, von denen 200 verwirklicht wurden – vor allem in Finnland, aber auch in 18 weiteren Ländern.

Zur Orientierung in diesem fast unübersehbaren Lebenswerk ist das Katalogbuch sehr hilfreich. Es dokumentiert nicht nur die Exponate und die eigens für die Schau vom Fotokünstlers Armin Linke hergestellten Bildfolgen, sondern enthält eine Fülle weiterer Dokumente und ein gutes Dutzend sachkundiger Essays zu allen Aspekten von Aaltos Wirken. Jochen Eisenbrand, Mateo Kries (Hrsg.): Alvar Aalto – Second Nature. Weil am Rhein 2014 (Vitra Design Museum), 688 Seiten, € 69.90)

Eine ausführliche
Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier zur Verfügung.

Gustave Courbet: Erster Avantgardist

Vom 7. September 2014 bis 18. Januar 2015 präsentiert Kurator Ulf Küster den französischen Maler Gustave Courbet (1819 bis 1877) in der Fondation Beyeler in Riehen als Vorvater der Moderne. Thematisch geordnet hängen 57 Gemälde des autodidaktisch geschulten Künstlers in acht Sälen. Zuerst fällt auf, dass die Bilder nicht, wie zu erwarten wäre, auf farbigen Wänden gezeigt werden, sondern – ganz bewusst – auf weissem Hintergrund. Der Ausstellungsmacher entschied sich nach eingehenden Farbstudien für diese Lösung, um zu betonen, dass der aus dem französischen Jura, aus Ornans in der Franche-Comté stammende Künstler «als erster Avantgardist der Kunstgeschichte» mit den Kollegen der klassischen Moderne eng verbunden ist.
Der Sohn eines reichen Grundbesitzers musste sich nie um die akademischen Traditionen seines Metiers kümmern. Er musste sich niemandem anbiedern, niemandem gefallen. Er hatte den Ehrgeiz (und wie sich zeigte auch die Fähigkeit) ganz auf sich selbst gestellt ein grosser Maler zu werden. Er studierte selbstständig die künstlerischen Traditionen, die Motive und die Techniken – um sie nach und nach hinter sich zulassen. Als junger Künstler in Paris sass er zwar fleissig im Louvre und kopierte berühmte Gemälde, doch Sicherheit erarbeitete er sich an einer langen Reihe von Selbstporträts in verschiedenen Posen. Bei diesen Arbeiten – und später in Landschaftsbildern mit Motiven aus seiner engeren Heimat – erfand er seine ganz eigene Maltechnik. Er spachtelte die Farbe mit dem Palettmesser auf die Leinwand, er nahm einen Lappen oder den Daumen zu Hilfe, um ganz eigene Effekte zu erzeugen. Seine romantisch-realistischen Natur- und Menschendarstellungen erlangen durch die radikale Farbanwendung eine eigene Qualität. Schon seine Zeitgenossen bewunderten seine Eigenständigkeit, und er erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Seine Bilder fanden reissenden Absatz. Er arbeitete wie besessen – «ein Tag, ein Bild» oder «eine Stunde, ein Bild», brüstete er sich gelegentlich – um der Nachfrage nachzukommen. Ein Modemaler war er gleichwohl nie. Viele seiner Motive waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts reine Provokationen, nicht zuletzt die erotisch aufgeladenen Frauenakte, die in seinem sagenhaften Unterleibs-Torso «L’Origine du monde» gipfelten, der erst ab 1995 öffentlich gezeigt wurde. Auch seine politischen Ansichten waren notorisch provokativ. Er weigerte sich den Orden der Ehrenlegion anzunehmen, und er liess sich 1870 von der Pariser Kommune zum Kunstkommissar ernennen. Als die Revolution scheiterte, verlor er nicht nur das Regierungsamt, sondern auch seine Reputation. Die neue Obrigkeit warf ihm vor, er habe die Schleifung der Vendôme-Säule persönlich zu verantworten. Nach Gefängnisstrafe, Plünderung seines Ateliers und Verurteilung zu den horrenden Kosten des Wiederaufbaus des Denkmals floh Courbet 1873 bei Nacht und Nebel in die Schweiz. In seiner Heimat geächtet, wirkte er – weiter revolutionär gestimmt und unermüdlich schaffend, aber depressiv und dem Alkohol verfallen – in seinen letzten Jahren in der kleinen Schweizer Kunstszene als Inspirator. Just als er die erste Tranche seiner Abzahlung zusammen hatte, starb Gustave Courbet 1877 in La-Tour-de-Peilz über dem Genfersee mit 58 an der Schrumpfleber.
(Während sich die Ausstellung in der Fondation Beyeler Courbets Aufstieg zum Praeceptor pictorum («Ich bin ein Epochenwechsel») dokumentiert, zeigt gleichzeitig das Musée d’Art et d’Histoire in Genf vom 5.9.2014 bis 4.1.2015 das Schaffen Courbets in den Jahren des Schweizer Exils.)

Der Katalog – in deutscher und englischer Version erhältlich – übernimmt die thematische Gliederung der Ausstellung in der Fondation Beyeler und vertieft die informativen Saaltexte durch kenntnisreiche Aufsätze des Kurators und weiterer Courbet-Kenner. Ulf Küster (Hrsg.): Gustave Courbet. Riehen/Ostfildern 2014 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag) 200 Seiten. CHF 62.50

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Ilya Kabakov im Kunsthaus Zug

Unter dem Titel «Ich beginne zu vergessen» zeigt das Kunsthaus Zug bis zum 17. August 2014 Gemälde, Zeichnungen, Schriftstücke und eine Installation des russischen Künstlers Ilya Kabakov, die zum grössten Teil aus Schweizer Privatsammlungen stammen. Ergänzt wird die Schau durch Arbeiten auf Papier von Vertretern der russischen Avantgarde aus zwei Zuger Privatsammlungen.

Mit der Schweiz ist der Moskauer Avantgardist besonders eng verbunden, seit ihm die Berner Kunsthalle 1985 seine erste Einzelausstellung diesseits des Eisernen Vorhangs ausrichtete. Da er keine Ausfuhrgenehmigung für seine Werke erhielt, musste damals jedes einzeln an zuverlässige Adressaten verschickt werden, die es dann nach Bern weiter spedierten. Auch der Künstler selbst erhielt keine Reisegenehmigung. Indem er er zur Zeit der Vernissage in einem Wald bei Moskau ein Band durchschnitt, machte sich der damals 52-jährige symbolisch zum international beachteten Maler. Es war unter anderen Kunsthalle-Präsident (und bis 1984 Staatssekretär) Paul R. Jolles (1919 - 2000), der ihm weitere Kontakte zu Sammlern und Förderern verschaffte, nachdem Kabakov und seine Frau Emilia 1986 die Sowjetunion verlassen konnten.

Die aktuelle, von Matthias Haldemann zusammen mit dem Künstlerpaar eingerichtete Ausstellung im Kunsthaus Zug ist zweigeteilt. Sie zeigt Arbeiten aus den frühen Jahren, in denen sich Kabakov mit ironischer Distanz den Widerwärtigkeiten des sowjetischen Alltags widmet, und den Zyklus von Gemälden aus dem Jahr 2010, die sich collage-artig mit Erinnerungsfetzen aus der Zeit des sozialistischen Realismus und der Sowjetpropaganda befasst.

Auf den Gemälden des zehnteiligen Zyklus «Collage of Spaces» aus dem Jahr 2010 collagiert Kabakov raffiniert aus dem Alltag gezupfte Szenen mit sowjetischer Propgandamalerei zum Lob der Werktätigen in der Stadt und auf dem Land. Da werden zwar Geschichten angedeutet, aber sie sind eben aus dem Zusammenhang gerissen.

Der Titel «Ich beginne zu vergessen» ist demnach offensichtlich paradox gemeint: Kabakov hängt an seinen Erinnerungen – nicht nur an die Unfreiheit, an die lächerlichen Repressionen, sondern auch an seine Familie, an die Mutter, an die Tanten – und malt, um sie in der Gegenwart lebendig zu erhalten. Während in den älteren Arbeiten geschriebene Worte und Dialogfetzen eine wichtige Rolle spielen, kommen die neuen Werke ohne Kommentare aus.

Die Reminiszenzen beginnen mit Bildern aus der Zeit der Gemeinschaftswohnungen. Da hängt zum Beispiel ein Flaschenreiniger an der schmutzig-grünen Wand der Küche. Und am oberen linken Bildrand stellt eine Anna Prochorowna Sobina die Frage «Wem gehört, dieses Bürstchen?» Und Boris Michailowitsch Polesin antwortet: «Anna Prochorowna».

Auf einem anderen Grossformat ist – offensichtlich zu Händen einer anonymen Hausverwaltung (und damit der Staatssicherheit) – aufgelistet, wer am Sonntagabend zu Besuch weilte: Name, von…bis. Was normalerweise routinemässig auf einen Zettel geschrieben wurde, wird uns hier als monumentales Zeugnis der Unfreiheit entgegen gehalten.

Da Ausstellungen der Avantgarde zu den bleiernen Sowjetzeiten nicht in Frage kamen, erfand Ilya Kabakov in seinem, in der hintersten Ecke eines vergammelten Dachbodens einer Moskauer Mietskaserne eingerichteten Atelier die Form der Alben. Die handlichen Leporellos konnte er zu den Treffen der Kollegen mitnehmen und sie herumzeigen. Der Austausch in Künstlerkreisen war allerdings nicht so rege, wie wir Wehster uns das vorstellen. Zeitzeugen berichten bedauernd von Einzelgängern, die sich verbissen ihren eigenen Projekten widmeten und die Arbeiten anderer zur Kenntnis nahmen, ohne sich auf kritische Auseinandersetzungen einzulassen.

Um sich künstlerisch mit dem Erbe der russischen Avantgarde der Revolutions- und Nachrevolutionszeit zu befassen, erfand Kabakov nach seiner Emigration als sein Alter Ego die Maler-Figur des Charles Rosenthal, der in seinen Werken versucht, eine Brücke zwischen den Modernisten und dem sozialistischen Realismus zu schlagen, weil er sich angeblich nicht für eines der beiden Konzepte entscheiden. Deshalb gibt es auf seinen Bildern immer beides: eine realistische Szene und ein Stück reiner suprematistischer Malerei. Die Konfrontation pflegt er durch eine grosszügig bemessene weisse Fläche zu mildern.

Die Ausstellung in Zug zeigt Kabakovs malerische Anfänge und dokumentiert seine Rückkehr zur Malerei in jüngster Zeit. Konzeptuelle und skulpturale Arbeiten, die ihn als Erfinder eines eigenen utopischen Kosmos bekannt machten, der sich sowohl von der Vergangenheit als auch von der Zukunft inspirieren lässt, fehlen – bis auf das Frühwerk «Konzert für eine Fliege» – ganz. Das muss man wissen, um keine falschen Erwartungen zu hegen. (Wer Kabakovs jüngste Konzept-Kunst kennenlernen wollte, hätte bis zum 22. Juni nach Paris reisen müssen, wo im Grand Palais an der Monumenta 2014 auf 30’000 Quadratmeter die Utopie «L’ Etrange Cité» zu sehen war.)

Kabakov, schreibt der Zuger Ausstellungsmacher Matthias Haldemann, gilt zwar als einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart, zumal seine Werke die Brücke zwischen der inoffiziellen Kunst der Sowjetzeit und der Avantgarde des Westens bilden: «Trotzdem wird Ilya Kabakov unterschätzt. In seinen fantasievollen Arbeiten betrachtet er die moderne Zivilisation ohne ideologische Schranken. In ihrer erzählenden Haltung sind die Bilder zugänglich, obwohl sie stets die Frage in sich tragen: Wer hat hier für wen gemalt und weshalb?»

Illustrationen: «Collage of Spaces #10» (Collection Valentin Bukthoyarov © 2014, ProLitteris, Zurich), »Wem gehört das Bürstchen?» (© Pro Litteris 2014), «Charles Rosenthal: Zwölf Ergänzungen zur Theorie des Suprematismus # 2 1926, Kanal» (Privatsammlung Schweiz).

Krištof Kintera: I AM NOT YOU

Zur Einstimmung in seine Werkschau in Basel lässt der Prager Künstler Krištof Kintera das Publikum vom 11. Juni bis 28. September 2014 durch einen Noteingang an der Gebäudeseite des Tinguely-Museums eine Kleiderboutique betreten, in der immer Ausverkauf herrscht. Aber alles ist echt: Die Kleider, das Verkaufspersonal, die Preise. Zweck der Mimikry sei es, den Übergang aus unserer realen Konsumwelt in die Welt der Kunst und damit unsere Wahrnehmungshaltung bewusst zu machen, erläuterte Kintera bei der Vorbesichtigung gegenüber den Medienleuten. Obwohl in seiner Heimat der bekannteste Künstler seiner Generation, dessen Werke im öffentlichen Raum präsent sind, und der in vielfältiger Weise an der öffentlichen Debatte teilnimmt, wird ihm nun in Basel seine bisher grösste Einzelausstellung ausgerichtet. Das mag ein Zufall sein. Was die widerborstige Ironie, den ätzenden Witz dieses Œuvre angeht, das intellektuell in der langen Tradition des Prager Protestlertums und formal im tschechischen phantastischen Realismus wurzelt, so ist die Verbindung zum Basler Fasnachtsgeist, dessen Esprit von dunklen und absurden Tönen untermalt ist, offensichtlich. Die Ausstellung, die vom Künstler zusammen mit Andres Pardey, dem Vizedirektor des Museums, eingerichtet wurde, bietet mit den zahlreichen gross- und kleinformatigen Exponaten einen Einblick in ein Künstlermilieu, in dem ein anarchischer und kritischer Geist überlebt und die kommerziellen Gesetze der Kunst noch als Zumutung empfunden werden. «Der fundamentale Aspekt der Kunst», heisst es in einem Statement des Künstlers auf einem der rund 400 Blätter des «Katalogs», ist dass sie nicht auf Bestellung gemacht wird … sondern aus einer inneren Notwendigkeit. Sie ist nicht ergonomisch, sie muss weder schön noch glatt sein. Sie existiert für sich selbst. Wer zu ihr hinfinden will, muss etwas dafür tun… .»

Zur Ausstellung erscheint ein «Katalog» in Einzelblättern mit Dokumenten und Fotos aus der Werkstatt des Künstlers sowie einem Gespräch zwischen Krištof Kintera, Roland Wetzel, Andres Pardey und dem Galeristen Jiří Švestka in englischer Sprache. Jedes Exemplar ist in einer individuellen Schuhschachtel handverpackt. Ausschliesslich erhältlich
im Museumsshop: CHF 68.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des «Katalogs» steht
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Iluustration: A Prayer for Loss of Arrogance, 2013.

Gerhard Richter: Serien, Zyklen, Räume

Zusammen mit dem Künstler präsentiert der Kurator Hans Ulrich Obrist, derzeit Codirektor der Serpentine Gallery in London, vom 18. Mai bis 7. September 2014 Gerhard Richter in der Fondation Beyeler in Riehen als Maler, der gern und oft in Varianten denkt. Die soeben von Mäzenen dem Kunstmuseum Basel geschenkte Folge von vier (der insgesamt fünf )Versionen des Motivs «Die Verkündigung nach Tizian» von 1973 zeigt exemplarisch, wie bei den gleichzeitig entstehenden Serien der Übergang vom Figürlichen zum Abstrakten erkundet wird. Andere Bildfolgen kreisen ein bestimmtes Thema ein, indem sie – wie zum Beispiel der 1988 entstandene 15-teilige Zyklus zum «18. Oktober 1977», dem Todestag der drei Führungsfiguren der RAF – einzelne Elemente eines Ereignisses darstellen. Als Vorlagen dienen häufig Pressebilder, denen der Künstler, indem er sie vergrössert, vergröbert und bis zur Unkenntlichkeit übermalt einen neuen, eigenen Charakter verleiht. Die hervorragend präsentierte Schau versammelt über 150 Werkgruppen und Einzelstücke von 1966 bis 2014. Sie bietet einen umfassenden Überblick über ein Oeuvre, das sich in einem stetigen Wandel befindet, wobei jede Phase im Gesamtwerk ihren Platz zu behaupten weiss. Zur Ausstellung erschien ein von Gerhard Richter mitgestaltetes Katalogbuch mit Beiträgen von Hans Ulrich Obrist, Dieter Schwarz und Georges Didi-Huberman: H. U. Obrist (Hrsg.): Gerhard Richter – Bilder/Serien. Riehen und Ostfildern 2014 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag) 192 Seiten, CHF 62.50. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier zur Verfügung.

Konstantin Grcic: Design als Abenteuer

«Design», definiert der Münchner Gestalter Konstantin Grcic (geb. 1965), «ist das Abenteuer, nicht genau zu wissen, was bei einem kreativen Prozess herauskommt.» So witzig das Bonmot, so sehr widerspricht es allem, was die One-Man-Show im Vitra Design Museum in Weil am Rhein (22. März bis 14. September 2014) unter dem Titel «Konstantin Grcic – Panorama» zeigt: Der Gestalter, dessen Objekte in privaten und öffentlichen Räumen allgegenwärtig sind, ist ein systematischer Arbeiter, der wenig dem Zufall überlässt. Die von ihm selbst, zusammen mit Mateo Kreis konzipierte und kuratierte Ausstellung ist in vier Abteilungen gegliedert. Die erste präsentiert unter dem Titel «Life Space» den Prototyp eines privaten Wohnmoduls, die zweite – «Work Space» – zeigt auf einem grossen Arbeitstisch und in einer Filmprojektion Grcic’s Werkstatt, die dritte – «Public Space» – ist als öffentlicher Platz konzipiert, der von einem 30 Meter langen Panorama einer visionären Stadt-Silhouette umgeben ist, und der vierte schliesslich – «Object Space» genannt – versammelt in Vitrinen eine grosse Zahl von Objekten, selbst entworfenen und fremden, die einen evolutionären Prozess simulieren. Vor allem diese Objektsammlung belegt die enorme Breite von Grcic’s Schaffen, sowohl was Formen als auch was Materialien angeht. Neben einer grossen Vielfalt von Sitzmöbeln sind Leuchten und Alltagsgegenstände aus Kunststoff zu sehen, und dazwischen gibt es immer wieder witzige Einfälle zu bewundern – zum Beispiel einen Kleiderbügel mit eingebauter Bürste oder einen Strassenwischer-Besen, dessen Kunststoff-Borsten wie Zweige aussehen. Zur Ausstellung erschien ein sehr schön gestalteter Katalog: Kreis, M., Lipsky, J. (Hrsg.): Konstantin Grcic – Panorama. Weil am Rhein 2014 (Vitra Design Museum), 320 Seiten, €69.90. Eine Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier.

Spielobjekte im Museum Tinguely

Kunst zum Mitmachen zeigt das Museum Tinguely in Basel vom 19. Februar bis zum 11. Mai 2014 in einer Ausstellung, die es zum Thema in dieser Grösse – rund 100 Exponate von über 50 Kunstschaffenden werden von der Kuratorin Annja Müller-Alsbach und dem Kurator Frederik Schikowski vorgestellt – in der Schweiz noch nie gegeben hat. Die Schau unter dem Titel «Spielpbjekte – Die Kunst der Möglichkeiten» reicht von den Anfängen der partizipativen Kunst in den dreissiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – mit Werken von, zum Beispiel, Hans Erni, Le Corbusier und William Turnbull – bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt der wunderbar anregenden Ausstellung liegt in den 1950er- und 1960er-Jahren, als sich viele junge Künstler in Europa mit der direkten Beteiligung des Publikums auseinandersetzten. Vielen von ihnen ging es darum, die Kunst aus ihrem bildungsbürgerlichen Ghetto zu befreien und zu beweisen, dass sie für alle sozialen Schichten da ist. Eine Möglichkeit, diese Absicht zu manifestieren, war die Verbreitung von Kunstwerken in grossen Auflagen sowie die aktive Beteiligung des Publikums. Das Museum Tinguely unterstützt diese Intention mit einem Vermittlungsprogramm von über 300 öffentlichen, interaktiven Führungen, die den Besuchenden die Möglichkeit geben, viele der ausgestellten Werke aktiv zu erleben. Eine ausführliche Besprechung der einzigartigen Schau, die auch zahlreiche Entdeckungen ermöglicht, und des Katalogs steht hier.

Der Katalog enthält Texte von Annja Müller-Alsbach, Frederik Schikowski, Roland Wetzel und Interviews mit den Kunstschaffenden Mary Bauermeister, Peter Lindbergh, Grazia Varisco sowie – in separaten Bänden – Abbildungen aller ausgestellten Werke und eine «Anthologie» mit zusätzlichem Text- und Bildmaterial zum Thema. Museum Tinguely (Hrsg.): Spielobjekte – Die Kunst der Möglichkeiten. Basel/Köln 2014 (Kehrer Verlag), 208 Seiten, CHF 48.00 (im Museumsshop)

Odilon Redon in der Fondation Beyeler

Odilon Redon (1840 bis 1916) begann erst relativ spät zu malen. Er hatte ein Architekturstudium abgebrochen und auch eine Lehre im Atelier eines Historienmalers gibt er auf und bildet sich autodidaktisch weiter. Ab 1870 entwickelte er 20 Jahre lang ein düsteres, von Traum-Motiven und dunklen Symbolen bestimmtes Werk. Erst 1890, im Jahr nach der Geburt seines zweiten Sohnes, wendet er sich der Farbe zu; ab 1902 hört er ganz auf, mit Kohle zu zeichnen. Thematisch bedient er sich in dieser zweiten Schaffensperiode mit Vorliebe in der antiken Mythologie, aber auch religiöse Motive faszinieren ihn, christliche und buddhistische. Die Fondation Beyeler in Riehen widmet dem zeichnerischen und malerischen Werk dieses bedeutenden Wegbereiters der Moderne vom 2. Februar bis zum 18. Mai 2014 eine umfassende Ausstellung. Die von Raphaël Bouvier kenntnisreich eingerichtete Schau zeigt alle Facetten von Redons vielgestaltigem Oeuvre. Dabei erweist es sich, dass Redon in vielerlei Hinsicht als Vorreiter der Moderne betrachtet werden kann und seine geläufige Etikettierung als Vertreter des Symbolismus nur einen Aspekt seines Schaffens beschreibt. Seine aus Träumen destillierten Motive nehmen Elemente des Surrealismus voraus, auch an Fauvismus und Kubismus ist man erinnert, wenn man seine Bilder aus heutiger Sicht betrachtet. Es ist kein Zufall, dass Redon für viele seiner jüngeren Kollegen zum Vorbild wurde. Als Mitbegründer des «Salon des Indépendants» setzte er sich nicht nur für neue Ausstellungsmöglichkeiten ein, er öffnete seine Pariser Stadtwohnung auch als Treffpunkt junger Künstler. Eine ausführliche Besprechung der eindrücklichen Ausstellung und des sorgfältig gestalteten Katalogs steht hier zur Verfügung.
Illustration: Odilon Redon, 1894 (© Bridgeman Art Library)

Lichtdesign im Vitra Design Museum

Als der Brite Joseph Swan (1828–1914) und der Amerikaner Thomas Edison (1847–1931) 1879 unabhängig von einander diesseits und jenseits des Atlantiks die erste brauchbare Glühbirne vorführten, war noch nicht absehbar, wie sehr ihre Innovation den Alltag verändern würde. Aber schon zur Jahrhundertwende war elektrisches Licht weit verbreitet. Gleichwohl gibt es bis heute beträchtliche Unterschiede. Über 1,6 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu einem öffentlichen Stromnetz. Sie müssen sich in der Dunkelheit mit Strom aus Generatoren oder natürlichen Leuchtmitteln – Feuer, Kerzen, Gas – behelfen. In der Ausstellung «Lightopia» im Vitra Design Museum in Weil am Rhein – 28.9.2013 – 16.3.2014 – macht eine Karte des nächtlichen Globus die Ungleichheit anschaulich: Während der reiche Norden im Lichtermeer glänzt, ist es in den meisten Teilen Afrikas, Südamerikas und Asiens weitgehend finster. Die von Jolanthe Kugler kuratierte Schau zeigt die Kulturgeschichte des elektrischen Lichts als einen Prozess, der gegenwärtig durch den Übergang vom Glühlampen-Licht zur LED- und OLED-Technik einen radikalen Wandel vollzieht. Und sie demonstriert, unter anderem anhand von 300 Exponaten aus der einzigartigen Lampen-Sammlung des Museums, wie phantasievoll Designer seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die unterschiedlichsten Materialien zum Leuchten brachten. Zum ersten Mal, erklärt die Kuratorin, werde die Gestaltung von Licht nicht nur in Teilaspekten – wie etwa Lichtkunst und Leuchtendesign – aufgegriffen, sondern die verschiedenen Facetten des Lichtdesigns zusammengebracht. Dem Anspruch, den Überblick umfassend zu gestalten, wird auch der Katalog gerecht. Er ist in drei Bände aufgeteilt. Der erste Teil enthält Essays zur Kulturgeschichte des Lichts, der zweite konzentriert sich auf die bedeutendsten Leuchten aus der Sammlung des Vitra Design Museums und der dritte befasst sich im Gespräch mit zeitgenössischen Lichtdesignern und Lichtkünstlern mit den gestalterischen Perspektiven der neusten Lichttechnik.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs gibt es hier.

Illustration Pieke Bergmans «Totally in Love» 2012. Foto @Jürg Bürgi 2013.

Thomas Schütte in der Fondation Beyeler

Thomas Schütte gilt als einer der kreativsten Köpfe der zeitgenössischen Kunstszene. Seit dem 6. Oktober 2013 und bis zum 2. Februar 2014 gibt die Fondation Beyeler in Riehen einen Einblick in das vielgestaltige skulpturale und bildnerische Werk des 1954 geborenen Rheinländers. Die von Theodora Vischer eingerichtete Schau konzentriert sich unter dem Titel «Figur» auf variantenreiche Darstellungen der menschlichen Gestalt, die zumeist der jüngeren und jüngsten Schaffensperiode entstammen. Frühere Arbeiten – vor allem die originellen und witzigen Architekturmodelle, die Schütte in den frühen achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als eigenständigen Vertreter der Konzeptkunst auswiesen – sind leider nicht zu sehen. (Sie gastieren vom 26.10.2013 bis 16.2.2014 im Kunstmuseum Luzern.) Die Ausstellung der Fondation Beyeler präsentiert Schütte als experimentierfreudigen Plastiker, der für seine Arbeiten beliebige Materialien verwendet – Muranoglas neben Stahl, Keramik neben Aluminiumguss, Holz neben Bronze oder Kunststoff. Viele seiner Werke gibt es in mehreren Versionen, gross und klein, mal bis ins Detail ausgeführt, mal skizzenhaft unvollendet. Schütte formt einzelne Figuren, vor allem Köpfe und Körper, sorgfältig nach der Natur, andere erscheinen verformt und willkürlich zerknautscht.

Die Ausstellung zeigt, wie unterschiedlich die Skulpturen mit ihrer Umgebung kommunizieren. Die einfarbig schwarze Riesen-Version der Gruppe «United Enemies» ist ein gutes Beispiel dafür. Eigentlich für den Aussenraum gedacht, wird sie hier erstmals in vier Wänden gezeigt – und wirkt auf die Besucher in der Eingangshalle mit ihrer massiven, verbissenen Präsenz prompt bedrohlich. Viel eindrücklicher und witziger erscheint dagegen die kleinformatige, farbige, puppenhafte Frühversion desselben Motivs, das 1992 in Rom entstand. Dasselbe gilt für die Alien-artige Gruppe «Vier Grosse Geister» aus schwarz patinierter Bronze, die vor der Ausstellung auf öffentliche Plätze nach Zürich, Genf und Bern geschickt worden war. Als problematisch erweist sich auch die Massierung der nummerierten Stahl-, Bronze- und Aluminiumfrauen im grossen, gegen Norden ausgerichteten Gartensaal. Sie führt dazu, dass die Werke gar nicht mehr als individuell gestaltete Einzelstücke sondern nur als Ensemble im Depot einer Galerie, oder – freundlicher formuliert – in einem Schaulager wahrgenommen werden, wo sie auf Abnehmer warten. (Im Essener Folkwang-Museum sind vom 21.9.2013 bis 12.1.2014 ebenfalls Abgüsse der «Frauen» zu sehen; allerdings wird ihnen dort deutlich mehr Raum gegeben.) Auch diese Frauen-Skulpturen, ist aufgrund der zur Verfügung gestellten Pressebilder zu vermuten, könnten im Freien und als Solitäre gezeigt werden.

Einer eigenen Welt entstammen «Die Fremden», die sich mit Sack und Pack auf dem Dach über dem Eingang der Fondation aufgereiht haben. Die farbige Keramik-Gruppe, die an gedrechselte Holzfiguren aus dem Erzgebirge erinnert, scheint unschlüssig, ob sie in den Park hinunter steigen will. Dort steht der personifizierte «Vater Staat» von 2010, überlebensgross und gewandet in dieselbe Art von Bademantel, in dem auch die «vereinigten Feinde» auftreten. Wiewohl die Ironie der Figur eher dem paternalistischen Staatsverständnis der Bundesrepublik entspringt, so bringt sie doch auch Eidgenossen zum Schmunzeln: Die Gestalt, die ihrer deutschen Heimat den Rücken zukehrt, hat offensichtlich den Gürtel eng geschnallt, und sie versteckt ihre Hände, um nicht den Eindruck der Freigebigkeit aufkommen zu lassen. Über die merkwürdige Kopfbedeckung – ein türkischer Fes? – darf man spekulieren. Eindeutiger boshaft ist Schütte, wenn er einer kleinen Gruppe von sechs Kriegern Schraubdeckel als Helme aufsetzt. Auch hier erscheint das Kleinformat eindrücklicher als die in Holz gefertigten Gross-Skulpturen, die allerdings eine Weiterentwicklung darstellen: die Gruppe umfasst noch zwei Figuren, die unfähig sind, ihre bedrohlichen Waffen zu gebrauchen – die eine, weil sie verkrüppelte Hände hat, die andere, weil sie weder Arme noch Beine besitzt.

Wie ein Kontrastprogramm zu den wuchtigen, raumfüllenden Plastiken präsentieren sich die Zeichnungen und Aquarelle. Es handelt sich dabei um unabhängige Werkzyklen mit einer eigenen subtilen Formensprache.

Alles in allem bietet die Ausstellung in der Fondation Beyeler einen guten Überblick über das skulpturale Werk Thomas Schüttes. Wer den Düsseldorfer auch als Konzept-Künstler erleben will, hat im Kunstmuseum Luzern Gelegenheit dazu.

Der Katalog zur Ausstellung «Thomas Schütte FIGUR» präsentiert 252 Abbildungen, einen Aufsatz von Adrian Searle, sowie Interviews von Theodora Vischer mit Thomas Schütte, sowie ein Gespräch zwischen Gerhard Richter, Thomas Schütte und Theodora Vischer. Köln 2013 (Walther König Verlag), 193 Seiten, CHF 59.00

Illustrationen: «Die Fremden» (1992), «Vater Staat» (2010)
© Text und Bilder Jürg Bürgi, 2013

Zehn Künstler und Tinguelys Geist

Als Jean Tinguely 1955 seine erste Zeichenmaschine baute, war er 30 Jahre alt. Die elf Künstlerinnen und Künstler, die 2009 auf eine Ausschreibung der Amsterdamer «Métamatic Research Initiative» (MRI) antworteten, sich aus heutiger Sicht mit Jean Tinguelys «Méta-Matics» zu beschäftigen, sind um einiges älter als der junge Basler damals und auch um einiges erfahrener. Die Beiträge, die Maria Abramović, Ranjit Bhatnagar, John Bock, Olaf Breuning, Thomas Hirschhorn, Aleksandra Hirszfeld, Jon Kessler, das Künstlerpaar Aparna Rao und Søren Pors, João Simões sowie Brigitte Zieger vom 23. Oktober 2013 bis 26. Januar 2014 im Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «METAMATIC Reloaded» (Kuratoren Andres Pardey und Siebe Tettero) zeigen, nehmen in unterschiedlicher Weise Bezug auf den Ansatz Tinguelys, Maschinen unter tätiger Mithilfe des Publikums Kunst produzieren zu lassen. Vier – allen voran die Performance-Meisterin Abramović, aber auch Ranjit Bhatnagar,
Jon Kessler sowie Aleksandra Hirszfeld – setzen auf die aktive Mitwirkung der Ausstellungsbesucher. Aber auch die Arbeiten der andern zielen darauf, die Betrachtenden einzubeziehen – sei es, dass sie das Geschehen beeinflussen, sei es, dass sie durch ihre Anwesenheit eine Installation erst vollständig machen, wie in Thomas Hirschhorns begehbarem «Diachronic-Pool». Andere spielen mit Zufälligkeiten und lassen aus raffinierten technischen Installationen Neues, Unerwartetes entstehen. Ein erster Durchgang durch die Schau ergibt den Eindruck grosser Diversität. Angesichts der heute jederzeit verfügbaren technischen Mittel ist das allerdings nicht überraschend. Es ist müssig zu behaupten, Tinguely und die andern Teilnehmenden der sagenhaften Präsentation «Le Mouvement» in der Galerie Denise René von 1955 seien die «echteren» Innovatoren gewesen. Denn damals war es bedeutend einfacher, das Publikum zu überraschen als heute, wo scheinbar alles möglich und alles schon dagewesen ist. Am meisten verblüfft hat uns Brigitte Zieglers «Shooting Wallpaper», eine biedermeierliche Tapeten-Projektion, die plötzlich lebendig wird. Mehr darüber und über alle andern Werke in einer ausführlichen Besprechung der Ausstellung und des Katalogs hier.

Katalog: Andres Pardey (Hrsg.). Métamatic Reloaded. (Beiträge von Michael Herer, Gianni Jetzer, Jitisdh Kallatr, Brian Kerstetter, Pamela M. Lee, Andres Pardey, Bénédicte Ramade, Julia Robinson, Andreas Schlaegel, Siebe Tettero, Ben Valentine, Roland Wetzel). Heidelberg 2013 (Kehrer Verlag), 240 Seiten, Deutsch-englische Ausgabe, CHF 42.00 im Museumsshop.
Illustration: Aleksandra Hirszfeld «Information Absorber» (Detail). © Aleksandra Hirszfeld, Foto Agata Kawecka

Maurizio Cattelan: Ein Wallach mit vier Stuten will bei Beyeler durch die Wand



In einem grosse Raum präsentiert die Fondation Beyeler in Riehen vom 8. Juni bis zum 6. Oktober 2013 Maurizio Cattelans Installation «Kaputt» – eine Neuinterpretation (oder Erweiterung) der im Jahr 2007 unter dem wenig aufschlussreichen Titel «Untitled» entstandenen Skulptur eines ausgestopften Pferdes, das buchstäblich die Wand hoch und durch sie hindurch geht. Diesmal sind es gleich fünf Braune, ein Wallach mit je zwei Stuten zu seiner Linken und Rechten, die ihre fatale Neugier befriedigen wollen. Der 1960 in Padua geborene Künstler, der teils in Mailand, teils in New York lebt, ist – wie in Basel seit der Ausstellung 1999 in der Kunsthalle allgemein bekannt ist – nicht nur ein Meister des bösartigen Humors, er pflegt auch sorgfältig seinen Ruf als notorischer Provokateur und Miesepeter, der die Öffentlichkeit meidet und Erklärungen zu seinen Werken verweigert. Das ist nun in Riehen nicht anders. Die Pferdegruppe wird als Solitär präsentiert, als ob es im grossen Raum keinen Platz für weitere Installationen gegeben hätte. Inhaltlich wenig konkret versuchte Beyeler-Direktor Sam Keller vor den Medien wortreich (und ausschliesslich in englischer Sprache – die ART steht vor der Tür!) zu erklären, weshalb Cattelan, der sein Werk 2011/2012 mit einer Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum abschloss und sich danach angeblich aufs Altenteil zurückgezogen hat, nun eine fünfjährige Idee neu zu beleben beliebte. Ist die Gruppe käuflich? Dient die Schau dem Handel? Unklar blieb vor allem, ob die Ausstellung, wie das Bild einer anderen Installation auf dem Plakat vermuten lässt, nicht auch andere Exponate hätte umfassen sollen. Auch der Kunstkritiker und Cattelan-Freund Francesco Bonami, der in einem als Saaltext publizierten Essay originelle Überlegungen zur Interpretation anbietet, mochte sich an der Präsentation nicht weiter über Details auslassen. Dank ihm wissen wir immerhin mehr über die Gründe, weshalb Cattelans Gäule durch die Wand gehen. «‹Was seht Ihr auf der anderen Seite der Wand?› ‹Nichts› oder vielleicht: ‹Nur einen Esel.›»

Zilvinas Kempinas: Licht, Luft und Videotape

Mit der Schau «Slow Motion» lädt das Museum Tinguely in Basel zur Entdeckung des litauischen Künstlers Žilvinas Kempinas (geb. 1969) ein. Auf 1500 Quadratmetern und vier Etagen präsentiert Kurator Roland Wetzel vom 6. Juni bis zum 22. September 2013 – teils im Dialog mit Jean Tinguelys Maschinenskulpturen, teils in eigenen Räumen – die raumgreifenden Installationen des in New York lebenden «Magiers der Elemente» (Wetzel). Beeindruckend sind die komplexen Raumwirkungen, die Kampinas mit seinem Lieblingsmaterial Magnetband erzielt, das er waagrecht, schräg und senkrecht in den Raum spannt. Die Betrachtenden, die sich in den und um die Kunstwerke bewegen, werden zu Bestandteilen der Installationen. Virtuos geht Kampinas nicht nur mit Räumen, sondern auch mit Luft um. Schon ein leichter Wind macht die dünnen Vogelschreckbänder, die er im Freien zwischen japanische Schneepfähle gespannt hat, zu einer flirrenden, die Farben der Pfähle reflektierenden Skulptur. Ähnlich im Innern, wo Ventilatoren für ständige Bewegung von liegenden, schwebenden und hängenden Videobändern sorgen. Mit der Kempinas-Ausstellung beschert uns das Museum Tinguely die spektakuläre Begegnung mit einem hierzulande bisher unbekannten Kunst-Zauberer, dessen Werk durch geniale Einfachheit und solide Gedankenarbeit besticht.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung folgt demnächst hier.

Max Ernst in der Fondation Beyeler

Max Ernst (1891-1976), einer der kreativen Giganten des 20. Jahrhunderts, widmet die Fondation Beyeler vom 26. Mai bis zum 8. September 2013 eine grosse Retrospektive. Die zuvor in der Wiener Albertina gezeigte Auswahl von über 160 Exponaten, darunter Hauptwerke aus allen Schaffensperioden, wurde vom ausgewiesenen Kenner Werner Spies, zusammen mit Julia Drost, kuratiert. Dass die Schau «zum ersten Mal seit Ernsts Tod» in der Schweiz die Gelegenheit biete, die Vielfalt dieses künstlerischen Universums zu erleben, ist allerdings eine recht dreiste Übertreibung. Sie reflektiert die gegenwärtige Überhitzung eines Ausstellungsbetriebs, der eng mit dem Kunstmarkt verbandelt ist. Es ist ausgerechnet der Kunsthistoriker und Max-Ernst-Experte Werner Spies, der diese Fehlentwicklung aus erster Hand bezeugen kann: Weil er seit Jahren Max Ernsts Oeuvre in vielen Ausstellungen – vor fünf Jahren, vom 12.9.2007 bis zum 26. Januar 2008, auch im Museum Tinguely in Basel – und zahlreichen Publikationen populär machte und gleichzeitig dem Kunsthandel als exzellent honorierter Gutachter diente, ist er am 24. Mai – am Tag, als er den Medien in Riehen seine Beyeler-Schau präsentierte – im Pariser Vorort Nanterre zusammen mit dem Galeristen Jacques de La Béraudière vom Zivilgericht («Tribunal de grande instance») zur Zahlung von 652 883 Euro verurteilt worden. Der Galerist hatte einem Sammler ein Werk von Max Ernst verkauft, das sich als Fälschung erwies – trotz einem Gutachten des weltbekannten Ernst-Experten Spies. Dass dieser beteuert, er habe lediglich bestätigt, das fragliche Gemälde sei in dem von ihm redigierten Verzeichnis der Werke von Max Ernst enthalten, liessen die Richter nicht gelten. Wie die Basler Zeitung in der Ausgabe vom 29. Mai 2013 berichtete, ist Werner Spies nicht nur dieses eine Mal dem Fälscher aufgesessen. 2010 habe er als Gutachter sieben Bilder Ernsts aus einer angeblichen «Kunstsammlung Jägers» als echt bezeichnet, worauf sie versteigert wurden und Spies seine Provision erhielt. 2011 schrieb die FAZ, der angesehene Kunsthistoriker habe 400 000 Euro direkt von der Fälscherfamilie Beltracchi kassiert. Für Werner Spies hätte das alles Schnee von gestern sein sollen. Es sei «unklug» gewesen, schrieb er in seiner Autobiografie, die letztes Jahr erschien, sich seine Expertisen überaus grosszügig honorieren zu lassen. Nun rief das Urteil aus Nanterre die alten Geschichten in Erinnerung und durchkreuzte den Versuch, den Reputationsschaden mit einer grossartigen Retrospektive an ersten Adressen in Wien und Riehen gutzumachen. Der glänzenden Schau in Riehen, die Leihgaben aus allen wichtigen Sammlungen von Werken Max Ernsts vereint, tut dies keinen Abbruch. Wer allerdings glaubt, der Fall Spies könnte dazu führen, dass Kunstvermittler und Kunstvermarkter wieder mehr auf Distanz gehen, dürfte sich täuschen.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung gibt es hier.

Louis Kahn im Vitra-Museum: Meister des Monumentalen

Louis Kahn (1901-1974) war einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Und – mindestens in Europa – einer der unbekanntesten. Eine umfassende Retrospektive, die das Vitra Design Museum in Weil am Rhein (in Zusammenarbeit mit den Architectural Archives der University of Pennsylvania in Philadelphia und dem NAI part of The New Institute, Rotterdam) erarbeitete, ermöglicht es nun, den Meister des monumentalen Bauens neu oder wieder kennenzulernen. Die von Jochen Eisenbrand und Stanislaus von Moos kuratierte Ausstellung «Louis Kahn – The Power of Architecture» demonstriert die herausragende Rolle Kahns in sechs Kapiteln, welche Breite und Tiefe seines Schaffens ausloten. Der erste Teil fokussiert auf Kahns stadtplanerische Arbeiten in Philadelphia, wo er aufwuchs und studierte; der zweite legt das Gewicht auf das Haus als kleinste architektonische Einheit, deren Grundriss nach Kahns Ansicht wie ein Stadtplan im Kleinen aussehen musste. Das dritte Kapitel befasst sich mit Kahns Überzeugung, dass Natur und Gestaltung dieselben Wurzeln haben: «Die Idee, dass Architektur sich in naturwissenschaftliche Begriffe fassen lässt, ist eine Folge davon», heisst es im Katalog. Im vierten Teil geht die Ausstellung Kahns Faszination für Ruinen, für antike Baukunst, für Festungen und Fortifikationen nach, deren monumentale Ästhetik viele seiner Arbeiten prägten; und der fünfte ist seinen bis heute aktuellen Bemühungen gewidmet, seine Bauten in die Natur einzubetten, ja sie in einen direkten Dialog mit der Landschaft zu zwingen. Der letzte Teil schliesslich widmet sich Kahns Unterscheidung zwischen «dienenden» und «bedienten» Räumen und seiner Überzeugung, dass Architektur eine gemeinschaftsstiftende Funktion zu erfüllen hat, indem sie «ein Maximum an offener Interaktion zwischen Menschen ermöglicht» (Katalog). Kahn war nicht nur ein begnadeter Entwerfer, er war – an einer klassischen Kunstschule ausgebildet – auch ein eigenständiger Maler und Zeichner. Seine Skizzen und Aquarelle, die auf seinen zahlreichen Reisen entstanden, bilden innerhalb der einzelnen Ausstellungs-
Kapitel eigene Schwerpunkte. Der sorgfältig gestaltete und opulent illustrierte Katalog leistet mit seinen Essays und Abbildungen einen wesentlichen Beitrag zu Louis Kahns Wiederentdeckung. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalog steht hier.

Mateo Kries, Jochen Eisenbrand, Stanislaus von Moos (Hrsg.): Louis Kahn – The Power of Architecture. Weil am Rhein 2012 (Vitra Design Museum),354 S. €79.90 (Deutsche und Englische Ausgabe).

Bilderchronik einer Avantgarde: Ad Petersen im Museum Tinguely

Dreissig Jahre lang, von 1960 bis 1990, hat Ad Petersen (*1931) am Stedelijk Museum in Amsterdam als Konservator gewirkt und wichtige Ausstellungen der Avantgarde organisiert. Und 30 Jahre lang hat er die Künstler und ihre Arbeit als Chronist mit seiner Kamera begleitet. Seine rund 30’000 Schwarzweiss-Aufnahmen dokumentieren nicht nur die wichtigsten Kunst-Ereignisse der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sie zeugen auch von der einzigartigen Gabe des autodidaktischen Fotografen, den Künstlern immer als Freund zu begegnen, dem sie Vertrauen schenken konnten. Seine Porträts sind nie inszeniert, vielmehr erfassen sie die Persönlichkeit der Künstler in Momenten, in denen sie ganz bei sich sind. Für die Ausstellung im Museum Tinguely in Basel – vom 27. Februar bis zum 26. Mai 2013 – konzentrierte sich die Kuratorin Annja Müller-Alsbach auf den Freundeskreis Tinguelys und seine Generation, denen Ad Petersen besonders nahe stand. Die Fotografien ergänzte sie mit Dokumenten und Kunst-Stücken aus der privaten Sammlung des Holländers, sodass der Titel der Schau «Les mille lieux de l’art» unwillkürlich auch als eine Hommage an das fiebrige «Milieu» der Kunstszene der sechziger und siebziger Jahre verstanden werden kann, in dem auf beiden Seiten des Atlantiks mit neuen Formen der Kunst und der Kommunikation experimentiert wurde. Es ist ein Glück, dass zur Ausstellung ein sehr schön gestaltetes Bilderbuch erscheint, das neben den fotografischen Dokumenten auch Ad Petersens Erinnerungen an die kreative Avantgarde dauerhaft festhält. Ein ausführlicher Bericht über die Ausstellung und das Buch zur Ausstellung steht hier zur Verfügung.
Annja Müller- Alsbach (Hrsg.): Ad Petersen. Les mille lieux de l’art. Luzern 2013 (Edizioni Periferia). 176 Seiten. CHF 38.00

Ferdinand Hodler bei Beyeler

Nicht der Schweizer «Nationalkünstler» Ferdinand Hodler (1853-1918), dessen historisierende Darstellungen über die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinaus einen überholten schweizerischen Patriotismus bedienten, ist der Fondation Beyeler in Riehen in Zusammenarbeit mit der Neuen Galerie in New York eine grosse Retrospektive wert, sondern der alte, arrivierte Hodler, der es sich leisten konnte, ohne Rücksicht aufs Geschäft als waghalsiger Neuerer der Landschaftsmalerei die Grenzen zur Abstraktion zu testen. Die von Ulf Küster (Fondation Beyeler) und Jill Lloyd (Neue Galerie) kuratierte Schau von rund 80 Arbeiten belegt vom 27. Januar bis zum 26. Mai 2013, wie der arrivierte Maler zwischen 1913 und 1918 die grossen Themen seines Schaffens in Serien variierte: Tod und Ewigkeit, Natur und Alpenwelt, das Selbstporträt, Frauenbilder. Da Hodler ausserhalb der Schweiz heute weitgehend vergessen ist, beginnt die Ausstellung mit einem biografischen Kabinett, das neben den Lebensstationen auch das Werk des zu Lebzeiten prominentesten einheimischen
Künstlers darstellt. Besonders beeindruckend sind die Fotografien, mit denen die langjährige Sammlerin und Freundin Gertrud Dübi-Müller den beruflichen und familiären Alltag des lungenkranken alten Mannes bis zum letzten Tag dokumentierte. Im Zentrum der Ausstellung stehen die Landschaftsbilder. Anders als in seinen frühen und mittleren Jahren kommt Hodler im Spätwerk mehr und mehr davon ab, von den Umrissen her zu denken. Stattdessen betont er die Farbflächen bis sich die Landschaft in horizontalen Streifen aufzulösen beginnt. Hier kündige sich die Farbfeldmalerei Mark Rothkos und Barnett Newmans an, heisst es in einem Text der Ausstellungsmacher. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Darstellungen des Leidens und Sterbens seiner krebskranken Geliebten Valentine Godé-Darel. Beim Betrachten fragt man sich, was ihn zu dieser übergriffigen Aktion getrieben haben mag. Welche Rolle spielte sein eigenes Trauma, das er erlitt, als seine lungenkranke Mutter bei der Arbeit auf dem Feld starb, und der 14-jährige ihre Leiche zusammen mit seinen Geschwistern bergen musste? Und wie schwer wog sein Wille zur provokativen Grenzüberschreitung? Irritierend wirkt sodann die Besessenheit, mit der sich Hodler mit seinem eigenen Gesicht abgab. Allein aus dem Jahr 1915 sind fünf Selbstporträts ausgestellt. Ging es ihm um die Selbstdarstellung oder um die Gestaltung von Gesichtslandschaften? Den letzten Höhepunkt der Schau bildet der «Blick in die Unendlichkeit», die bewegte Frauengruppe, die 1916 für das Zürcher Kunsthaus gemalt wurde, die heute aber im Kunstmuseum Basel hängt – weil das Bild den Bestellern seinerzeit zu monumental erschien.
Zur Ausstellung erschien ein opulent illustrierter Katalog. Jill Lloyd, Ulf Küster (Hrsg.): Ferdinand Holder. Riehen, New York, Ostfildern 2013 (Hatje Cantz Verlag) 220 Seiten; CHF 68.00.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalog steht hier.

Museum Tinguely: «Kuttlebutzer»-Fasnacht

Unter dem Titel «Sodeli, d’Kuttlebutzer» zeigt das Museum Tinguely in Basel vom 23. Januar bis zum 14. April 2013 eine eindrückliche Retrospektive auf die kreative Kraft, mit der die Clique «Kuttlebutzer» die Basler Fasnacht revolutionierte – mehrmals unter tatkräftiger Mithilfe Jean Tinguelys, der sich dem ungezügelten Haufen von notorischen Individualisten verbunden fühlte. Die «Kuttlebutzer» zelebrierten ihr Anderssein von Anfang an: Sie starteten kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Schnitzelbangg und entwickelten sich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu einer wohl organisierten Clique. Im Unterschied zu den traditionellen Fasnachtsgesellschaften, die, überwacht vom Fasnachts-Comité, jeweils am Montag- und Mittwochnachmittag einen vorgeschriebenen Parcours, den sogenannten Cortège, absolvierten und dafür Subventionen erhielten, zogen die «Kuttlebutzer» ungebunden durch die Gassen. 1957 waren die zumeist aus kreativen Berufen stammenden Mitglieder individuell kostümiert. Das erste Sujet (ein gemeinsames Thema, das mit Witz und Spott ausgespielt wird) gab es aber schon im zweiten Jahr: «Menschen, Tiere, Sensationen: Yeti» war zwar unpolitisch, liess aber grösstmöglichen Raum für Phantasie und Gestaltungskraft. Neben der eigenwilligen und teuren Ausstaffierung, machte der erstklassige musikalische Auftritt der Gruppe grossen Eindruck. 1958 hatte der «Kuttlebutzer»-Pfeifer und begabte Jazz-Musiker (und nachmalige Regierungsrat) Lukas «Cheese» Burckhardt als Staatsanwalt auf einer Dienstreise nach Schottland Marschmusik-Noten aufgetrieben und daraus den Marsch «Whisky Soda» komponiert, und der «Kuttlebutzer»-Tambour Otti Wick verfasste dazu einen «kühnen und virtuosen»Trommeltext (so der Fasnachtsmusik-Experte Bernhard «Beery» Batschelet am 3.3.2001 in der BaZ). Der «Whisky» ist einer der am meisten gespielten Fasnachtsmärsche; die Noten seien bisher 14’000mal verkauft worden, berichtet der inzwischen 88-jährige Komponist in einem der 30 von Kurator Andres Pardey geführten Video-Interviews, die einen Schwerpunkt der Ausstellung bilden. Neben der Erneuerung der Fasnachtsmusik gehört die Individualisierung der Kostümierung zu den grossen Verdiensten der «Kuttlebutzer». Sie waren die ersten, die Larven und Kostüme selbst gestalteten, eigenwillig und jeder für sich, wie die zahlreichen Exponate belegen. Wohl möglich, dass in einer Clique, die zum grossen Teil aus Künstlern, Grafikern und Dekorateuren bestand, die ihrer Kreativität freien Lauf lassen und die Kollegen übertrumpfen wollten, gar nichts Anderes in Frage kam. Der Umbruch begann mit dem «Lumpesammler-Geisterzug» von 1965, den der Maler Max «Megge»Kämpf (1912-1982) erfunden hatte – ein Totentanz grinsender Gespenster, pure Phantasie ohne Bezug zur Wirklichkeit. Die Kostüme der Vorträbler, Tambouren und Pfeifer bestanden aus Vorhangstoffen und Tüll; die Larven waren Totenköpfe oder federgeschmückte Phantasiegebilde. So etwas hatten die Basler nie zuvor gesehen. Und die Fasnächtler nahmen die Anregungen unverzüglich auf. Innovativ waren die «Kuttlebutzer» auch, wenn es galt, nonkonforme Aussichten zu äussern. 1959 machten sie sich politisch
unkorrekt über das Verbot des Films «Wege zum Ruhm» lustig, 1966 – als «Kuckucksklan» – über die geplante Bundessicherheitspolizei und 1967 über die Roten Garden. Besonders wirkungsvoll (und für die traditionellen Cliquen echt ärgerlich) war die Verspottung der organisierten Cortège-Fasnacht und des Comités: 1964, im Jahr der Expo in Lausanne, formierten die «Kuttlebutzer» ihren eigenen, uniformierten Festzug und überspannten die Freien Strasse, in der während der Strassenfasnacht der grösste Stau herrschte, mit einem Transparent: «Die Kuttlebutzer grüssen die stehenden Cliquen!» Weil die Fasnacht für viele Basler eine todernste Sache ist, war die Provokation ein Volltreffer. Den Höhepunkt erreichte die Kampagne für die wilde und gegen die reglementierte Fasnacht 1974 mit dem «grossen Bums». Zum ersten und einzigen Mal hatte sich die Clique beim Comité angemeldet und vorgegeben, am Cortège teilzunehmen. Jean Tinguely, der in diesem Jahr zum ersten Mal mitmachte, hatte eine Höllenmaschine konstruiert, die vor dem Comité mit gewaltigem Getöse losdonnerte und dabei russigen Rauch ausstiess. «Sodeli. D’ Kuttlebutzer» stand auf dem Gefährt, was jeden Zweifel über den Zweck der rabiaten Übung ausräumte. Im folgenden Jahr legte die Clique nach und verteilte ein «Aufgabenbüchlein für das Comité». Jean Tinguelys anarchischer Geist passte zwar genau ins Profil der eigenwilligen Clique, doch seine hemdsärmlige Unberechenbarkeit wirkte auf viele der gern exklusiv-elitär auftretenden «Kuttlebutzer» irritierend, wie aus einzelnen Interviews herauszuhören ist. 1976 entwarf er einen Zug bunter «Stadtindianer» und 1985 die schwarz-weisse «Atompolizei». Die von Andres Pardey mit grossem Engagement und offensichtlicher Begeisterung kuratierte Ausstellung bietet der älteren Generation einen nostalgischen Rückblick auf nahezu ein halbes Jahrhundert Basler Fasnachtsgeschichte, und den Jüngeren zeigt sie, wie mit Spott und Phantasie angeblich unveränderliches Brauchtum in Schwung zu bringen ist. Ohne die gewisse Arroganz der «Kuttlebutzer», mit der sie vermeintlich «alte Traditionen» zur Disposition stellten, wäre die Basler Fasnacht heute möglicherweise zur beliebigen Folklore erstarrt. Ganz sicher wären die drei schönsten Tage im Basler Jahr aber weniger bunt als sie sich heute präsentieren. Allen, die etwas über die Dynamik der Fasnacht erfahren wollen, und allen, die an der kreativen Energie dieser Stadt Freude haben, sei ein Ausstellungsbesuch mit Nachdruck empfohlen.

Zur Ausstellung ist zum Preis von Fr. 7.65 eine Publikation in Form eines gefalteten Weltformat-Plakats erschienen, auf dessen Rückseite die ganze «Kuttlebutzer»-Geschichte von 1957 bis 1999 dargestellt ist. Zudem steht ein Inventar der Exponate zur Verfügung, das auch ihre Herkunft verzeichnet.

Illustration: Kuttlebutzer «Geisterzug» von 1965 ©Foto Rolf Jeck.

Tinguely@Tinguely: Ein schöner Moment

20 Jahre nach Jean Tinguelys Tod und 16 Jahre nach Eröffnung des Museums Tinguely in Basel erscheint ein neuer Sammlungskatalog, der die forschende, dokumentierende und restauratorische Museumsarbeit umfassend widerspiegelt und allen, die den grossen Innovator und Anreger des Kunstbetriebs schätzen, eine Fülle von Material zur Verfügung stelltn. Anders als gewöhnlich, wo ein Katalog eine Ausstellung begleitet und Auskunft über die Absichten der Kuratoren gibt, reflektiert jetzt fast ein Jahr lang, vom 6. November 2012 bis zum 30. September 2013, eine Ausstellung die Bestandsaufnahme der Autorinnen und Autoren. Zwar dominieren die spektakulären Maschinen-Skulpturen auch die Schau «Tinguely@Tinguely», doch die weniger grossformatigen Werke erhalten deutlich mehr Gewicht als gewöhnlich. Das Frühwerk mit seinen feinen, mobilen Reliefs findet auf der Galerie den Raum, der ihm als Beleg von Tinguelys ungestümer Innovationskraft zusteht. Und im zweiten Stock haben die tönenden Skulpturen einen fulminanten Auftritt. Im Untergeschoss findet Tinguelys Begeisterung für Autorennen seinen Ausdruck und seine vielfältigen Kollaborationen mit anderen Künstlern. Hier zeigt sich zudem, wie konsequent er den Zeichenstift einsetzte – nicht nur, um mit der gesamten Kunstszene zu kommunizieren, sondern auch um Ideen festzuhalten und sie planmässig umzusetzen. Auch die imposanten, wenn auch flüchtigen Happenings – von «Homage to New York» (1960) über «Study for an End of The World No.2» (1962) und «La Vittoria» (1970) bis zum «Mémorial Jo Siffert» (1981) – werden gebührend gefeiert. Der rote Qualm des Weltuntergangs in der Wüste von Nevada, dampft sogar über den Katalog-Umschlag, was die Autorinnen und Autoren als Statement verstanden wissen wollen: Man soll Jean Tinguely nicht als harmlosen Kunst-Gewerbler in Erinnerung behalten, als den er sich gegen Ende seines Lebens manchmal wohl selbst missverstand. Es sei «ein schöner Moment», sagte Direktor Roland Wetzel, Tinguely erstmals nach der Eröffnungsschau wieder die ganzen 3000 Quadratmeter des Museums zur Verfügung zu stellen. Damals, vor 16 Jahren, waren im Neubau drei Viertel der Exponate nur als Leihgaben präsent. Jetzt sind nur drei Werke nicht im Besitz der eigenen Sammlung! Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des neuen Katalogs steht hier.

Andres Pardey (Hg.): Museum Tinguely Basel. Die Sammlung. Basel/Heidelberg 2012 (Museum Tinguely/Verlag Kehrer) 552 Seiten CHF 58.00 (Deutsche Ausgabe). Im Januar 2013 folgen eine englische und eine französische Ausgabe.



Pop-Art und Design: Ein spannender Dialog

Wer das Theater kennt, den amerikanische Schulen mit den Fahnen in den Schulzimmern machen, die unter keinen Umständen den Boden berühren dürfen, kann ermessen, was es bedeutete, als das Flaggenmuster 1969 auf einem italienischen Sitzmöbel («Leonardo») auftauchte, wo jeder seinen Hintern auf dem verehrten Tuch polieren konnte – wenn auch nur symbolisch. Es war die Zeit, als die Protestwellen gegen den Vietnamkrieg hoch gingen, als Tausende ihre Marschbefehle nach Vietnam verbrannten. Es ist ein besonders eindrückliches Arrangement der von Mathias Schwartz-Clauss kuratierten Ausstellung «Pop Art Design» im Vita Design Museum in Weil am Rhein, über dem provozierenden Stars-and-Stripes-Sofa Andy Warhols monumentales Porträt «Mao» aufzuhängen und beides mit Gaetano Pesces überlebensgrossser «Moloch»-Leuchte zu erhellen. Auch an anderen Stellen der höchst anregenden Schau (bis 3.2.2013) kommt es zu gelungenen Begegnungen, die belegen, wie sehr sich in den 1960er Jahren Kunst und Design, artistische Kreativität und Produktgestaltung gegenseitig beeinflussten. Nicht alle der über 140 Exponate, die durch Fotografien, Dokumente, Filme und Texte ergänzt werden, verdienen als Einzelstücke gleich hohe Beachtung. Doch im Kollektiv vermitteln sie allemal den aufrührerischen Geist der damaligen Aufbruchstimmung. Eine neue Generation amerikanischer Künstler befreite sich damals von der überkommenen Haltung des Originalgenies, das einsam in seinem Atelier seinem artistischen Ego huldigte. Sie bedienten sich, meist mit ironischer Distanz, in der Erlebniswelt der Durchschnittsbürger. Gleichzeitig wurde die Kunstproduktion in gewisser Weise demokratisiert – und damit auch zugänglich gemacht für den kommerziellen Zugriff. Indem das Vitra Design Museum seine Ausstellung zusammen mit dem Louisiana Museum of Modern Art in Humblebæk (DK) und dem Moderna Museet in Stockholm gestaltete, sind zahlreiche wertvolle Stücke aus den Sammlungen der beiden skandinavischen Häuser zu sehen. Zudem stellt die Fondation Beyeler im nahen Riehen in ihren Räumen eigene Exponate der Pop-Art aus, die durch Design-Objekte aus der Vitra-Sammlung ergänzt werden. Zur Ausstellung in Weil am Rhein erschien ein opulent bebilderter Katalog. Eine ausführliche Besprechung steht hier.

Illustration: Studio 65, Leonardo, Sofa, 1969, Sammlung Vitra Design Museum © Studio 65, Foto: Andreas Sütterlin.

Edgar Degas als Wegbereiter der Moderne

Edgar Degas (1834-1917) war im Kreis der Impressionisten ein überaus erfolgreicher Maler, dessen genrehafte Szenen aus der Grossstadt das Lebensgefühl der aufstrebenden Bourgeoisie bedienten, als er sich Mitte der 1880er Jahre nicht nur zu seinen langjährigen Weggefährten auf Distanz ging, sondern sich nach und nach ganz aus der Öffentlichkeit zurück. Der geschäftlich sehr erfolgreiche Junggeselle begann, sich in seinem Atelier abzukapseln, was ihm den Ruf eines skurrilen Eremiten eintrug. Er stellte nur noch selten aus und konzentrierte sich auf die Weiterentwicklung seines Werks – weg von der impressionistischen gegenständlichen Feinmalerei hin zu Form- und Farbexperimenten, die er an einer kleinen Zahl von Motiven durchexerzierte. Zur forschenden Suche nach neuen Ausdrucksformen gehörte auch die Anwendung einer Vielzahl handwerklicher Techniken. Neben die Ölmalerei trat die Zeichnung ebenso wie verschiedene Drucktechniken, die Fotografie und die Bildhauerei. Er malte mit den Fingern, bearbeitete Pastelle mit Dampf und kombinierte verschiedene Pigmentformen. Kuratiert von Martin Schwander präsentiert die Fondation Beyeler in Riehen Degas’ aufregende Suche nach neuen – modernen – Ausdrucksformen nach Motiven geordnet: Tänzerinnen (die kaum je tanzen), Porträts von engen Freunden, Frauen bei der Toilette, Landschaften, Innenräume sowie Reiter und Pferde, darunter den «verletzten Jockey», eines in seiner gewagten Reduktion auf den bedrohlichen Kern der Szenerie weit voraus weisenden Werke. Zur Ausstellung erschien ein Katalog mit Beiträgen von Carol Armstrong, Jonas Beyer, Richard Kendall und Martin Schwandet sowie einem Gespräch mit dem Künstler Jeff Wall.

Kritischer Blick auf Rousseau

Immanuel Kant brachte den Begriff 1784 auf den Punkt: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit». Wenn derzeit die Leistungen des Aufklärungs-Philosophen Jean-Jacques Rousseau zu seinem 300. Geburtstag in den höchsten Tönen gewürdigt werden, verschwimmt die präzise Definition des Königsberger Professors zu einem schöngeistigen Rauschen. Die Menschen sollten sich von der Vernunft leiten lassen, nicht von Religion und Aberglauben, hiess einer der Leitsätze, auf den sich die Aufklärer im Kreis der Enzyklopädisten um Denis Diderot verständigten. Das Individuum müsse sich der Fesseln der Tradition entledigen und sich von willkürlichen Machtansprüchen kirchlicher und weltlicher Obrigkeiten befreien. Im Gegensatz zu
S
einem Freund Diderot, der diese Grundsätze in aller Konsequenz verteidigte, zog es Jean-Jacques Rousseau vor, immer wieder Kompromisse zu machen. Er verkrachte sich mit seinen Freunden, die ihm seine Eskapaden immer wieder verziehen. Es gehört deshalb zu den Merkwürdigkeiten der Philosophie-Geschichte, dass nicht diejenigen, welche die Prinzipien der Aufklärung kompromisslos vertreten haben, für ihren Mut und ihre Standhaftigkeit bewundert werden, sondern Rousseau, der aus Furcht vor dem Jüngsten Gericht viele seiner Überzeugungen preisgab. Seine geschmeidige Anpassung an das bourgeoise Mittelmass machte seinen Erfolg nachhaltig. Gemässigte Aufklärer wie Kant, Voltaire und Rousseau wollten Vernunft und Rationalität auf die Wissenschaften beschränken und das Volk nicht mit Religionskritik erschrecken, wie es die radikale Fraktion für notwendig hielt. Den Freundeskreis der radikalen Aufklärer um Denis Diderot, dem auch Jean-Jacques Rousseau eine Zeit lang angehörte, rettet ein ausgezeichnetes Buch des Kulturpublizisten Philipp Blom aus der Vergessenheit. Eine ausführliche Geschichte über das Buch gibt es hier.

Blom, Philipp: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München 2010 (Hanser). 400 Seiten. € 24.90. Eine Taschenbuchausgabe erscheint 2013 bei dtv.

Vladimir Tatlin im Museum Tinguely

Er war ein Wagner-Fan, der «Fliegende Holländer» hat ihn besonders begeistert. Er war Künstler durch und durch, ein Avantgardist eigener Prägung. Und er glaubte an die Revolution, ganz und gar: Der akademisch zum Maler ausgebildete Vladimir Tatlin (1885 in Moskau geboren, aufgewachsen in Charkow in der Ukraine und im Mai 1953, drei Monate nach Josef Stalin, in Moskau gestorben) inszenierte seinen Glauben an die Zukunft und die Kraft des Kollektivs in vielen Kunstformen. Das Modell seines 400 Meter hoch geplanten, den Pariser Eiffelturm weit überragenden «Denkmals der III. Internationale» gehört zum Grundbestand der Moderne; seine «Konterreliefs» sollten das gängige (bürgerliche) Kunstverständnis aufheben; sein Theater sollte Dichtung und bildende Kunst zur Weltenergie-Quelle verschmelzen; und seine Flugmaschine «Letatlin» hatte nichts weniger im Auge, als den Aufstieg (oder die Rückkehr) des modernen Menschen in die Luft. Das Museum Tinguely in Basel unternimmt es vom 6. Juni bis zum 14. Oktober 2012, weltweit zum ersten Mal seit 20 Jahren, den faszinierenden Visionär in einer umfassenden Schau vorzustellen. Die von Gian Casper Bott mit Sorgfalt und stupendem Fachwissen kuratierte Retrospektive umfasst über 100 Gemälde, Zeichnungen, Reliefs und Skulpturen und ermöglicht einen tiefen Einblick in die faszinierend moderne Welt der russischen Avantgarde und des Konstruktivismus. Die mit Leihgaben aus allen bedeutenden Tatlin-Sammlungen Russlands bestückte Schau ist geeignet, den im Westen etwas in Vergessenheit geratenen Avantgardisten neu zu entdecken und ihn in seiner Heimat noch höher einzuschätzen. Im August und September zeigt das Museum eine Filmreihe «Russische Avantgarde». Und Ende September steht ein internationales Symposium auf dem Programm, das die russische Tatlin-Forschung ermutigen und unterstützen soll.
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der Tatlins Leben und Werk im Licht der neusten Forschung darstellt.
Eine ausführliche
Besprechung der fabelhaften Ausstellung und des Katalogs gibt es hier.

Illustration: V. Tatlin vor dem Modell des Denkmals der III. Internationale 1920 (Ausschnitt) © 2012, A.G. Kaminskaya.

«Calder Gallery» bei Beyeler

Unter dem Titel «Calder Gallery» beginnt die Fondation Beyeler in Riehen am 25. Mai 2012 eine langfristige Zusammenarbeit mit der Calder Foundation in New York. Nach Angaben des Museums soll damit erreicht werden, dass das umfangreiche Werk von Alexander Calder (1898-1976) permanent und «in Europa einzigartig» im Riehener Ausstellungshaus präsent ist. Ausgewählt von Theodora Vischer, sind in der aktuellen Schau Werke aus dem Nachlass von Calders jüngster Tochter, Mary Calder Rower, zu sehen. Im Entree hängt ausserdem «Ottos’s Mobile», eine stark von Joan Mirò Malerei geprägte Bewegungs-Skulptur aus dem Jahr 1952, die nicht nur die Freundschaft zwischen den beiden Künstlern belegt, sondern auch seinen immer wieder aufblitzenden Witz: «Otto mobile» tönt wie «Auto mobile» – mit dem Schlenker, dass viele Automobile von Ottomotoren angetrieben werden. Das Mobile gehört, zusammen mit der monumentalen Skulptur «The Tree», die bis nach dem Abbau von Jeff Koons’ «Split-Rocker»im Herbst, «in Wartung» ist, zur Sammlung der Fondation Beyeler. Die Präsentation der «Calder Gallery» wird mit wechselnder Besetzung für unbestimmte Zeit fortgeführt,

Gerrit Rietveld im Vitra-Museum

Als der gelernte Schreiner Gerrit Rietveld (1888 - 1964) seinen legendären, scheinbar unbequemen aber schönen Stuhl gestaltete, war der Erste Weltkrieg gerade zu Ende. Über dem Trümmerhaufen Europa lag Revolution in der Luft – nicht nur in der Politik. In den im Krieg neutralen Niederlanden fanden sich 1917 Künstler und Architekten, darunter auch Piet Mondrian, in der Gruppe «De Stijl» zusammen, um die Welt neu zu gestalten. Schon früher hatte Gerrit Rietveld begonnen, zum eigenen Vergnügen Möbel zu entwerfen. Provokant verdeckte er die Verschraubungen nicht. Er unterstützte den Maler Theo van Doesburg, den Häuptling der Bewegung, auf der Suche nach einer radikal neuen Art der Innendekoration. Und er galt spätestens ab 1924, als er mit und für Truus Schöder in Utrecht ein Haus baute, als der führende Designer der Gruppe. Seinen Durchbruch als international beachteter Architekt erlebte er allerdings erst in den fünfziger Jahren. Das Vitra Design Museum in Weil am Rhein widmet Gerrit Rietveld in Zusammenarbeit mit dem Central Museum in Utrecht vom 17. Mai bis zum 16. September 2012 eine umfassende Ausstellung. Zu den rund 320 Exponaten gehören neben Möbeln auch Bilder, Fotografien und Modelle, sowie Filme und bedeutende Werke von Zeitgenossen (Theo Van Doesburg, Bart van der Leck, Marcel Breuer, Le Corbusier). Die Kuratorinnen Amelie Znidaric und Laura Hampesch (Vitra Design Museum) sowie Ida van Zijl (Centraal Museum, Utrecht) zeigen, wie aktuell das Werk des Holländers geblieben ist: Rietveld war ein Pionier der Selbstbau-Möbel und seine städtebaulichen Vorstellungen wurzelten in der Überzeugung, dass sie im Dienst der Gesellschaft stehen müssen.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog. Ida van Zijl: Gerrit Rietveld – Die Revolution des Raums.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs gibt es
hier.

Plädoyer für Jeff Koons

Die Fondation Beyeler affichiert ihre Jeff-Koons-Show als «erste Einzelausstellung in einem Schweizer Museum». Ist das ein Zufall? Vielleicht mochten sich andere Kunsthäuser bisher nicht auf eine Debatte über Kitsch oder Nicht-Kitsch des Koonschen Oeuvre einlassen. Möglich, dass sie fürchteten eine Ausstellung könnte als Statement für den seit seinen Anfängen umstrittenen und seit seiner kurzen Ehe mit dem italienisch-ungarischen Porno-Sternchen Ilona «Cicciolina» Staller berüchtigten Amerikaner gewertet werden. Anderseits ist es unbestritten, dass Koons auf dem Kunstmarkt eine ganz grosse Nummer ist. Seine Produktionen erzielen auf Auktionen regelmässig Rekordpreise. Inzwischen kann die über 100-köpfige Belegschaft der Koonschen Kunstfabrik den Markt mit beachtlichen Stückzahlen beliefern – aber ohne die Nachfrage je befriedigen zu können. Im zeitlichen Umfeld der jährlichen Kunstmesse »Art Basel» garantiert die Koons-Schau dem Museum beträchtlichen Zulauf; und dem Künstler und seinen Agenten bietet sie eine zusätzliche Verkaufsplattform: Vom 13. Mai bis zum 2. September 2012 zeigt die Fondation Beyeler 48 Exponate aus fünf Werkgruppen und dazu, im Park vor dem Museum, die monumentale Blumenskulptur «Split-Rocker», der Kopf eines Schaukeltiers, halb Dinosaurier, halb Pony. Dass Theodora Vischer, eine weltweit anerkannte Spezialistin für Gegenwartskunst, die Werkschau mit grosser Ernsthaftigkeit kuratierte, und dass Direktor Sam Keller bei der Präsentation (und in Anwesenheit des Künstlers) fast verzweifelt an die Medienleute appellierte, sachlich und faktenbezogen zu berichten, werten wir als ultimativen Versuch, Jeff Koons vom Image des cleveren Selbstdarstellers und Vermarkters von Kitsch- und Glitzer-Objekten zu befreien und ihn endlich als Künstler mit Tiefgang zu etablieren. Ob das Plädoyer Erfolg hat, steht dahin. Sicher ist, dass die Schau bei Beyeler den Kunstinteressierten eine Gelegenheit bietet, sich selbst ins Bild zu setzen.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des umfangreichen Katalogs gibt es hier.

Edward Kienholz und Nancy Reddin Kienholz: Zeichen der Zeit

Edward Kienholz (1927-1994) war einer der ersten Künstler, die den Rohstoff für ihre Arbeiten auf Müllhalden und Flohmärkten zusammensuchten. Und weil er mehr Ideen hatte, als er realisieren konnte, verlegte er sich früh darauf, mögliche Kunstwerke nur zu beschreiben und vorzurechnen, was die Ausführung kosten würde. Am Beginn seiner Karriere war Kienholz auch Kunst-Unternehmer. Er organisierte Ausstellungen und betrieb zusammen mit einem Kollegen eine eigene Galerie. Für die amerikanische Gesellschaft der späten fünfziger und der sechziger Jahre waren seine Werke eine reine Provokation. Nach 1972, nach seiner Begegnung mit Nancy Reddin (geb. 1943), die seine fünfte Frau wurde, entwickelte der kritische Ansatz zusätzliche Schärfe und wurde – auch beeinflusst durch ein Auslandjahr in Berlin – europäisch-direkt und für die Betrachter sofort lesbar. Die Retrospektive, die das Museum Tinguely in Basel von der Schirn Kunsthalle in Frankfurt übernommen hat, umfasst 34 Werke, von denen elf Nancy Reddin Kienholz als Mitautorin affichieren. Sie sind alle explizit auf Wirkung angelegt, Kunstwerke, die sich gegen Krieg, Rassismus, religiöse Heuchelei und die Unterdrückung der Frauen engagieren. Als besonders eindrücklich fielen uns die monumentale «Ozymandias Parade» (deren Titel sich auf ein Gedicht von Shelley bezieht) und die sarkastische Figurengruppe «My County ‘Tis of Thee» (nach der ersten Zeile eines bekannten patriotischen Liedes von Samuel Francis Smith) mit vier hosenlosen krawattierten Herren, die sich, je eines ihrer bestrumpften Beine in einer Tonne, die Rechte in der Herzgegend, die Linke am Gemächte des Hintermanns, wie auf einem Karussell um die amerikanische Flagge drehen. Unwillkürlich kommen uns Zirkuselefanten in den Sinn, die sich bei ihrem Ringelreigen am Schwanz zu fassen pflegen. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier.

Vera Isler zeigt Künstler-Porträts im Museum Tinguely

Vera Isler begann ihre Karriere als professionelle Fotografin spät und autodidaktisch. Kein Zweifel, dass ihr Lebenserfahrung und kreative Unvoreingenommenheit zustatten kamen, als sie begann, Künstlerinnen und Künstler zu porträtieren Unter dem Titel «Face to Face II» zeugen vom 1. Februar bis 6. Mai 2012 im Museum Tinguely in Basel 54 hervorragende Beispiele von Islers erstaunlicher Fähigkeit, gleichzeitig mit Spontaneität und Aufgeschlossenheit auf fremde Menschen zuzugehen und respektvoll Distanz zu wahren. Ihre Begegnungen mit den Künstlerinnen und Künstlern im Atelier oder in einer Ausstellung, versichert Vera Isler, seien meist von kurzer Dauer gewesen. So blieb keine Zeit zum Posieren. Technisch verliess sich die Fotografin ausschliesslich auf ihre Kamera. Auf Hilfsmittel, welche die Begegnung hätten stören können, verzichtete sie, und Fremde waren beim Rendezvous erst recht nicht erwünscht. Der Blickwinkel war immer derselbe: Face to Face, von Angesicht zu Angesicht. Die fast lebensgrossen, durchwegs schwarz-weissen Porträts, die in der von Andres Pardey kuratierten Schau zu sehen sind, bestechen durch ihre Präsenz. Die dicht gereihte Hängung zwingt die Betrachtenden zur Konzentration auf den einzeln abgebildeten Menschen.
Zur Ausstellung, die 2011 auch im Museum der Moderne in Salzburg zu sehen war, erschien ein Katalog mit Texten von Jean-Christophe Ammann und Margit Zuckriegl. Vera Isler: Face to Face II. Weitra 2011 (Verlag Bibliothek der Provinz) 96 Seiten, CHF 22.00. Die polnischen Filmemacher Daria Kołacka und Piotr Dżumala porträtieren die Künstlerin in dem Film «Vera Isler – Einen Augenblitz, bitte». Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier.

Pierre Bonnard bei Beyeler

Mit Pierre Bonnard (1867 bis 1947) stellt die Fondation Beyeler in Riehen vom 29. Januar bis zum 13. Mai 2012 einen der faszinierendsten, weil oft als blosser Kolorist missverstandenen Maler der Moderne in einer grossen Einzelausstellung vor. Kurator Ulf Küster präsentiert den Zeitgenossen von Henri Matisse (1869-1954) und Mitgründer der Künstlergruppe «Les Nabis» (Maurice Denis, Edouard Vuillard, Paul Sérusier, Henri-Gabriel Ibels und Paul Ranson), als eigenwilligen Farben-Zauberer, der manchmal Jahrzehnte brauchte, bis er ein Werk als vollendet betrachtete. Überzeugend ist die Idee, die rund 60 Werke thematisch zu ordnen, den Räumen entsprechend, die ihnen den Rahmen geben: Die Strasse, das Esszimmer, das Badezimmer, der Garten sind die Orte, an denen Bonnard seine «Abenteuer des Sehnervs» (so der Titel eines Films von Didier Baussy) am liebsten inszenierte. Der Maler war zeitlebens auf seine Kunst konzentriert. Die politischen und wirtschaftlichen Umbrüche seiner Zeit, Krieg und Frieden schienen ihn nicht zu berühren. Besessen vom Bemühen, das menschliche Erlebnis des Sehens nachzubilden, lebte er in seinen Häusern gleichsam in Klausur. Er hatte eines am Unterlauf der Seine, und ein zweites in Südfrankreich, in der Nähe von Cannes, und staffierte sie seinen künstlerischen Bedürfnissen entsprechend aus. Dort malte er in seinem Atelier, wenn man den überlieferten Fotografien glauben darf, im Anzug mit Krawatte, mit einem Hut auf dem Kopf.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs gibt es hier.

Robert Breer – Pionier der bewegten Bilder

Robert Breer, 1926 in Detroit geboren und im August 2011 gestorben, kam als ausgebildeter Maler 1949 nach Paris und machte sich dort als Vertreter der «kalten Abstraktion» einen Namen. Schon in den frühen fünfziger Jahren begann er, seine Kompositionen zu mobilisieren – zunächst, indem er sie auf Kartothek-Karten zum Daumenkino verarbeitete, später, indem er mit einer 16-Millimeter-Kamera experimentierte. Seine Künstler-Kollegen bewunderten Breer als fleissigen, unermüdlichen Innovator, der sich immer eigenständig weiter entwickelte, ohne Rücksicht auf gängige Moden und Erfolgsrezepte. Einem breiten Publikum wurde der Sohn eines Ingenieurs, der selbst eine zeitlang Maschinenbau studiert hatte, erst 1970 bekannt, als er an der Weltausstellung in Osaka den spektakulären Pepsi-Pavillon mit seinen «Floats» bevölkerte. Das Museum Tinguely in Basel zeigt vom 26. Oktober 2011 bis zum 29.1.2012 die erste umfassende Darstellung von Breers Lebenswerk in der Schweiz: Gemälde, Filme und Skulpturen. Die in Basel von Andres Pardey kuratierte Schau, die zuvor schon im BALTIC, Centre for Contemporary Art in Gateshead (GB) zu sehen war, gibt einem grossartigen Werk, das hierzulande bisher erst wenig bekannt war, starke Konturen und schliesst eine Lücke in der Rezeption der kinetischen Kunst. Zur Ausstellung erschien ein Katalog mit kenntnisreichen Aufsätzen der Kuratoren und der Basler Medienwissenschaftlerin Ute Holl. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier…

Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags

Eingerichtet von Mateo Kreis, zeigt das Vitra Design Museum in Weil am Rhein vom 15. Oktober bis zum 1. Mai 2012 Rudolf Steiner als Schöpfer einer «völlig neuen Alltagsästhetik». Der Gründer der Anthroposophischen Bewegung und Erbauer des Goetheanums in Dornach folgte auch in seiner gestalterischen Arbeit demselben Muster, mit dem er sich seinen ganzen Geistespalast zusammenbaute: indem er Vorhandenes auswählte und in neue Zusammenhänge brachte. Bei Goethe lieh er sich die Farbsymbolik und bediente sich in der Metamorphosenlehre. Der Jugendstil mit seinem vegetativen Gestaltrepertoire lieferte ebenso Vorlagen wie der Kubismus, und die zahlreichen Reformbewegungen der Zeit, die unter anderem einfache Formen und die handwerklich sorgfältige Bearbeitung grundlegender Materialien propagierten. Die Ausstellung im schwierig zu bespielenden Museumsgebäude von Frank Gehry ist gleichzeitig eine Einführung in die Steinersche Ästhetik und eine Auseinandersetzung mit der Frage nach ihrer Gültigkeit bis heute. In dieser Breite und Tiefe ist dies der erste Versuch einer Gesamtschau auf Steiner als Designer. Und man darf ohne Weiteres sagen: Schon ein erster Rundgang zeigt, dass der Wurf gelungen ist. Um die Wirkung der Schau zu vertiefen, leistet sich das Vitra Design Museum ein Begleitprogramm, das auch für grössere Häuser den Rahmen des Gängigen bei weitem sprengen würde: Das Angebot umfasst, zusätzlich zu den Führungen durch die Ausstellung, fast ein halbes Hundert Workshops Happenings, Gespräche und Exkursionen. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist hier zu lesen.

Surrealismus in Paris

So breit und reichhaltig sind die Surrealisten bisher in der Schweiz nie präsentiert worden, wie jetzt (vom 2. Oktober 2011 bis zum 29. Januar 2012) in der Fondation Beyeler. Kurator Philippe Büttner, der sich mit dieser fulminanten Schau von seiner langjährigen Riehener Wirkungsstätte Richtung Zürcher Kunsthaus verabschiedet, zeigt die ganze Fülle der von André Breton 1924 angestossenen multimedialen Kulturrevolution. Als sich die Vorgänger-Bewegung Dadaismus in ihrem individualistischen Protest erschöpfte, zielten die Neuerer auf die Veränderung der Gesellschaft: Literatur und Bildende Künste sollten mit Hilfe des Unbewussten die Kreativität befreien und ein modernes Lebensgefühl entwickeln. Kurator Büttner legt seiner Ausstellung das Konzept einer Schau zugrunde, die Breton, Eluard und Marcel Duchamp 1938 in der Pariser Galerie des Beaux-Arts veranstaltet hatten. Sie nannten Sie «La Ville surréaliste», weil sie um 13, von verschiedenen Künstlern gestalteten Schaufensterpuppen gruppiert war, denen teils erfundene, teils echte Strassennamen zugeordnet waren. Die Besucher in Riehen werden denselben Strassenschildern begegnen, die je einem der 14 Räume zugeordnet sind. Es ist verdienstvoll, dass sich der Ausstellungsmacher nicht darauf beschränkte, herausragende Werke der bekanntesten Surrealisten darzubieten, sondern sich bemüht, einen Eindruck von der Breite der Bewegung zu vermitteln. Zwischen Gemälden und Skulpturen der «Bande à Breton» – herausragend: «Capricorne» von Max Ernst zum Auftakt im Foyer, «Peinture» von Joan Miró und «Judith» von Francis Picabia – sind zahlreiche Werke von Künstlern zu entdecken, die heute weniger bekannt sind. Das gilt in besonderem Mass für Hans Bellmer, dessen «Poupée» zu Recht als «vielleicht bedeutendstes surrealistisches Objekt» bezeichnet wird. Aber auch für den Basler Kurt Seilgman (1900 - 1962), der 1939 in die USA emigrierte und dort bekannter ist als in seiner Heimat. 1950 malte er ein Fasnachtsbild in surrealistischer Manier. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist hier zu finden.

Louise Bourgeois bei Beyeler

«Eine konzentrierte Auswahl» nennt die Fondation Beyeler die 20 Werke, die sie, inszeniert von Kurator Wulf Küster, als Hommage zum 100. Geburtstag der franko-amerikanischen Künstlerin Louise Bourgeois (1911 bis 2010) vom 3.9.2011 bis zum 8.1.2012 zeigt. Teils inmitten von Werken anderer Künstler aus der Sammlung der Fondation in Riehen, teils in eigenen Räumen belegen skulpturale und zeichnerische Arbeiten die ungewöhnliche Breite ihres Schaffens, das die Klassische Moderne mit der Gegenwartskunst verbindet. Den Anfang und das Ende der Werkschau bilden zwei herausragende Werke: im Park, von Bäumen umgeben, die monumentale Riesenspinne «Maman» aus dem Jahr 1999 und im Untergeschoss, im Innersten des Museumsbaus, der käfigförmige Seelen-Parcours «Passage dangereux» von 1997. Besonders stolz sind die Ausstellungsmacher, dass sie die Erlaubnis erhielten, den Zyklus «A l’infini» aus dem Jahr 2008, zum ersten Mal öffentlich zu zeigen. Die 14 grossformatigen Radierungen kann als eine Art Selbstporträt der Künstlerin gelesen werden, das sich aus Bruchstücken ihres Unbewussten zusammensetzt. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung steht hier.

«Fetisch Auto» im Museum Tinguely

Unter dem Titel «Fetisch Auto. ich fahre, also bin ich» ist Roland Wetzel, dem Direktor des Museums Tinguely in Basel, ein kleiner Geniestreich gelungen. Vom 8. Juni bis zum 9. Oktober 2011 präsentiert er in einer umfassenden Schau auf 1700 Quadratmetern alle künstlerisch relevanten Aspekte des Autowahns. Nicht weniger als 180 Werke von 80 Künstlerinnen und Künstlern demonstrieren den Fetischcharakter des motorisierten Untersatzes. Jean Tinguelys Auto-Obsession wird im Untergeschoss in einer eigens eingerichteten Abteilung zelebriert. Als Einstimmung zur Ausstellung wird eine Filmcollage angeboten, und vor dem Museum, im Solitude-Park, werden in einem improvisierten Drive-in-Kino bis am 9. September jeweils von Dienstag- bis Freitagabend Filme gezeigt, in denen Autos eine wichtige, wenn nicht die Hauptrolle spielen. Die Zuschauenden finden in 29 Autos Platz, die gemietet werden können. Noch wichtiger als das Freiluft-Kino ist der Katalog zur Ausstellung. Denn er zeigt und erläutert weit mehr als die ausgestellten Kunst-Stücke. Der 336 Seiten starke Band illustriert die ganze Geschichte der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Auto und präsentiert wichtige Essays zum Thema.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist hier zu lesen.

Brancusi und Serra bei Beyeler

Es ist nicht gerade Feuer und Wasser, was der Kurator Oliver Wick vom 22. Mai bis 21. August 2011 in der Fundation Beyeler zusammenführt. Doch mindestens als ganz und gar ungewöhnlich darf sein Vorhaben gelten, Constantin Brancusi (1876 bis 1957), dem Meister der skulpturalen Reduktion und der glatten Oberfläche, und Richard Serra (geboren 1939), dem Virtuosen der monumentalen Raum-Installation einen gemeinsamen Auftritt zu ermöglichen. Noch nie waren in der Schweiz so viele Arbeiten Brancusis, des wichtigsten Bildhauers der klassischen Moderne, zu sehen. Die 40 Werke sind gruppenweise ausgestellt, wobei mehrfach Variationen desselben Sujets in verschiedenen Materialien präsentiert werden. Von Richard Serra sind zehn wichtige Arbeiten zu sehen, gewaltige Stahlplatten, für die das Museum teilweise umkonstruiert werden musste, damit die viele Tonnen schweren Objekte richtig platziert werden konnten. Die Wirkung ist atemberaubend – auch wenn man nicht sieht, wie schwierig es war, die Kunstwerke ins Haus zu bringen. «Das», rief Sam Keller, der Direktor der Fundation Beyeler, aus, «soll und einmal jemand nachmachen.» In der Tat, auch Richard Serra, der seine erste Arbeit in Riehen 1980 für die inzwischen legendäre Ausstellung «Skulptur im 20. Jahrhundert» im Wenkenpark installierte, äusserte sich begeistert über das riesige Engagement der Fondation.
Wicks «Bauchgefühl», dass Brancusi und Serra irgendwie seelenverwandt seien und zusammen gezeigt gehören, bleibt nach einem ersten Rundgang durch die sorgfältig arrangierte Ausstellung ein Bauchgefühl: Man wird den Eindruck nicht los, dass sich die Werke der beiden Koryphäen nicht allzu viel zu sagen haben. So sehr Serra schon als Kunststudent in Paris Brancusi bewunderte, in dessen rekonstruiertem Atelier er tagelang zeichnend hockte, so eigenständig hat er später sein skulpturales Werk entwickelt. Brancusis Einfluss auf alle, die nach ihm Kunstwerke in drei Dimensionen gestalteten, ist unbestritten.
Zur Ausstellung erschien ein Katalog, der alle versammelt, die sich über Serras und Brancusis Kunst kluge Gedanken machen.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist
hier zu lesen.

Stimme der Wölfin

Nicht selten scheitern Biografen, weil sie die Person, die sie beschreiben, vollkommen vereinnahmen. Sie schlüpfen gleichsam in die fremde Haut und machen sich fremde Ansichten und Haltungen zu eigen. Gelungene Lebensbeschreibungen hingegen halten Distanz und respektieren die Individualität der beschriebenen Person. Das gilt besonders für Porträts lebender Personen.

Ein gutes Beispiel bietet Silvana Schmids Buch über die Tessiner Sängerin La Lupa. Dramaturgisch raffiniert entfaltet die erfahrene Journalistin und Autorin in acht Kapiteln das Leben der in Corbella im Onsernone-Tal aufgewachsenen Maryli Maura (Meri) Marconi. Kein Zweifel: Die Porträtierte trug durch ihre farbigen Erzählungen viel zu dem gelungenen, mit Fotos von Gitty Darugar illustrierten Werk bei.

Im Vorwort räumt Silvana Schmid ein, sie habe mit dem Ruf der La Lupa als herausragende Volksmusikerin zunächst wenig anfangen können – bis sie in Locarno einen ihrer Auftritte erlebte. Da war sie nicht nur von ihrer mitreissenden Stimme begeistert, sondern vor allem vom Raffinement des zweisprachig vorgetragenen Programms – und von der Ausstrahlung der authentischen Künstlerinnen-Persönlichkeit

Als sie der Tessinerin später auch in Zürich zufällig begegnete, reifte der Plan einer «Wegbeschreibung in Etappen»: Wie wurde La Lupa aus Corbella die bunte Wölfin der Zürcher Szene? Wie kam sie dazu, ihr Naturtalent zur Profession zu machen? Und wie schaffte sie es, dabei ihren ganz einzigartigen Stil zu entwickeln?

Es ist die grosse Stärke der Autorin, dass sie sich nicht damit begnügt, Antworten auf die selbst gestellten Fragen zu suchen. Vielmehr gelingt es ihr, das künstlerische Aufblühen der Tessinerin in die Zürcher Zeitläufte einzubetten: Der Globus-Krawall 1968, die Jugendbewegung der frühen achtziger Jahre haben La Lupas Leben ebenso geprägt, wie das vieler ihrer Altersgenossinnen und -genossen, besonders in den Kreisen der Künstler.

Dass Meri Marconi zur eigenständigen, selbstbewussten Künstlerin werden konnte, verdankte sie allerdings nicht dem Zeitgeist, sondern ihrer eigenen Hartnäckigkeit und dem innovativen Musiker-Milieu, in dem sie sich während vielen Jahren bewegte – bis ihr «System La Lupa» zur Reife kam: «Es ist massgeschneidert, wie die Kleider ihrer Nonna Miriam, massgeschneidert auf ihre Person und auf ihre Grenzgänge zwischen den Sprachen, den Kulturen, den Milieus und den musikalischen Genres, zwischen ihrer Spiritualität und ihrer Sinnesfreude», beschreibt Silvana Schmid die Basis einer unbeirrbaren künstlerischen Selbstsicherheit. Dazu gehört auch, dass sie die Zürcher Strassen täglich zur privaten Bühne macht, auf der sie in knallbunten, extravaganten Kleidern La Lupa zur Kultfigur stilisiert.

Nicht nur den Passanten, die ihr dabei begegnen – manche freudig überrascht über den Mut, manche leicht geniert ob der Exhibition – eröffnet Silvana Schmids Porträt überraschende Perspektiven, die vom Zürichsee bis ins Onsernone-Tal reichen.

Silvana Schmid: La Lupa. Die Stimme der Wölfin. Mit Fotografien von Gitty Darugar. Zürich 2011 (Limmat Verlag). 112 Seiten, 12 Fotografien. CHF 28.00; € 22.00

Arman – eine Werkschau im Museum Tinguely

Die Werkschau des französischen Künstlers Arman (1928-2005), welche vom Pariser Centre Pompidou zusammen gestellt und im vergangenen Herbst gezeigt wurde, macht vom 16. Februar bis zum 15. Mai 2011 im Museum Tinguely in Basel Station. Die Schau, die für Basel um wichtige Arbeiten ergänzt wurde, bietet in sieben Kapiteln einen umfassenden Überblick über die Schaffensperioden des Künstlers. Arman (eigentlich: Armand Pierre Fernandez) gehörte mit Jean Tinguely und Yves Klein zu den Gründern der Bewegung der Nouveaux Réalistes. Auf die Blütezeit dieser Gruppe, welche die damals alles dominierende abstrakte Kunst für tot erklärte und – oft mit ironischer Distanz – den Dingen des Alltags, dem Schrott und dem Abfall kreatives Potenzial zumass, legt die Ausstellung ein besonderes Gewicht. Für Arman waren die Gegenstände und die künstlerischen Gesten, die sie veränderten, zentrale Werte seiner Kunst. «Ich behaupte», schrieb er 1960, «dass der Ausdruck des Mülls, der Objekte, für sich einen eigenen Wert hat, unvermittelt, ohne das Zielgerichtete einer ästhetischen Behandlung, die sie entwertet und mit den Farben auf einer Palette gleichsetzt; überdies führe ich ohne Erbarmen und Reue den Sinn der globalen Geste ein.» Schon ein kurzer Rundgang durch die Ausstellung belegt, wie vielgestaltig die Methoden waren, mit denen Arman diese Ziele verfolgte – angefangen bei seinen Stempelbildern und seinen Müllcontainern bis hin zu den Verbrennungsaktionen. Eindrücklich ist auch das Gewicht der Malerei und zum Tafelbild, die in dem Werk sichtbar ist: Die Malerei bildete Armans Ausgangspunkt und zur Malerei kehrte er schliesslich zurück.
Zur Ausstellung erschien ein sehr schön und sorgfältig gemachter Katalog.
Mehr über die Ausstellung den Katalog demnächst hier.
Illustration: Avant la chance, 1989 (Ausschnitt)

Giovanni Segantini in der Fondation Beyeler

Mit 50 Gemälden und 25 Zeichnungen, bedauert der Kurator Guido Magnaguagno, bleibe seine grosse Segantini-Ausstellung in der Fondation Beyeler (vom 16. Januar bis 25. April 2011) «notwendigerweise ein Bruchstück»: über allzu viele der grossformatigen Bilder haben Sammler und Museen Ausleihsperren verhängt. Gleichwohl ist er überzeugt, dass die nun zusammen mit Diana Segantini, der Urenkelin des Künstlers, für Riehen zusammengetragene Schau geeignet ist, den lange als Idylliker verkannten «Alpenmaler» in der Nachbarschaft der Grossen seiner Zeit – Seurat. van Gogh, Cézanne oder Monet – zu würdigen. Die chronologisch aufgebaute Ausstellung zeigt, zum Teil erstmals in der Schweiz, auch Werke des jungen Segantini, welche die Suche nach einer eigenen Bildsprache dokumentieren. Und sie demonstriert, nicht zuletzt anhand grossformatiger Skizzen, welch grossartiger Zeichner Giovanni Segantini war. Der sorgfältig redigierte Katalog belegt zudem, wie sehr der abseits der grossen Verkehrswege lebende Künstler internationales Renommee genoss und selbst über das aktuelle Kunstgeschehen informiert war. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier.

Under Destruction

Das kleine gelbe Plakat am Anfang der Ausstellung «Under Destruction» im Museum Tinguely (15. Oktober 2010 bis 23. Januar 2011) lässt keinen Zweifel: Die Besucher betreten gefährliches Terrain. Die Gefahr droht in erster Linie vom Boden, einer Gipskarton-Wüste der italienischen Künstlerin Monica Bonvicini mit hinterlistig angebrachten Fehlstellen. Zerstörerische Gewalt ist in der von Gianni Leiter des «Swiss Institute» in New York, Gianni Jetzer, und Chris Sharp sorgfältig kuratierten Schau, nur zum Teil ein Thema. Zerstörung wird von Künstlern heute offensichtlich weniger spektakulär und mit politischem Hintersinn dargestellt als noch in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Während Jean Tinguely damals nichts weniger als Weltuntergänge inszenierte, geht es heute um das Verschwindenlassen von Bleistiftzeichnungen per Radiergummi oder um Ausbleichen von Textilien mit einer Waschmaschine. Einer lässt Seifenblassen in Flammen aufgehen, ein anderer schickt maschninell geschmierte Konfitüren-Toasts in den Orkus abstürzen. Geschickt spielen die Ausstellungsmacher mit der Erwartungen der Besucher, indem sie ihnen zunächst bloss die sanfte Tour der Zerstörung vorführen, bevor sie es krachen lassen. Dabei darf es durchaus bedachtsam zugehen: Die hydraulische Kraft, die einen massiven Holzbalken zersprengt, wirkt langsam aber stetig; und der Crash zweier Luxusschlitten braucht Wochen, bis sie, Millimeter für Millimeter, zu Schrott gereift sind. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung steht hier.

Wien 1900 – ein Gesamtkunstwerk

Selten hat ein Krach in einer lokalen Standesorganisation so fruchtbare Folgen gehabt wie der laute Austritt des Malers Gustav Klimt mit 18 Gleichgesinnten aus der behäbigen und bornierten „Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens“ im Jahr 1897 und die Gründung der Rebellen-Organisation „Wiener Secession“. Es war ein Befreiungsschlag im Namen der Kreativität. Er befreite das Kunstschaffen aus der Zwangsjacke der akademischen Malerei und Bildhauerei und schuf Raum für eine umfassende kulturelle Botschaft: Eine neue Zeit beginnt. „Wien um 1900“ heisst die Schau, mit der Barbara Steffen vom 26. September 2010 bis 16. Januar 2011 in der Fondation Beyeler diese kreative Aufbruchstimmung illustriert. Erwartungsgemäss stellt die Wiener Kuratorin die Arbeiten von Gustav Klimt und Egon Schiele ins Zentrum, doch sie inszeniert sie als Teil eines Wiener Gesamtkunstwerks, in dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben Malern auch Architekten, Möbelgestalter und andere Kunsthandwerker, Schriftsteller, Komponisten die neue Zeit mitgestalteten. Viele wurden gleichzeitig von mehreren kreativen Kräften gepackt: Arnold Schönberg komponierte und malte, der Architekt Josef Hoffmann, Mitgründer der Secession, entwarf Möbel und andere Gebrauchsgegenstände. Mit dem Ersten Weltkrieg unter dem Untergang Österreich-Ungarns fand die Aufbruchstimmung ein Ende. Leider gaben sich später einige, darunter Josef Hoffmann, der Illusion hin, die Nazis knüpften an ihren Jugendstil an, und liessen sich freudig in Dienst nehmen. Klimt und Schiele, die Protagonisten der Neuen Zeit, starben so früh, der eine 1915, der andere 1918, dass ihnen jede Versuchung erspart blieb. Eine ausführlich Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist hier zu finden,

Kunst in Fesseln

Schon als Kunststudent begann der Amerikaner Matthew Barney (*1967) mit allerlei Geräten zu experimentieren, die ihn beim Zeichnen behindern konnten. Zuerst waren es elastische Seile und Gewichte, die der athletische Football-Spieler vom Training her kannte. Später ging er zu Versuchsanordnungen über, die auch psychischen Stress verursachten. So entstanden 16 Performances, die der Künstler unter dem Titel «Drawing Restraint» zusammenfasste und seine Überzeugung illustrierte, dass «Form nur Gestalt annimmt, wenn sie gegen Widerstand kämpft». Weil die Laurenz-Stiftung, zusammen mit dem Museum of Modern Art in New York Matthew Barneys Archiv der «Drawing Restraint»-Reihe erworben hat, ergab sich die Möglichkeit, die Werke vom 12. Juni bis zum 3. Oktober 2010 im Schaulager in Münchenstein erstmals vollständig öffentlich zu präsentieren. Der Kurator der Ausstellung, Neville Wakefield, ergänzte Barneys Objekte und Filmprojektionen mit Kunstwerken aus der nördlichen Renaissance, in der Überzeugung, dass in Gemälden, Stichen und Zeichnungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert ähnliche Aspekte – Kraftanstrengung, Überwindung von Widerständen, Verlust des Gleichgewichts, Aufsteigen und Fallen – zu finden sind. Eigens für die Ausstellung gestaltete Matthew Barney einen «Drawing Restraint 17» genannten Film, in der sich eine junge Frau gegen Widerstände abmüht. Der Film ist auf den Projektionswänden an der Fassade des Schaulager-Gebäudes zu sehen. Eine Besprechung steht hier.

Roboterträume

Ob und, wenn ja, was Roboter träumen, will die Ausstellung «Roboterträume» im Museum Tinguely in Basel vom 9. Juni bis 12. September 2010 nicht zeigen. Auch Isaac Asimovs titelgebende Kurzgeschichte vom Roboter, der dem Menschen ebenbürtig wird, will die Schau nicht illustrieren. Vielmehr versammelt das von Roland Wetzel und Andres Pardey in Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Graz (Intendant: Peter Pakesch) gestaltete Panoptikum eine Vielfalt künstlerischer Interventionen am Übergang zur Automaten-Technik. Oft bleibt offen, wo die künstlerische Inspiration beginnt und die technische Innovation endet. Es sind sowohl bekannte Installationen zu sehen – darunter zum Auftakt der «Andy Warhol Robot» von Nam June Paik (Bild) und ein Fünf-Minuten-Medley aus klassischen Roboterfilmen – als auch eigens für die Ausstellung geschaffene Arbeiten jüngerer Künstlerinnen und Künstler. Und wie üblich bei Gruppen-Präsentationen von Auftragsarbeiten ist die Relevanz dieser Kunstwerke sehr unterschiedlich. Dem Katalog ist es vorbehalten, wichtige historische Bezüge nachzuzeichnen, die in der Ausstellung zu kurz kommen – insbesondere die lange Tradition der Automaten und Maschinenmenschen. Die ausführliche Besprechung steht hier.

Basquiat in der Fondation Beyeler

Aus Anlass seines 50. Geburtstages widmet die Fondation Beyeler Jean-Michel Basquiat, dem Wunderkind der amerikanischen Hip-Hop-Generation, die bisher umfangreichste Retrospektive. Vom 9. Mai bis zum 5. September sind in Riehen kuratiert von Dieter Buchhart und Sam Keller, 86 meist grossformatige Gemälde, dazu Zeichnungen und skulpturale Objekte zu sehen – eine Auswahl aus einem riesigen Oeuvre, das über 1000 gemalte und mehr als 2000 gezeichnete Arbeiten umfasst. Basquiat, 1960 als Kind einer Puertoricanerin und eines Haitianers in Brooklyn geboren und 1988 in Manhattan im Drogenrausch gestorben, begann mit 16 als Sprayer, dann versuchte er sich als Gestalter von T-Shirts und als Musiker bevor er sich der Malerei zuwandte. Sein Aufstieg zum Jungstar der internationalen Kunstszene begann 1981, als seine Arbeiten in der Ausstellung «New York/New Wave» neben Bildern von Keith Haring und Robert Mapplethorpe hingen und die ersten Kunsthändler auf ihn aufmerksam wurden. Ein Jahr später sah sich der 21-jährige zur Documenta nach Kassel eingeladen. Erstklassige Galerien in den USA und in Europa richteten ihm Einzelausstellungen aus. In der chronologisch aufgebauten Präsentation in Riehen ist ein zunehmend selbstsicheres kreatives Naturtalent dabei zu beobachten, wie es seiner eigenen Welt Form und Farbe gibt – spielerisch, kraftvoll und «immer echt», wie sein Galerist und Förderer Bruno Bischofberger betont.
Die ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs gibt es hier.

Der Erste Weltkrieg

Auf vier DVDs mit insgesamt über elfeinhalb Stunden Filmsequenzen entwickeln Heinz Bütler und Alexander Kluge mit Hilfe zahlreicher illustrer Expertinnen und Experten unter dem Titel «Der Erste Weltkrieg: Kunst und Krieg» ein umfassendes Panorama künstlerischer und politischer Weichenstellungen, die ein ganzes Jahrhundert zum Entgleisen brachten. Die Frucht der Zusammenarbeit zwischen NZZ Format und dctp.tv wird (für stolze 120 Franken) als «Sammlerobjekt» präsentiert und gleichzeitig als «Work in progress» relativiert. Für das Jubiläumsjahr 2014 steht eine ergänzte Fassung in Aussicht. Die von Heinz Bütler verantworteten beiden ersten DVDs befassen sich mit einzelnen Künstlern und ihren Kriegserfahrungen (DVD 1) sowie mit Dadaismus und Surrealismus (DVD 2). Alexander Kluge dokumentiert – mit einem bedeutend grösseren Stab von Mitarbeitenden und einem signifikant höheren intellektuellen und kreativen Aufwand – «Die Abwesenheit von Kriegskunst», zeigt «wie ein Jahrhundert entgleist» (DVD 3) und demonstriert die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit historischen Katastrophen (DVD 4) – denn «wer die Massaker nicht erinnert, pflegt sie.» Es liegt in der Natur der Materialsammlung, dass sich die Betrachtenden auf Längen und Unfertiges gefasst machen müssen. Das Begleitheft hilft, Schwerpunkte zu erkennen. Unsere kritische Besprechung steht hier.

Die Essenz der Dinge

Vom Faustkeil bis zum billigsten Auto der Welt, vom klassischen Thonet-Stuhl bis zum Sparschäler spürt das Vitra Design Museum in Weil am Rhein bis zum 19. September 2010 unter dem Titel «Die Essenz der Dinge» den Verbindungen des Designs mit der Kunst der Reduktion nach. Kurator Mathias Schwartz-Clauss organisiert 159 Exponate in einem Prolog und zwölf Kapiteln und ergänzt die Präsentation mit Projektionen von assoziierten Gegenständen. In dem so entstehenden Panoptikum der Design-Geschichte, das um die Sitzmöbel-Sammlung des Museums kreist, ergeben sich teils spannungsvolle, teils irritierende Gegenüberstellungen. Mehr…

VitraHaus in Weil am Rhein: Häuserstapel

In Weil am Rhein präsentierte Rolf Fehlbaum, Chef des Designmöbel-Herstellers Vitra und seit vielen Jahren ein Förderer ungewöhnlicher Architektur, das von den Basler Architekten Herzog & de Meuron entworfene «VitraHaus». Was äusserlich wie ein willkürlich errichteter Häuserstapel aussieht, bietet im Innern grosszügig Raum für die Präsentation der Wohnmöbel-Kollektion des Unternehmens. Den Besuchern wird aber auch die Geschichte des modernen Möbeldesigns nahe gebracht. Und sie sind vom 22. Februar 2010 an während der Öffnungszeiten (Montag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr) eingeladen, ihre Sinne für Formen und Farben zu schärfen. Wer will, kann Möbel und Objekte ausprobieren und im Shop bestellen oder kaufen. Mehr…

Vom Kino zur Kinetik - die bewegte Kunst wird zur Kunstgewegung

Drei Ausstellungen in einer präsentiert das Museum Tinguely in Basel vom 10. Februar bis zum 16. Mai 2010: Die erste ist eine Rekonstruktion der Kinetiker-Schau «Le Mouvement», die 1955 unter der (umstrittenen) Regie von Victor Vasarely in der Pariser Galerie Denise René die junge Bewegungskunst als Kunstbewegung zu etablieren versuchte. Jean Tinguely, belegt die von Roland Wetzel kuratierte Rückschau, hatte dort mit seinen filigranen motorisierten Skulpturen und Reliefs einen ersten überzeugenden Auftritt. Im zweiten Teil werden die Filme gezeigt, die 1955, parallel zur Ausstellung aber in einem gesonderten Programm der Cinémathèque Française, zu sehen waren. Die Kino-Kunststücke leiten über zum dritten Teil, zur Spurensuche in den zwanziger Jahren, als die ersten Künstler mit Filmen und mit beweglichen Skulpturen – Mobiles, Lampenschirme, ein Metronom – zu experimentieren begannen. Mit welch grossem Ernst sie dabei zu Werke gingen, ist unter anderem an den Aquarellen zu sehen, mit denen Oskar Fischinger seine Filme gestaltete. Mehr…

Henri Rousseau in der Fondation Beyeler

Blutrünstige Wildkatzen in märchenhaftem Urwalddickicht: Das ist der Stoff, in dem sich nach landläufiger Meinung des Zöllners Henri Rousseau naive Kreativität erschöpfte. Eine Ausstellung von 40 herausragenden Gemälden in der Fondation Beyeler in Riehen belegt vom 7. Februar bis zum 9. Mai 2010, wie einseitig das gängige Vorurteil über den angeblichen «peintre naïf» bei naher Betrachtung ist. Mit der sorgfältigen Gegenüberstellung einzelner Werke führt Kurator Philippe Büttner die Eigenständigkeit des Autodidakten vor, und mit der Einbettung von Rousseaus Oeuvre in das Schaffen seiner Zeitgenossen macht er den grossen Einfluss fassbar, den der «Douanier» auf seine Kollegen ausübte. (Das Bild zeigt einen Ausschnitt aus «Surpris!» von 1891.) Mehr…

Basler Fasnacht und Kunst

20 beispielhafte Laternenhelgen aus knapp 100 Jahren Basler Fasnacht, Jeannots Vortrab-Maschine «L’Avant-Garde», eine kleine Galerie seiner Kuttlebutzer-Ideenskizzen, drei Beuys-Mäntel der «Alte Richtig» samt Kurzvideo und an den Wänden, links und rechts, zwei Rohlarven-Paraden: Das ist, kurz zusammengefasst, die Ausstellung «Fasnacht & Kunst & Tinguely», die als Hommage an das heuer hundertjährige Fasnachtscomité vom 2. Februar bis 16. Mai 2010 im Basler Museum Tinguely zu bewundern ist. Gewiss, was da geboten wird, ist von einer umfassenden Darstellung der kreativen Wucht, die der dreitägige Mummenschanz jedes Jahr am Rheinknie entfaltet, weit entfernt. Aber eine Ahnung davon vermag die Schau durchaus zu entwickeln. Das ist offensichtlich das Verdienst des Kurators Andres Pardey, der mit Engagement und fasnächtlichem Sachverstand zu Werke ging. Mehr…

Jenny Holzer in der Fondation Beyeler

Dass Jenny Holzer eine Berühmtheit wider Willen ist, die öffentliche Auftritte ohne jede narzisstische Attitüde absolviert, war bei der Presse-Präsentation ihrer Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel offensichtlich. Geduldig beantwortete die Amerikanerin unzählige befremdliche und einige sinnreiche Fragen aus dem grossen Publikum, in dem die Medienleute eine kleine Minderheit darstellten. Und Direktor Sam Keller krönte den Anlass mit einem eigenen absurden Akzent, indem er der Künstlerin für ihre Geduld überschwänglich dankte und die Zuhörenden zu einem grossen Applaus aufforderte. Welch ein Kontrast zum Werk dieser explizit politischen, auf Wirkung in der Öffentlichkeit bedachten Frau! Seit über 30 Jahren nutzt sie jede technische Möglichkeit, ihren Protest gegen Ungerechtigkeit, Gewalt und Krieg unter die Leute zu bringen. Sie gehört zu den ganz wenigen zeitgenössischen Kunstschaffenden von Rang, die vom gesellschaftlichen Auftrag der Kunst überzeugt sind und dafür ihr ganzes Können einsetzen. Wie vielfältig sie ihr Engagement für eine gerechtere Welt sichtbar macht, zeigt (vom 1.11.2009 bis zum 24. Januar 2010) die eindrückliche, von Elizabeth A. T. Smith (Museum of Contemporary Art in Chicago) und Philippe Büttner (Fondation Beyeler) kuratierte Ausstellung. Mehr...

Rauschenberg bei Tinguely

Gleich auf doppelte Weise ermöglicht das Museum Tinguely in Basel, einen der Pioniere der amerikanischen Moderne, den am 13. Mai 2008 im Alter von 82 Jahren verstorbenen Robert Rauschenberg, kennen zu lernen: Vom 14. Oktober 2009 bis zum 17. Januar 2010 präsentieren der neue Museumsleiter Roland Wetzel und die Kuratorin Annja Müller-Alsbach gleichzeitig die Zusammenarbeit Jean Tinguelys mit seinem amerikanischen Freund «Bob» Rauschenberg und – unter dem Titel «Gluts» – eine Auswahl aus der gleichnamigen Werkgruppe aus dem Spätwerk, die zuerst in der Peggy-Guggenheim-Collection in Venedig gezeigt wurde und von Basel nach Bilbao weiter wandern wird. Gestaltet wurde dieser Teil der Schau von Susan Davidson vom New Yorker Guggenheim-Museum und von David White, Kurator des Rauschenberg-Nachlasses. Mehr...

Rauschenberg: «Trophy III (for Jean Tinguely)»

Eisen, Feuer und die Zeit

Feuer und Eisen ist ein Hauptthema Paul Wiedmers, und so heisst auch die Ausstellung die vom 16. September 2009 bis zum 24. Januar 2010 im Museum Tinguely in Basel zu sehen ist. Doch der aus Burgdorf stammende Eisenplastiker aus dem Freundeskreis der Tinguelys und Luginbühls ist inzwischen über seine frühe Liebe zu Flammen speienden Konstruktionen hinaus gewachsen. In den letzten Jahren hat er sich intensiv mit Zeit und Mass beschäftigt. Ohnehin musste sich Andres Pardey, der die Ausstellung kuratierte, auf wenige Aspekte von Wiedmers Schaffen beschränken. Denn viele Werke wurden als Antwort auf einen bestimmten Ort geschaffen, die meisten für Wiedmers Freiluft-Galerie «La Serpara» im Süden der Toskana. Zur Ausstellung erschienen ein Katalog und der Comic «Time Riders», den Wiedmers Sohn Samuele Vesuvio zur Erläuterung der neun «ZeitZeichen»-Skulpturen gezeichnet hat. Mehr...

Kunst-Clan Giacometti

«Giacometti» heisst (vom 31. Mai bis 11. Oktober 2009) kurz und bündig der Titel der Sommer-Ausstellung in der Fondation Beyeler. Anhand von über 150 Werken belegt die Schau die Einzigartigkeit und die enge künstlerische Verbundenheit des Bergeller Clans der Giacomettis. Die Familienmitglieder sassen einander nicht nur oft und gern Modell, sondern sie halfen einander auch, künstlerische Probleme zu lösen. Besonders eng war der Austausch zwischen Vater Giovanni Giacometti und seinem Sohn Alberto. Die umfassende Werkschau von Alberto Giacomettis Auseinandersetzung mit der Darstellung der Bewegung in Raum und Zeit kommt in der Architektur von Renzo Pianos Museumsbau in grossartiger Weise zur Geltung. Mehr...

Rüstungen und Roben

Einmal mehr bestätigt das Museum Tinguely in Basel seine führende Rolle als Ort kreativer Kunst-Inszenierung. Die Lust am hemmungslosen Entdecken und Ausprobieren, die Jean Tinguely und seine weitläufige Entourage auszeichnete, beflügelte einmal mehr auch Guido Magnaguagno, wenn er in der Ausstellung «Rüstung & Robe» (13. Mai bis 30 August 2009), seiner letzten als Direktor, prächtige Erzeugnisse des ausgestorbenen Handwerks der Plattnerei aus Zeughäusern in Graz, Wien und Solothurn als «hohe Schule des wehrhaften Harnischs» zelebriert und mit Abendroben von Roberto Capucci sowie Werken von Eva Aeppli und Niki de Saint Phalle konfrontiert. Selbstverständlich gehört auch Jean Tinguelys und Bernhard Luginbühls ARTillerie zur Schau. Auch ihre kriegerischen Inszenierungen des ewigen Geschlechterkampfs sind selbstverständlich präsent. Mehr...

Holbein bis Tillmans

Etwa 250 Werke, die rund 120 Künstlerinnen und Künstlern seit dem 15. Jahrhundert geschaffen haben, versammelt Theodora Vischer, die Direktorin des Schaulagers in Münchenstein bei Basel, vom 4. April bis 4. Oktober 2009 in ihrer Schau «Von Holbein bis Tillmans,». Über 200 der Exponate gehören dem Kunstmuseum Basel, das seine Säle für eine grosse van Gogh-Ausstellung leer räumen musste. Das bot Gelegenheit, die Kunst-Stücke vorübergehend im Schaulager aufzunehmen und sie mit Werken der Gegenwartskunst zu konfrontieren. Zu sehen ist nun ein spannendes, zum Teil witziges Panoptikum voller Überraschungen. Bilder, die in unserem Bewusstsein seit Kindertagen im Kunstmuseum ihren festen und sicheren Platz hatten, gewinnen in der ungewohnten Umgebung ganz neue Qualitäten. Der Kuratorin, die sich offensichtlich erlaubte, mehr auf ihre Intuition als auf ihr kunsthistorisches Wissen zu setzen, gelingt es mit ihrem, bescheiden als «Bilderessay» affichierten Experiment, «Reflexion und Imagination» ihres Publikums zu erweitern. Mehr...

Littmanns chinesischer Veloladen

1997 kaufte der Basler Kunst-Unternehmer Klaus Littmann auf Pekinger Strassen zehn dreirädrige Lasten-Fahrräder. 2008 erstand er – zum Teil unter bizarren Umständen – 24 weitere. Einen Teil dieser Tricycles – 18 im «Originalzustand», als eine Art Readymades, und 16 von Künstlern verfremdete – sind vom 11. Februar bis zum 19. April 2009
im Museum Tinguely in Basel ausgestellt. So spassig sich die Fahhrad-Parade neben Tinguelys Maschinen ausnimmt und so schnell sich die Erinnerung an Jean Tinguelys und seiner Freunde Umzug vom Atelier an der Pariser Impasse Ronsin zur «Galerie des 4 saisons» am 14. Mai 1960 einstellt: so wahnsinnig aufregend, wie die Schau angepriesen wird, ist sie nicht. Selbstverständlich machen diese urtümlichen Velos ohne ordentliche Bremsen und Gangschaltung einen exotischen Eindruck. Und, ja: Die eingeladenen Künstlerfreunde Klaus Littmanns haben sich alle Mühe gegeben, mit den Rädern etwas Originelles anzustellen. Richtig gut gelungen ist das allerdings nur in anderthalb Fällen. Halbwegs reüssierte Thomas Virnich – vor allem, weil er handwerklich brillierte: Er kaschierte sein Rad zuerst mit seidenstoff-überzogenem Papiermaché, schnitt die Form dann auf und platzierte den Zwilling kopfüber auf die Ladefläche, sodass nun eine hübsche Chinoiserie zu bewundern ist. Grossartig hat der in Basel lebende Amerikaner Michael Vessa auf sein Fahrrad reagiert. Er motzte das Klappergestell zu einem technisch voll ausgerüsteten, das moderne China perfekt symbolisierenden Gefährt auf und baute es mit viel Liebe zum Detail zu einer mobilen Rednertribüne um: es gibt ein Treppchen zur Plattform hinauf, ein ausklappbares Pültchen fürs Manuskript, Fahnen auf faltbarem Gestänge- insgesamt eine vollendete, aber ganz unaggressive Provokation und ein Aufruf zur Verteidigung der Redefreiheit. Im Gegensatz zu dieser herausragenden Arbeit verstanden viele der beteiligten Künstler die Velos lediglich als Podest oder allenfalls als Synonym für ein beliebiges Transportmittel. Reizvoll ist immerhin zu sehen, wie nah sich Originale und Kunst-Stücke im Einzelfall kommen. Das Garküchen-Motiv kommt zum Beispiel drei Mal vor: zwei Mal echt und einmal westlich nachempfunden. Zu hoffen ist, dass Klaus Littmann, der seine Fahrrad-Schau von Basel aus auf Tournee schicken und auf ihrem Weg noch ausbauen will, künftig noch mehr Künstlerinnen und Künstler findet, die sich wirklich intensiv auf die chinesischen Lastenräder einlassen wollen.

Bilder © Jürg Bürgi (oben), Nils Fisch (unten).

Sammelsurium mit Seele

Im Museum Tinguely in Basel macht der Zeichner und Verleger Ted Scapa von 4. Februar bis 19. April 2009 seine wuchernde Privatsammlung öffentlich zugänglich – grossformatige Druckgraphik neben afrikanischen Holzskulpturen, chinesische Tonstatuetten, Masken aus Neuguinea und Memorabilien von Jean Tinguely und weiteren Künstlerfreunden. Was Kunsthistoriker schockieren muss, ist für das weniger bedarfte Publikum eine Offenbarung: Da sammelte ein Künstler ein Leben lang alles, was ihm gefiel oder mehr oder weniger zufällig zufiel. Und er stapelte diese Sammelstücke, diese Trophäen und Trouvaillen in seiner Wohnung zu einem ganz individuellen, nur ihm und seinen Nächsten durchschaubaren Sammelsurium, ohne Rücksicht auf Konventionen, ohne Angst vor Beschädigung. Mehr...

Bildwelten: Afrika, Ozeanien und die Moderne



Skulpturen indigener Künstler im Dialog mit Werken von Meistern der klassischen Moderne: Das ist die Grundidee der Ausstellung «Bildwelten – Afrika, Ozeanien und die Moderne» (25. Januar bis 24. Mai 2009) in der Fondation Beyeler in Riehen. Neu ist das Konzept zwar nicht, doch so konsequent und wagemutig wie Kurator Oliver Wick hat sich noch niemand an die Arbeit gemacht: In den Mittelpunkt des «visuellen Abenteuers» (Wick) stellte er in je sechs Räume Skulpturen-Gruppen aus Afrika und Ozeanien, insgesamt 197 Kunstwerke, und konfrontiert sie mit 44 Arbeiten, mehrheitlich Gemälden, der klassischen Moderne, 40 davon aus dem eigenen Sammlungsbestand. So eigenwillig wie die Ausstellung, so unkonventionell ist auch die Begleitpublikation: eine Pappschachtel. Sie enthält – zum Auseinanderfalten – 15 grossformatige Bildtafeln mit den Abbildungen der ausgestellten Werke und sachkundigen Erläuterungen, sowie eine 48 Seiten starke Broschüre, deren Haupttext anschaulich zeigt, wie verschieden Ethnologen und Kunsthistoriker mit den früher als «primitive Kunst» oder als «Art brut» etikettierten Werken umgehen. Mehr...

Jürg Hasslers Schach-Spiele

Der Filmemacher und gelernte Bildhauer Jürg Hassler, 70, erfindet seit fünf Jahren das Schachspiel neu. Wie berühmte Künstler des 20. Jahrhunderts – Man Ray und Max Ernst zum Beispiel – gestaltet er neue Figuren, aber anders als den Vorgängern genügt ihm das nicht. Das flache Brett mit den 64 Feldern erscheint ihm als Kampfplatz allzu banal. Seine Figuren belagern und attackieren einander auf polierten Steinplatten ebenso wie auf einem Floss aus alten Eisenbahnschwellen; sie bevölkern stllisierte Stadtlandschaften oder eine Sandwüste. Den Ideen sind keine Grenzen gesetzt: Die Welt ist in Hasslers Augen ein Schach-Platz, ein Sch(l)ach(t)-Feld sozusagen; und wer sich zum Mitspielen animieren lässt, gestaltet es mit. Eine Besprechung dieser witzigen Ausstellung im Muesum Tinguely in Basel (22.10.2008 bis 18.1.2009) gibt es hier.

Schenkung Aeppli im Museum Tinguely

Mit einem Schlag, mit der grossherzigen Schenkung von Christoph Aeppli, besitzt das Museum Tinguely sämtliche Bronzeköpfe von Eva Aeppli – Planeten, Sternzeichen, astrologische Aspekte und menschliche Schwächen als oft verstörende Charaktermasken. Zur Donation gehören auch zwei Gemälde der Künstlerin, eine kleine Nana von Niki de Saint Phalle, ein frühes Relief von Jean Tinguely sowie zahlreiche Zeichnungen, Briefe und andere Archivstücke. Das Museum übernimmt die geschenkten Kunstwerke mit einer Schau «Aeppli schenkt Aeppli» (bis uzum 1.2.2009). Mehr...


George Nelson – Architekt, Autor, Designer, Lehrer

War Le Corbusier der Philosoph des Designs, so war George Nelson (1908 bis 1986) sein Praktiker – in einem ebenso umfassenden Sinn. Neben Uhren und Geschirr entwarf er Möbel zum Wohnen und Büroarbeiten. Er gestaltete dabei nicht nur die Form nach der Funktion, sondern achtete besonders darauf, dass die Produkte kostengünstig industriell produziert werden konnten. Nelson, der nach seinem Architekturstudium dank einem Stipendium Europa bereisen und die europäischen Pioniere der Moderne (Le Corbusier, Mies van der Rohe, Walter Gropius und Gio Ponti) kennen lernen konnte, entwickelte in seiner Heimat als Publizist und Lehrer grossen Einfluss auf die Design-Szene. Seine Vorstellungen von moderner Urbanität, seine Erkenntnisse über Marken-Kultur (Corporate Design) und seine Forderung, dass sich gutes Design nicht in erster Linie in schönen Formen, sondern in der Lösung von Problemen bewähren müsse, sind bis heute gültig. Weil der langjährige Programmleiter des Möbelherstellers Herman Miller dieses Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, zeigt das Vitra Design Museum in Weil am Rhein (bis zum 1. März 2009) eine umfassende Retrospektive über Nelson als «Architekt, Autor, Designer, Lehrer». Mehr...

Fernand Léger: Brücke über den Ozean

Wie sehr Fernand Léger (1881 bis 1955) von Amerika fasziniert war, wie sehr er die amerikanischen Künstler – Roy Lichtenstein, Robert Rauschenberg, Elllsworth Kelly – als transozeanischer Brückenbauer beeinflusste, sodass es nicht übertrieben ist, den Franzosen als «Vater der Pop Art» zu bezeichnen, das alles zeigt, kuratiert von Philippe Büttner, vom 1. Juni bis zum 7. September die Fondation Beyeler in Riehen in der Retrospektive «Fernand Léger: Paris – New York».
Eine ausführliche Besprechung ist hier zu finden.

Im Massstab 1:1: Andrea Zittel und Monika Sosnowska im Schaulager

Die eine, Monika Sosnowska, lässt sich von der Unwirtlichkeit ihrem postkommunistischen Wohnort Warschau provozieren, den sie als Trümmerwüste erlebt und in überlebensgrossen Skulpturen aus Eisenschrott und Betonschutt aufhebt. Die andere, Andrea Zittel, macht ihre alltägliche Existenz als «Forscherin und Erfinderin» zum Rohstoff ihrer Kunst. Sie hat sich dafür in der Wüste etabliert und sucht nach idealen Formen der Behausheit, indem sie Wohn- und Arbeitsräume entwirft und ausprobiert, trachtenartige Kleider als Behausung des Körpers näht und ihre Gedanken malend auf grossen Sperrholzpaneelen fixiert.

Was verbindet die beiden Frauen? Nichts. Was haben sie künstlerisch gemeinsam? Gar nichts. Weshalb ist ihr Schaffen nun gleichzeitig zu sehen? Weil Theodora Vischer «ein Gefühl hatte, ihre Werke zusammen ausstellen zu wollen», wie sie freimütig zugibt. «Im Nachhinein kann man es dann natürlich begründen.» Dabei ist dann in gescheitem Blabla die Rede davon, dass «beide auf ihre je eigene Umgebung reagieren». Pipifax! Wer tut das nicht in irgendeiner Form? Gäbe es echte Berührungspunkte, wäre es in der langen Vorbereitungszeit sicher zu einem irgendwie gearteten künstlerischen Dialog gekommen. Warum nicht einfach einräumen: Hier sind zwei grundverschiedene, eigenständige künstlerische Persönlichkeiten mit ihrem Werk zu entdecken, gleichzeitig und im gleichen Gebäude. Im Massstab 1:1, wie es der Titel der Ausstellung deklariert. Mehr...

Kunstmaschinen und Maschinenkunst

Als Jean Tinguely 1959 seine ersten Zeichen-Maschinen bastelte – er nannte sie «Méta-Matics» – da tat er das, im Einklang mit seinen aufmüpfigen Freunden aus der Bewegung der Nouveaux Réalistes, um den Genie-Kult der gestischen Maler vom Schlage Jackson Pollocks ad absurdum zu führen. Das Museum Tinguely in Basel setzt damit (in seiner (gemeinsam mit der Schirn Kunsthalle konzipierten) Schau «Kunstmaschinen Maschinenkunst»vom 5. März bis zum 29. Juni 2008 einen ironischen Kontrapunkt zu der bis zum 12. Mai laufenden umfassenden Schau «Action Painting» in der Fondation Beyeler und ermöglicht gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der Frage, wo die wahre Kunst beginnt. Ist zum Beispiel jeder, der sich vom reichhaltigen Angebot auf Damien Hirsts Malmaschinen-Installation «Making Beautiful Drawings» bedient und eine Malkreide auf das rotierende Zeichenblatt hält oder es mit Farbe betropft, ein kleiner Pollock oder Picasso? Und wie steht es mit den Maschinen von Antoine Zgraggen, die unseren Zivilisationsmüll zertrümmern? Sind sie Kunst? Oder erzeugen sie welche? Die Kuratorin Katharina Dohm und der Kurator Franz Stahlhut wollen es ausdrücklich den Ausstellungsbesuchern überlassen, die Frage für sich zu beantworten. Mehr noch als die intellektuelle Herausforderung wird die Möglichkeit des Publikums, einmal aktiv Kunstbetrieb zu machen, der Ausstellung hoffentlich gewaltigen Zulauf verschaffen.

Hier steht die ausführliche Besprechung als PDF zur Verfügung.

Drei Perspektiven

Zugegeben: Eigentlich war nicht beabsichtigt, die Geschichte von Flucht und Vertreibung der europäischen Kultur- und Kunst-Prominenz aus dem Herrschaftsbereich der Nazis aus drei verschiedenen Perspektiven zu besprechen. Eigentlich wollte ich nur das Buch «Gehetzt» aus dem NZZ-Verlag vorstellen, das von Ruth Werfel konzipiert und, unterstützt von nicht weniger als 15 wohlmeinenden Sponsoren, herausgegeben wurde. Enttäuscht über das ärgerlich unbefriedigende Ergebnis dieses Vorhabens kam ich auf die Idee, zwei weitere Bücher einzubeziehen, die sich mit dem Exil befassen, und zu empfehlen, sich dem wichtigen und spannenden Stoff nicht nur mit Hilfe einer einzigen Publikation zu nähern. Denn wiewohl die Literatur zu dem Thema kaum zu überblicken ist, gibt es immer wieder Versuche, es neu zu behandeln: zum Beispiel in Ausstellungen, im Roman oder anhand von Selbstzeugnissen. Ruth Werfel nutzte für eine Ausstellung gesammelte Dokumente sowie Kontakte zu einschlägig engagierten Forschenden zur Herausgabe ihres Sammelbandes – dessen reisserischer Titel den Inhalt allerdings nur unvollkommen widerspiegelt. Da passt es gut, dass Michael Lentz mit seinem ebenso phantasievollen wie historisch genauen Roman hilft, ein beklemmendes Stück Vergangenheit im Kopfkino der Lesenden lebendig zu machen. Und schon 1998 zeigte Marcus G. Patka mit seiner nach wie vor gültigen Bilder-Biografie über Egon Erwin Kisch, wie gut es durch kluge Auswahl von Texten und Dokumenten gelingt, aus prominenten Namen Menschen aus Fleisch und Blut zu profilieren. Mehr in der Besprechung (als PDF).

Action Painting: Grosse Gesten des gelenkten Zufalls

Wie macht man eine Kunstrichtung (erneut/erstmals) populär, die das gesunde Volksempfinden im besten Fall für geschäftstüchtige Schmiererei und im schlimmsten für Affentheater hält? Ganz einfach: Man macht, wie derzeit die Fondation Beyeler in Riehen, eine grosse, die Definitionsgrenzen sprengende Ausstellung; man führt vor, dass der Begriff Action Painting zwar einige handwerkliche Phänomene der Nachkriegskunst genau beschreibt, andere – die zu diesem Malstil gehören – dagegen gar nicht; und man gibt dem Publikum durch die Auswahl einer grossen Zahl – im konkreten Fall über 100 – erstklassiger Kunstwerke Gelegenheit, sich selbst ein neues Bild von den wunderbaren Leistungen dieser «Kleckser» und «Schmierer»zu machen. Kurator Wulf Küster inszenierte seine umfassende, auf eine Neubewertung der Nachkriegskunst zielende Schau zwar rund um den begnadeten Selbstdarsteller Jackson Pollock, machte dabei aber deutlich, dass vor, neben und nach ihm eine grosse Zahl von Künstlerinnen und Künstlern, sowohl in Amerika als auch in Europa, für sich die gestische Malerei als Mittel entdeckten, um mit dem Horror des Jahrhunderts umzugehen – der in den Biografien vieler von ihnen tiefe Spuren hinterlassen hatte – und einen neuen Anfang zu wagen.
Die Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen dauert vom 27. Januar bis zum 12. Mai 2008
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung gibt es hier.

Hannah Höch

Es ist heute selten, dass sich beim Betrachten einer Kunstausstellung Überraschendes entdecken lässt. Die Shows der grossen Namen sind – nicht zuletzt wegen der horrenden Versicherungsprämien – sorgfältig auf den allgemeinen Publikumsgeschmack konzipierte Wanderunternehmen, die hie und da mit lokalen Leihgaben ein wenig aufgemotzt werden. Aber es gibt auch Ausnahmen. Zum Beispiel derzeit die Retrospektive für Hannah Höch im Museum Tinguely in Basel. Sie zeigt das Werk einer eigenständigen und eigenwilligen Persönlichkeit und straft alle Lügen, die in der Höch lediglich das Berliner Dada-Groupie zu kennen glaubten, dessen Ehrgeiz darin bestand, mit den Künstler-Kollegen zu wetteifern. Die überzeugende Korrektur der weit verbreiteten Vorurteile gelingt in erster Linie dank der Sorgfalt, mit der die «Berlinische Galerie», das Museum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur des Landes Berlin, den Nachlass der Künstlerin verwalten und erforschen. Das Museum Tinguely zeigt das Material der Berliner Kollegen, neu arrangiert und durch Leihgaben ergänzt, als spannende Entdeckungsreise durch das weithin unbekannte Universum der Hannah Höch. Mehr...