Museum Tinguely

Janet Cardiff und George Bures Miller im Museum Tinguely

Das kanadische Künstlerpaar Janet Cardiff (geb. 1957) und George Bures Miller (geb. 1960) arbeitet seit 30 Jahren gemeinsam an interaktiven Installationen, die Musik, Film und Theater mit einander verbinden. Das Werk von Jean Tinguely bezeichnen sie als eine ihrer wichtigsten Inspiratationsquellen. Logisch, dass das Museum Tinguely das Schaffen des Künstlerpaars (in Zusammenarbeit mit dem Lehmbruck Museum in Duisburg und kuratiert von Roland Wetzel) erstmals in der Schweiz in einer grossen Übersichtsausstellung präsentiert. Vom 7. Juni bis zum 24. September sind unter dem Titel «Dream Machines» ein gutes Dutzend ihrer raffinierten Erfindungen in Basel zu erleben.
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Ein Erlebnis bietet die Ausstellung, weil sie nicht nur alle Sinne anspricht, sondern weil das Publikum durch die Präsenstation in oft dunklen oder halbdunklen Räumen gezwungen wird, sich ganz auf die einzelnen Exponate zu konzentrieren.

In vielen Fällen erzählen die Installationen eine eigene Geschichte oder sie dokumentieren einen kreativen Prozess der Künstlerin und des Künstlers. Die Saaltexte, die jedes der Werke begleiten, geben ausführlich darüber Auskunft. So erfahren wir zum Beispiel, dass ein im Tageslicht platziertes Schubladenmöbel früher die längst obsoleten Katalogkarten einer Bibliothek enthielt. Was aber weiter für dieses «Cabinet of Curiousness» gilt, ist die Neugier, die es anstachelt. Das Publikum ist aufgefordert, ihr nachzugeben und einzelne Schubfächer zu öffnen: Sie enthalten Klänge, ganze Musikstücke oder gesprochene Texte, alles, wie Janet Cardiff beim Rundgang mit den Presseleuten berichtete, Trophäen eigener Tonjägerei. Wer mehrere Schubladen zieht, mischt die Tondokumente nach Art eines DJ.

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Um einiges elaborierter geschieht das Mitmach-Mixen mit dem «Melloton», einem in den 1960er-Jahren als technisches Meisterstück entwickelten analogen Sampler, der auf Tastendruck auf Magnetband gespeicherte Tonschnipsel abspielte. Die BBC verwendete solche Geräte, um jederzeit Jingles oder O-Töne zur Verfügung zu haben. Cardiff/Miller belegten die 72 Tasten des klavierähnlichen Manuals mit diversen Soundbytes, die sie mit farbigen Präge-Etiketten kenntlich machen. So ist es zum Beispiel möglich, einzelne oder mehrere Musikinstrumente zu spielen und Alltagsgeräusche dazu zu mischen.

Eine ganz andere, nämlich eine magische Dimension spricht das Werk «To Touch» von Janet Cardiff aus dem Jahr 1993 an: Im dunklen Raum steht ein massiver Holztisch, der das Publikum animiert, mit der Hand über die Oberfläche zu streichen. Wie durch Zauberei ertönen dabei Geräusche oder menschliche Stimmen. Und wenn mehrere Hände über die Tischplatte streichen, entsteht ein vielgestaltiger Tonteppich. Im Gegensatz zum Mellotron gibt es hier nichts zu steuern oder vorauszusehen: alles ist Zauberei.

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Der Parcours durch die Ausstellung entfaltet das ganze Spektrum der künstlerischen Interessen von Janet Cardiff und George Bures Miller. darunter sind hochkomplexe
Installationen wie «Opera for a small Room» von 2005. Wir sehen von aussen durch verschiedene Öffnungen in das Refugium eines Opern-Enthusiasten. Es ist vollgepackt mit Vinyl-Platten, Plattenspielern und Lautsprechern. Lichteffekte und Geräuschen begleiten das Abspielen von Opernmusik. Das Werk entstand nach dem Fund einer grossen Zahl von Schallplatten in einem Trödelgeschäft, die alle mit R. Dennehy, dem Namen des Besitzers, versehen waren. Anstatt diesen Royal Dennehy mithilfe eines Telefonbuchs ausfindig zu machen, verwendete das Künstlerpaar die Spuren auf der Plattensammlung und rekonstruierte daraus eine fantastische 12-Quadratmeter-Klause des Opern-Enthusiasten irgendwo in einem Kaff in British Columbia. Die Abfolge der Tonbeispiele erzählt, wie es im Saaltext heisst, «eine traumartige Handlung in verschiedenen Akten und macht Dennehys unsichtbare Präsenz im Raum spürbar».

Wie das Beispiel zeigt, lassen sich Janet Cardiff und George Bures Miller für viele ihrer Arbeiten durch eigene Erlebnisse oder die Öffentlichkeit beschäftigende Ereignisse anregen. Es ist ihre Kunst, dies so zu tun, dass Werke über den Tag hinaus ihre Gültigkeit behalten. Beispielhaft gilt dies für «The Killing Machine» von 2007, die, im Kontext des Folterskandals im irakischen US-Gefängnis von Abu-Ghraib entstanden und angelehnt an Franz Kafkas Erzählung «In der Strafkolonie», die Abgründe automatisierter Grausamkeit thematisiert. Auch die Auswirkungen der Pandemie finden im Werk von Cardiff/Miller ihren Niederschlag: 2021 konstruierten sie mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen «Escape Room» als (inzwischen wieder verlassene) Werkstatt voller unvollendeter Arbeiten. Unter den Szenerien gibt es eine Kathedrale und ein Hochhaus, eine Fabrik und ein Hafenviertel. Die Beleuchtungen sind eingeschaltet, die Pläne und Werkzeuge liegen daneben bereit. Wer sich zwischen den einzelnen Elementen bewegt, löst Licht und Toneffekte aus. Die Menschen, die hier gewöhnlich auf engem Raum zugange sind, haben offenbar Reissaus genommen. Über allem liegt der Geruch der Dystopie, der allerdings durch zahlreiche witzige Details gebrochen wird.

Witz und ironische Distanz gehören zum künstlerischen Instrumentarium des Künstlerpaars. Besonders gut gefallen hat uns in dieser Hinsicht das Werk «Experiment in F#Minor» von 2013. Dabei handelt es sich um einen – wiederum magischen – Tisch, auf dem nicht weniger als 72 Lautsprecher verschiedener Grösse und Form platziert
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sind. Bewegungsmelder an den Tischseiten lösen diverse Toneffekte aus, wenn sich jemand nähert. Je nach Position und Bewegungsgeschwindigkeit ergibt sich eine vielgestaltige Komposition in F-Moll. «Je mehr Menschen interagieren», heisst es in der Erläuterung zu dem Werk, «desto lauter und unübersichtlicher wird das Arrangement». Auch ein besonders elaboriertes und besonders kleinformatiges Kunst-Stück verdient es, speziell erwähnt zu werden. Es heisst «Sad Waltz And The Dancer Who Couldn’t Dance» von 2015 und ist eine Art Puppenstuben-Stück mit einer Klavier spielenden und einer tanzenden Marionette. Der Pianist intoniert den «Traurigen Walzer» des Komponisten Edward Mirosján und die Balletteuse, deren Fäden von einer über ihr hängenden komplexen Steuerung gezogen werden, bemüht sich Schritt zu halten. Dummerweise verheddern sich ihre Fäden und sie wird von der Apparatur in die Höhe gezogen. Hilflos rudert sie sich frei und nach einigen Momenten der Ungewissheit, steht sie wieder auf dem Boden und führt die Choreografie zu Ende.

Nicht im Museum Tinguely, sondern in der Druckereihalle im Ackermannshof an der St. Johanns-Vorstadt 19/21, ist ab 1. Juli die Installation «The Forty Part Motet» von Janet Cardiff zu sehen und zu hören. Das Publikum hört die vierzigstimmige Motette «Spem in Alium» (Hoffnung auf einen Anderen), des englischen Barock-Komponisten Thomas Tallis aus dem Jahr 1570. Ursprünglich für acht Chöre zu je fünf Stimmen a cappella komponiert, nahm Cardiff jede der 40 Stimmen einzeln auf und lässt das Stück aus 40 Lautsprechern erklingen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer können sich frei im Raum bewegen und sich neben den Lautsprechern auf eine Stimme konzentrieren oder das Chorwerk als Ganzes mitten im Raum geniessen.

Illustrationen: Janet Cardiff und George Bures Miller: «The Cabinet of Curiousness» (2010). ©2023 coutesy the artists, Foto: Museum Tinguely/Matthias Willi (Ausschnitt); janet Cardiff und George Bures Miller: «The Instrument of Troubled Dreams» (2018) © courtesy the artists, Foto Lehmbruck Museum, Duisburg/Thomas Köster. janet Cardiff und George Bures Miller: «Opera for a Small Room» (2005) © courtesy the artists, Luhring Augustine, New York, Gallery Koyanagi, Tokyo, and Fraenkel Gallery, San Francisco, photo: Seber Ugarte, Lorena López. Janet Cardiff und George Bures Miller: «Experiment in F# Minor» (2013), ©2023 Foto aus der Ausstellung (©2023, Jürg Bürgi, Basel).

«Party for Öyvind» im Museum Tinguely

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Zu einer «Party for Övyind» lädt das Museum Tinguely vom 16. Februar bis 1. Mai 2022 ein. Der Titel ist etwas irreführend, da Öyvind Fahlström, der Protagonist, sich auf der Sause nicht nur feiern lässt, sondern sich daran auch überaus aktiv beteiligt. Das gilt im übertragenen Sinn für die Ausstellung wie auch ganz konkret für die Party, die Claes und Patty Oldenbourg am 4. Februar 1967 in ihrem riesigen New Yorker Atelier-Loft zum Geburtstag Öyvinds und zur Feier seiner ersten Einzelausstellung ausrichteten. Nach der Überlieferung sollen rund 500 Personen an dem Fest teilgenommen haben. Der Zustrom war kein Zufall: Öyvind Fahlström, 1928 in São Paulo als Sohn eines Norwegers und einer Schwedin geboren und 1978 in Stockholm an Krebs gestorben, war seit den frühen 1950er-Jahren, als er in Stockholm Kunstgeschichte und Archäologie studierte, ein ungemein begnadeter Netzwerker. Er selbst bezeichnete sich Zeit seines kurzen Lebens als Poet. Aber sowohl seine eigenen Aktivitäten wie auch seine Kontakte im Künstlermilieu kannten keine Grenzen. Er interessierte sich für alle Arten kreativer Betätigung und war überall aktiv dabei. Er schrieb – Gedichte, Essays in zahlreichen Zeitschriften der Avantgarde, Theaterstücke – , er malte, zeichnete und collagierte, er filmte, organisierte Ausstellungen, inszenierte Performance- und Tanz-Darbietungen und knüpfte Freundschaften mit allen Kulturschaffenden, denen er begegnete. Die von der schwedischen TV-Kulturjournalistin Barbro Schultz Lundestam und ihrem Ehemann Gunnar Lundestam kuratierte Schau, die zuerst – in bescheidenerem Umfang – in Stockholm zu sehen war und nach ihrer Station in Basel im Kunstverein in Hamburg gezeigt wird, vermittelt einen enzyklopädischen Querschnitt durch die Avantgarde-Kunst der Jahre 1950 bis 1980. Sie reflektiert einen künstlerischen Zeitgeist, der es sich zur Aufgabe machte, den gesellschaftlichen Umbruch der Nachkriegszeit in allen Facetten sichtbar zu machen. Anders als heute, wo jede Art von Grenzüberschreitung mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen wird und alles erlaubt scheint, spürten die Künstler in den Nachkriegsjahren den Widerstand des tonangebenden konservativen Kulturmilieus. Das verstärkte den Zusammenhalt der jungen Generation, die oft genug am Existenzminimum lebte. Gleichzeitig herrschte ein kreatives Treibhausklima, das spartenübergreifende Kooperationen förderte. Öyvid Fahlström verkörperte dieses Zeitgefühl in beispielhafter Weise: er interessierte sich für alles, und er war auf der ganzen Welt zu Hause.

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Die Ausstellung folgt dem Leben und dem Werdegang von Övyind Fahlström. Er war etwas mehr als 10 Jahre alt, als ihn sein schwedischer Grossvater 1939 in Brasilien zu einem Besuch in der Heimat seiner ausgewanderten Eltern abholte. Als vor der geplanten Heimkehr der Zweite Weltkrieg ausbrach, blieb das Kind bei der Familie seiner Tante in Schweden. Dort ging er zur Schule, machte als einer der Besten seines Jahrgangs das Abitur. Erst 1947 sah er seine Eltern wieder. Um dem Dienst in der brasilianischen Armee zu entgehen, entschloss er sich, in Schweden zu bleiben und dort zu studieren.

Die ersten Ausstellungsobjekte zeigen Öyvind Fahlström als jungen Dichter, der seine Verse, die er 1954 mit dem ersten Manifest der konkreten Poesie fundierte, in den angesagten Magazinen. Übrigens: Der in Bolivien geborene Schweizer Dichter Eugen Gomringer (*1925), der bei uns als Begründer der konkreten Poesie gilt, publizierte sein eigenes Manifest «vom vers zur konstellation» erst einige Monate nach Oyvind Fahlström – und ganz unabhängig von ihm. Die beiden sind sich anscheinend nie begegnet.

Die zweite Etappe in seinem Künstler-Leben führte Fahlström nach Italien, zuerst, 1950, auf dem Trampelpfad der Archäologen in Rom, Neapel, Sizilien und Sardinien. Zwei Jahre später kehrte er zurück und schrieb von Rom aus als Journalist für Tageszeitungen und Kunstmagazine über alle möglichen Erscheinungen des Kulturbetriebs. Seine Tätigkeit machte Kontakte zu Künstlern und Kulturschaffenden aller Art möglich. Besonders beeindruckte ihn der Maler und Grafiker Giuseppe Capogrossi (1900-1972), von dem er sich zu eigenen Bildern inspirieren liess. Zu seinen Freunden zählte auch der chilenische Architekt, surrealistische Maler und Bildhauer Roberto Matta (1911-2002), dessen Werke 1959 in der ersten Ausstellung des neu gegründeten Moderna Museet in Stockholm gezeigt wurden. Im schwedischen Maler Olle Ängkvist (1922-2006) entdeckte Fahlström einen Gleichgesinnten: neugierig, furchtlos und offen für die weite Welt. Diese weite Welt verkörperten in den 1950er-Jahren in Rom die Amerikaner, vor allem Robert Rauschenberg (1925-2008), der sich im legendären Black Mountain College in den Bergen North Carolinas in seinen Mitstudenten Cy Twombly (1928-2011) verliebt hatte und ihn überredete, mit ihm nach Rom zu ziehen. Fahlström war 1954 von den Arbeiten seines Jahrgängers Twombly, die er in einer Tour durch die Galerien sah, zuerst wenig beeindruckt. Immerhin kehrte er zurück, traf den bisher erfolglosen Maler persönlich und schrieb im schwedischen Magazin «Konstrevy» die erste positive Besprechung.

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Zurück in Stockholm, sass der inzwischen mit der Kunsthistorikerin Birgitta Tamm verheiratete und als Publizist einschlägig bekannte Fahlström im avantgardistischen Kunstbetrieb an einem Dreh- und Angelpunkt. Er etablierte einen «Französischen Salon» und machte ihn zum Mittelpunkt von Stockholms Kulturleben. Im Umfeld des 1959 gegründeten und von Pontus Hultén dirigierten Moderna Museet, gehörte er zu den ersten enthusiastischen Animatoren spartenübergreifender Projekte. Im gleichen Jahr geriet er durch die Bekanntschaft mit der Malerin Barbro Östlihn (1930-1995) und ihrem Mann BjörnHallström (1931-2001) in schwere emotionale Turbulenzen, die nach einem Jahr «komplizierter und qualvoller Spannungen» (Katalogtext), nur unterbrochen durch einen längeren Aufenthalt in Paris, dadurch gelöst wurden, dass Barbro Öyvind heiratete und Björn Birgitta. Barbros Kinder blieben bei ihrem Vater. Wenig später, 1961, zogen Fahlström und Östlihn nach New York um.

Der grösste Raum der Ausstellung ist den rund 15 Jahren gewidmet, in denen die künstlerische Vorhut in New York den Ton angab – im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinn. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Elektroingenieur Billy Klüver (1927-2004), «der Edison-Tesla-Steinmetz-Marconi-Leonardo da Vinci der amerikanischen Avantgarde», wie ihn die Illustrierte LIFE einmal nannte. Klüver, in Monaco als Kind norwegisch-schwedischer Eltern geboren und in Schweden aufgewachsen, stellte seine technischen Kenntnisse in den Dienst vieler Künstler, unter anderem von Jean Tinguely, dem er 1960, zusammen mit Robert Rauschenberg half, im Garten des MoMA seine selbstzerstörerische Skulptur «Homage à New York» zu bauen. Unentbehrlich war Klüver auch 1966 bei der Organisation von «9 Evenings: Theatre and Engineering», einer Reihe von Performances, die Künstler und Ingenieure gemeinsam entwickelten. Beteiligt waren zehn Künstlerinnen und Künstler – John Cage
, Lucinda Childs, Öyvind Fahlström, Alex Hay, Deborah Hay, Steve Paxton, Yvonne Rainer, Robert Rauschenberg, David Tudor und Robert Whitman - und etwa 30 Ingenieurinnen und Ingenieure. Die «9 Evenings» waren auch die Geburtsstunde der Organisation E.A.T. (Experiments in Art andTechnology), die Künstlerinnen und Künstler mit dem neusten technischen Knowhow unterstützte.

Barbro Schultz Lundestam besuchte Billy Klüver und seine Frau Julie Martin 1993 und erhielt Zugang zum Archiv des E.A.T.-Projekts, das mit seinen 16mm-Filmen, Fotos und Dokumenten eine unschätzbar wertvolle Quelle der Avantgarde darstellte. Auf Initiative von Robert Rauschenberg gestaltete Barbro Schultz aus dem Material zehn Dokumentarfilme und publizierte 2004 das Buch «Teknologi för livet. Om E.A.T.»

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Mit Jean Tinguely und Niki de Saint-Phalle kam Öyvind Fahlström unter anderem bei der Theater-Performance «Construction of Boston» am 4. Mai 1961 im Maidman Playhouse in New York zusammen. Die nur einmal gezeigte Inszenierung mit vielen Improvisationen und Musik, das sich Kenneth Koch ausgedacht hatte, versammelte 14 «Schauspielerinnen und Schauspieler», darunter Öyvid Fahlström, Billy Klüver, Robert Rauschenberg, Frank Stella, Jean Tinguely und Niki de Saint-Phalle, und im völlig überfüllten Saal war das Publikum ausser Rand und Band. Der Anstoss für das Happening kam von Niki de Saint-Phalle, die Kenneth Koch zum Verfassen eines Skripts anstachelte, das sich allerdings unter dem Einfluss der beteiligten Künstlerinnen und Künstler dauernd veränderte. Schliesslich baute Jean Tinguely, als elegante Dame verkleidet, aus Leichtbeton-Elementen eine Mauer, die quer über die Bühne lief und dem Publikum nach und nach die Sicht auf das dramatische Geschehen versperrte. Wie ein Foto belegt, beteiligten sich Öyvind Fahlström und Joan Kron am Mauerbau, der nun im Museum zu besichtigen ist.

Buchtitel
Die Ausstellung «Party for Öyvind» und das Katalogbuch dazu zeugen von der Leidenschaft und der Kompetenz, mit der sich die Autorin und ihr Ehemann mit allen Aspekten der Umbruch-Epoche der 1960er- und 1970er-Jahre befassten und befassen). Die über 400 Objekte – Bilder, Filme, Skulpturen, Dokumente – von 40 Künstlerinnen und 40 Künstlern, die sie jetzt Kuratoren präsentieren, sind ein überwältigender Beleg für die Kraft, die damals eine international eng vernetzte, ihrer gesellschaftlichen Rolle bewusste Kunst-Bewegung entfaltete. Und es ist ein grosses Glück für alle Interessierten, dass die Fülle des Materials auch nach der Ausstellung zwischen Buchdeckeln greifbar bleibt. Der Katalog bietet eine mit zahlreichen Anekdoten und Erinnerungen gespickte spannende Lektüre und ist mit seinem zehnseitigen Namenregister ein unverzichtbares Nachschlagewerk. Die zum Teil typografisch abenteuerliche Gestaltung mindert nicht den inhaltlichen Wert der Publikation.

Barbro Schultz Lundestam: Party for Öyvind. Stockholm 2021 (Schultz Förlag AB), 438 Seiten, ca. 480SKr/CHF 50.00 (nur in englischer Sprache erhältlich).

Illustrationen von oben nach unten: Einladungskarte von Claes Oldenbourg zur Party für Öyvind Fahlström; Öyvind Fahlström, Section of World Map - A Puzzle, 1973, Private Collection; Öyvind Fahlström, The Cold War, 1963-1965, Centre Pompidou, Paris - Musée national d'art moderne / Centre de création industrielle. © ProLitteris, Zürich; Joan Kron, Öyvind Fahlström und Jean Tinguely bei «Construction of Boston», 1962, Privatsammlung; Katalogbuch «Party for Öyvind» (Umschlag).

Merci Seppi: Die grosse Schenkung im Museum Tinguely

Seppi Imhof, Plakate
Josef («Seppi») Imhof, Jean Tinguelys kongenialer Handwerker-Assistent während 20 Jahren, hat ein grosses Geschenk gemacht. Rund 450 Dokumente – Briefe, Postkarten, Baupläne, Skizzen, Plakate und Drucke – aus den Jahren 1971 bis 1991 aus seiner mit grosser Sorgfalt gepflegten Sammlung gehen in den Besitz des Museums Tinguly über. Sie ergänzen dessen Archiv in «substanzieller Weise» auf nunmehr über 2000 Nummern, freute sich Museumsdirektor Roland Wetzel bei der Präsentation der von Andres Pardey arrangierten Ausstellung, welche die «grosse Schenkung» unter dem Titel «Merci Seppi» vom 17. November 2021 bis zum 13. März der Öffentlichkeit zugänglich macht. Da Jean Tinguely praktisch keine Aufzeichnungen über seine Arbeiten machte, aber unermüdlich zeichnete, skizzierte und per Brief oder Postkarten mit Freunden,Bekannten und Mitarbeitenden kommunizierte, sind Imhofs Dokumente für die gesamte Tinguely-Forschung von unschätzbarem Wert. Wer sich die Zeit nimmt, die in Vitrinen und Rahmen dicht an dicht inszenierten Exponate en détail zu betrachten, darf sich auf zahlreiche Déjà-vus freuen und auch viel Neues entdecken. Von den zahlreichen grossen Projekten der 1970er- und 1980er-Jahre, an denen Seppi Imhof mitarbeitete, sind die wichtigsten – «Le Cyclop» im Forêt de Milly in Fotainebleau, die Gemeinschaftsarbeit «Crocodrome de Zig et Puce», Nike de Saint-Phalles «Giardino dei Tarocchi» in der Toscana, «Chaos No. 1» in Columbus, Indiana, oder
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die fahrbare «Klamauk»-Skulptur – in der Ausstellung prominent präsent. Die meisten Dokumente sind ohne weiteres Erläuterungen verständlich, wobei es sicher von Vorteil ist, wenn man Tinguelys Werk und seine Höhepunkte ein wenig kennt. In der Schweiz wurde Jean Tinguely (1925-1991) erst 1964 einem breiten Publikum bekannt, als an der Landesausstellung in Lausanne seine riesige Leerlauf-Maschine «Heureka» landesweit für Aufsehen sorgte. Das heisst: Als Tinguely 1970 ein Inserat aufgab, mit dem er einen Assistenten suchte, war er bereits ein arrivierter Künstler. Nach einem Treffen im Bahnhofbuffet Fribourg wurden sich der Künstler und der Bewerber, ein 27-jähriger gelernter Schlosser aus Solothurn, einig. Doch wenig später, am 27. Juli 1970, disponierte Tinguely um. «Lieber Herr Imhof», ist in dem Schreiben nachzulesen, «Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass das ganze Projekt auf nächstes Jahr verschoben ist (aufgehoben ist es nicht.) & ich bitte Sie nun mir auf nächstes Jahr ihre Bereitschaft mitzumachen aufzubewahren.» Imhof hatte Geduld und erhielt am 20. März 1971 einen Anstellungsbrief, in dem ihm bestätigt wurde, dass er «ab Erste Mai 1971 (von mir bezahlt) bei mir arbeiten werden. Lohn 1200.- S.Fr. Logie & Speise & Reise Spesen zu meinen Lasten. Kündigungsfrist 2 Wochen.» Wie wir wissen, wurden zwanzig Jahre daraus. In den ersten Jahren stand die vom Frühsommer bis in den Herbst die Arbeit am monumentalen Gemeinschaftswerk «Cyclop» im Vordergrund. Was dazu führte, dass Tinguely während der kühleren Jahreszeiten, zusammen mit seinem Assistenten, die Welt mit einem veritablen Ausstellungs-Wanderzirkus bereiste. Da die fragilen Maschinen bei Dauerbetrieb regelmässig instand gestellt werden mussten, blieben die beiden Männer jeweils während der ganzen Dauer der Ausstellungen vor Ort. Während der langen Zeit, beteuert Seppi Imhof, habe es nie Krach gegeben. Die beiden ungleichen Persönlichkeiten – der von immer neuen Ideen getriebene hektisch aktive Künstler Tinguely und der bedächtige Handwerker Imhof – wurden Freunde, ohne dass sie ihre Rollen je in Frage stellten. Tinguely war der Chef, der sich jederzeit darauf verlassen konnte, dass sein Assistent die Vorgaben exakt umsetzte. Wenn er sich einen Lichterbogen mit 15 Glühbirnen vorstellte, mussten dort auch 15 Birnen leuchten und nicht 14, wie sich Seppi Imhof bei der Präsentation seiner Sammlung vor einer Konstruktionsskizze erinnerte.
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Er kramt gern in seinen Erinnerungen und erzählt lebendig von seinen Erlebnissen. Auch wenn er sich gegen die aufdringliche Fotografiererei mit einem mürrischen Gesichtsausdruck zu wehren versucht, glaubt man ihm, dass die lange und oft anstrengende Zusammenarbeit mit Jean Tinguely immer auch Spass gemacht hat. Und es ist sicher auch eine Genugtuung für ihn, dass seine Beiträge an den Erfolg des Künstlerfreundes auch nach dessen Tod angemessen gewürdigt wurden. Das Museum Tinguely, wo er bis zu seiner Pensionierung 2008 als Restaurator tätig war, ehrte ihn erstmals 1999 mit der Ausstellung «Sali Sepi - di Jeannot: Briefzeichnungen von Jean Tinguely an Joseph Imhof». Zu seiner Pensionierung 2008 erhielt er unter dem Titel «Tschau Sepp» carte blanche und zeigte eine Fülle von Memorabilien aus der Zeit mit Jean Tinguely. Und jetzt, zum dritten Auftritt «Merci Seppi», ist die Dankbarkeit das Thema. Vielleicht findet das Museum einen Weg, den riesigen Fundus an ungegenständlichen Erinnerungen, die Sepp Imhof in seinem Gedächtnis bewahrt hat, festzuhalten. Sie sind von ebenso unschätzbarem Wert wie die Dokumente – zumal fast alle von Tinguelys Künstlerfreundinnen und -freunden, welche die Kunstwelt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten, nicht mehr am Leben sind. Fazit: Nicht nur für das Museumsarchiv, sondern auch für alle, die Jean Tinguelys Werk kennen und schätzen und für alle übrigen, die es erst richtig kennenlernen möchten, ist die wunderbare Ausstellung von Sepp Imhofs Erinnerungsstücken ein grosses Geschenk.

Illustrationen: Donator Seppi Imhof präsentiert seine Ausstellung (© Jürg Bürgi, Basel, 2021); Jean Tinguely. Klamauk – Erinnerungen 1979 (Museum Tinguely, Basel. Schenkung Josef Imhof; ©2021 Pro Litteris, Zürich; Museum Tinguely Basel. Jean Tinguely: Charlotte OK, 1990. (museum Tinguely, Basel, Schenkung Josef Imhof.©2021 Pro Litteris, Zürich; Museum Tinguely Basel.

Katja Aufleger im Museum Tinguely

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Es ist die erste Einzelausstellung in der Schweiz, welche das Museum Tinguely in Basel der in Berlin lebenden Künstlerin Katja Aufleger (geb. 1983 in Oldenburg) vom 1. Dezember 2020 bis 14. März 2021 ausrichtet. Kuratiert von Lisa Marleen Grenzebach, hat die Schau unter dem Titel «GONE» ihren Mittelpunkt im Vorraum zu Tinguelys beklemmendem Alterswerk «Mengele-Totentanz». Hier fällt zuerst die Videoarbeit «The Glow» von 2019 ins Auge: Auf einer grossen Leinwand tanzen Fische durchs Wasser, dazu hört man ab und zu ein Klackern, das scheinbar das Fischballett begleitet. Nach einiger Zeit ist allerdings klar, dass die akustische Begleitung nur sporadisch ist, und
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dass es sich bei dem Meeresgetier um kunstvoll gestaltete, mit Angelhaken behängte Köder handelt. Der Film, erläutert der Saaltext, ist eine Montage aus Youtube-Sequenzen, die als Lehrmaterial für Angler gedacht sind. Entsetzen oder mindestens deutliches Unbehagen auslösende Scherze wie die Sache mit dem eleganten, mit tödlichen Haken bewehrte Köderballett sind in Katja Auflegers Œuvre keine Ausnahme. Objekte kommen ganz und gar harmlos daher und entpuppen sich alsbald als gefährliche Gegenstände. Auf Augenhöhe begegnen uns merkwürdig in einander verschlungene farbige Glasgefässe; «Bang!» ist der Titel, der signalisiert, dass wir die hübsch-farbigen, 2013-2016 entstandenen Behältnisse mit den scharfkantigen Hälsen und dem mutmasslich explosiven Inhalt lieber nicht auf unserem Sideboard aufstellen möchten. Es gehört offensichtlich zum Reiz dieses Spiels, dass wir nicht wissen, was wirklich in den Glaskörpern ist. (Unwillkürlich kommt uns Piero Manzonis «Merda d’artista» von 1961 in den Sinn…) Die Sache wiederholt sich im Erdgeschoss, wo «Newton’s Craddle» (2013/2020) angeblich die Bestandteile von Nitroglycerin – Glycerin, Salpetersäure, Schwefelsäure –
Newtonpendel
enthalten. Mit der «Newton-Wiege» oder «Kugelstoss-Pendel» genannten Vorrichtung demonstrierte der französische Physiker Edme Mariotte 1673, dass im elastischen Stoss die kinetische Energie und der Impuls erhalten bleiben. Nun sollen wir uns vorstellen, was geschieht, wenn jemand das explosive Pendel mit den drei 10-Liter-Kolben gleich neben Tinguelys begehbarer «Méta-Maxi-Maxi-Utopia» in Bewegung setzt. Vielleicht ist die Annahme nicht ganz falsch, dass nicht mehr als ein Scherbenhaufen zu befürchten wäre. Aber wer möchte sich darauf verlassen? Das Descarte’sche Zweifeln («dubito ergo sum»), die Ungewissheit der Wahrnehmung ist für die Kunst konstitutiv. Katja Aufleger beherrscht auch subtilere Methoden, Angstlust zu vermitteln: Zwischen den verstörenden Glasgefässen mit dem mutmasslich gefährlichen Inhalt und der Fischköder-Projektion platzierte die Künstlerin einen farbfröhlichen Hexenring aus einer Sammlung etikettenloser Putzmittel-Plasticflaschen. «Die eigentliche Funktion der Flüssigkeiten ist das Entfernen von Schmutz oder im übertragenen Sinne: von Spuren der Vergangenheit», erläutert Kuratorin Lisa Marleen Grenzebach in ihrem aufschlussreichen
«Hexenring»
Katalogbeitrag. Unser Fazit: Katja Aufleger aktualisiert mit ihrem intellektuell aufgeladenen Schaffen die Konzeptkunst, die in der Mitte des letzten Jahrhunderts Ideen und Wahrnehmungen auf neue Art – mit Schrottmaschinen (Tinguely) ebenso wie mit weiss getünchten Galeriewänden (Yves Klein) oder theatralischen Performances – erfahrbar machte, und hebt sie auf eine neue Stufe.

Zur Ausstellung erschien ein raffiniert schlicht gestalteter Katalog, der das bisherige Schaffen von Katja Aufleger über die ausgestellten Werke hinaus umfassend dokumentiert. Die Publikation enthält Beiträge von Roland Wetzel, Lisa Marleen Grenzebach und Quinn Latimer.
Lisa Marleen Grenzebach (Hrsg. für das Museum Tinguely): Katja Aufleger, GONE. Basel/Berlin 2020 (Museum Tinguely/Distanz Verlag). 100 Seiten, CHF 28.00.
Als besonders nützlich erweist sich das Saalblatt, weil es die ausgestellten Objekte nicht nur erläutert, sondern auch beschreibt, wo sie im Museum zu finden sind.

Illustrationen: Porträt (© Andrzej Steinbach); «The Glow» (Filmstill, © Courtesy of the artist, Galerien Stampa, Basel, und Conradi, Hamburg). Bilder aus der Ausstellung: «Newton’s Cradle» und «And he tipped gallons oaf black in my favorite blue» (© Jürg Bürgi, 2020).

Taro Izumi im Museum Tinguely

Dem 1976 geborenen Konzeptkünstler Taro Izumi aus Japan widmet das Museum Tinguely – wegen der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen im Kulturbetrieb mit ungeplanter Verspätung – vom 2. September bis zum 15. November 2020 die erste One-Man-Show in der Schweiz. Izumi gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Künstlern seines Landes. Typisch für ihn hat er das Ausstellungsprojekt in Basel zu einem guten Teil vor Ort und unter Einbezug der krisenhaften Aktualität konzipiert: Den Hauptraum beherrscht eine bis zur Decke reichende, einer Banksafe-Anlage oder einem Archiv ähnliche Konstruktion. Einige der rund 1500 Öffnungen sind geschlossen und mit einem kleinen Messingschild versehen. Darauf ist die Sitzreihe und die Nummer eines Theaterplatzes eingraviert. Hinter den offenen, bislang nicht vergebenen Fächern ist eine kleine Bühne zu erkennen und dahinter ein grosser leerer Zuschauerraum. Der Künstler erklärt, sein Werk sei eine Hommage an die Theater der Welt, in denen seit Monaten nicht gespielt werden darf und in deren Zuschauerräumen eine bleierne Stille herrscht. Er liess deshalb rund 3000 Bühnen anschreiben, sie sollten ihm Tonaufnahmen
Clip aus Presse-Stream 31.8.2020
dieser Stille im Zuschauerraum schicken. Um die 400 Theater gingen auf die Idee ein und stellten die gewünschten Tonkonserven zur Verfügung. Daraus mischte Izumis Team einen Klangteppich, der mit seinem aufdringlichen Rauschen die Halle füllt. (Weder Taro Izumi noch die Kuratorin haben wohl je von Heinrich Bölls satirischer Erzählung «Dr. Murkes gesammeltes Schweigen» gehört. Sie berichtet davon, wie Mitte der fünfziger Jahre, in der analogen Welt des Rundfunks, die Aufnahme eines Vortrags auf Veranlassung des Autors tiefgreifend neu geschnitten werden muss. Auf den am Schluss der Geschichte übrig bleibenden Tonbandresten ist nichts als rauschendes Schweigen zu hören.)

Auch weniger spektakuläre Arbeiten Taro Izumis nehmen die Wahrnehmung in den Fokus. Das geschieht zum Beispiel mit der Ausstellungs-Affiche mit dem Namen des Künstlers und dem Ausstellungstitel «Ex». Die riesigen Lettern wurden mit Bleistift auf die Wand gemalt und anschliessend teilweise wegradiert, sodass nun einige von ihnen mehr erahnt als gelesen werden können. Der schwarze Gummiabrieb wurde zusammengekehrt und zum Teil auch auf dem Boden verteilt – als Leitlinie durch die Ausstellung.

Anderswo setzt der Künstler Videotechnik ein. Und führt sie witzig ad absurdum: Auf einem geteilten Bildschirm ist zu sehen, wie jemand mit einem Finger in einen dicken Pfannkuchen drückt und dabei seine Weichheit erkundet. Gleich daneben wird in gleicher Absicht das Gesicht eines Säuglings bearbeitet – allerdings nicht direkt, sondern indirekt auf dem nachgiebigen Bildschirm eines Laptop-Computers, der die Druckstellen auf dem Gesicht des Babies simuliert.

Wie in diesem Fall ist es ratsam, genau hinzuschauen. Nur so wird die Fülle von Assoziationen und Signalen lesbar, die Taro Izumi bewegen. Besonders stolz ist das Museum, dass es die Werkgruppe «Tickled in a dream … maybe?» zeigen kann. Die erstmals 2017 in Paris präsentierte Gruppe von Skulpturen gibt vor, dass sportliche Aktionen – spektakuläre Fallrückzieher im Fussball zum Beispiel oder sensationelle Dunkings im Basketball – nicht nur grossartigen Ausnahmekönnern vorbehalten sind. Izumis prothesenartige
Tickled in a dream … maybe?
Konstruktionen aus Metall und Holz sollen es auch Otto und Lisa Normalverbraucher ermöglichen, die spektakulären Szenen nachzuempfinden. Das Konzept erinnert an einige hirnrissige Ideen Jean Tinguelys und seiner Freunde in der Gruppe der Nouveaux Réalistes, die in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Echoraum des Dadaismus die Erwartungen des kunstbeflissenen Publikums ad absurdum führten.

Es ist nicht der einzige Moment beim Rundgang durch die Izumi-Schau, wo sich ein Déjà-vu einstellt. Nur: Gilt das nicht auch für zahlreiche andere Kunst-Stücke anderer Künstler – in einer Zeit, in der es keine Tabus mehr gibt, wo alles möglich ist und, dank unbegrenzter technischer Möglichkeiten, alles Mögliche auch gemacht wird?

Insofern gehört Taro Izumi, der seine Ideen, wie heute nicht ungewöhnlich, von einem Mitarbeiterstab umsetzen lässt, in unsere Zeit. «Sein künstlerisches Vorgehen», schreibt Museumsdirektor Roland Wetzel wortreich im Vorwort zum Katalog, «orientiert sich an der Umgebung, in der er sich befindet, am jeweiligen Ort, an dem er sich physisch oder auch virtuell aufhält. Es umfasst als Material ein Spektrum von gefundenen Alltagsobjekten, beobachteten Handlungen bis hin zu medienkritischen Reflexionen und breitet sie in allen denkbaren künstlerischen Disziplinen aus. Izumis Wunderkammer ist die disparate Lebensrealität, die uns heute umgibt. Er überführt sie in neue Sinnbezüge und Zusammenhänge des scheinbaren Unsinns. Mit seinen ‹Bricolages› – dem genuin spielerischen Moment, das all seine Arbeiten auszeichnet – und seiner Offenheit für das Akzidentielle und Minderwertige erinnert an Tinguelys Kunstpraxis.»

Nicht nur dieser Abschnitt, auch andere Texte im Katalog zeugen vom weitgehend vergeblichen Bemühen, diese Art von Kunstschaffen fassbar zu machen. Man hat beim Lesen den Eindruck, da grabe jemand in einer grossen, mit statisch geladenem Styropor-Kügelchen gefüllten Pappschachtel nach dem eigentlichen Inhalt…

Zur Ausstellung gibt es einen Katalog:
Séverine Fromaigeat (Hrsg. für das Museum Tinguely): Taro Izumi. Ex
Berlin 2020 (Hatje Cantz Verlag) 168 Seiten, CHF 48.00/€ 40.00

Illustrationen: Still aus
Video-Stream der Medienpräsentation am 31.8.2020 (oben), «Tickled in a dream … maybe?» (2017, Ausschnitt) © Jürg Bürgi, Basel

Pedro Reyes im Museum Tinguely: Return to Sender

Porträt Pedro Reyes (Lisson Gallery)
Gleich rechts neben dem Eingang hängt zum Auftakt der von Roland Wetzel kuratierten Ausstellung «Return to Sender» eine unscheinbare Schaufel. Ihre Bedeutung erschliesst sich erst, wenn man die Exponate im Vorraum zum «Mengele Totentanz» im Museum Tinguely gesehen und auch gehört hat. Als bisher fünfter zeitgenössischer Kunstschaffender nimmt der Mexikaner Pedro Reyes, geb. 1972, vom 24. Juni bis zum 15. November 2020 mit zwei Werkgruppen den Dialog mit Jean Tinguelys ikonischem Alterswerk auf. Der marxistische Pazifist, der auch gegenüber gewaltbereiten Befreiungsbewegungen Vorbehalte äussert, beschäftigt sich seit Jahren mit den Möglichkeiten, Waffen zu friedlichen Zwecken umzunutzen. Seine mehrteilige Arbeit «Disarm (Mechanized) II» von 2014, die in der aktuellen Ausstellung den grössten Teil des Raums einnimmt, besteht aus einem sechsteiligen Automaten-Orchester, das aus einem ganzen
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Arsenal von Feuerwaffen und ihren Einzelteilen besteht. Da gibt es ein Xylophon aus Gewehrläufen, eine «Kalashniclock» und weitere Schlag-Zeuge, die kraftvoll und witzig das Ende der Waffengewalt herbeitrommeln. (Spontan denken wir an Rolf Liebermanns Büromaschinen-Symphonie «Les Echanges», die 1964 an der Landesausstellung in Lausanne grosses Aufsehen erregte.) Weil Reyes seiner Überzeugung Ausdruck geben möchte, dass seine Installationen nicht allein am Elend der mexikanischen Drogen-Kriege festgemacht werden dürfen, sondern ein globales Problem aufgreifen, baute er im Auftrag des Tinguely-Museums drei Abrüstungs-Leierkästen. Die goldglänzenden Messinggehäuse der Drehorgeln erinnern an altmodische Registrierkassen. Statt der Geldschubladen ragen den Betrachtenden allerdings Schiesseisen entgegen. Die erste dieser «Disarm Music Boxes» spielt auf Läufen der österreichischen Marke Glogg eine Mozart-Melodie, die zweite funktioniert mit italienischem Beretta-Material und lässt Vivaldi erklingen, und die dritte gibt mithilfe von schweizerischen Karabiner-Läufen (Bild unten) ein Lied von Mani Matter zum Besten. Über die Erfolgsaussichten von Reyes’ Bemühungen, dem Weltfrieden mithilfe der Zweckentfremdung von Waffen Vorschub zu leisten, darf man gewiss geteilter Meinung sein: Was für einen Teil des Publikums Ausdruck eines realitätsfernen, romantischen Traums sein mag, ist für einen anderen Teil die poetische Manifestation eines handfesten Engagements. Denn die Schaufel, die da beim Eingang an der Wand hängt, ist nur eines von 1527 Grabwerkzeugen. Unter dem Titel «Palas por Pistolas» sammelte Reyes 2007 zusammen mit den Behörden von Culiacán,
KarabinerːMatter
der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Sinaloa, bei der Bevölkerung Waffen ein und tauschte sie gegen Haushalts- und Elektrogeräte. Die Gewehre und Pistolen wurden eingeschmolzen und zu 1527 Schaufeln geformt, mit denen eine gleiche Anzahl von Bäumen gepflanzt wurde. Auch die Schaufel aus der Ausstellung soll ihren Zweck erfüllen, indem sie im November direkt vor dem Museumseingang beim Pflanzen einer Kastanie eingesetzt wird.

Zur Ausstellung publizierte das Museum in einer englischen und einer deutschen Fassung in der Form eines Reglements der Schweizer Armee eine Broschüre, die ein ausführliches Interview von Roland Wetzel mit dem Künstler enthält.
Museum Tinguely (Hrsg.): Pedro Reyes. Return to Sender. (Basel, 2020) 26 Seiten.

Illustrationen: Porträt Pedro Reyes (Ausschnitt, Courtesy Lisson Gallery). Alle übrigen:
© Jürg Bürgi, Basel 2020 (Bilder aus der Ausstellung).

Rebecca Horns «Körperphantasien» im Museum Tinguely

Weißer_Koerperfaecher klein
1944 in Michelstadt im Odenwald geboren, gehört Rebecca Horn heute zu den bekanntesten Künstlerinnen ihrer Generation. Ihrer stark körperbezogenen Kreativität gilt eine von Sandra Beate Reimann kuratierte Retrospektive im Museum Tinguely in Basel. Die Schau unter dem Titel «Körperphantasien» ermöglicht vom 5. Juni bis zum 22. September 2019 einen Überblick über das mehr als 40 Jahre umfassende Kunstschaffen der Deutschen, die zu Beginn ihrer Karriere lange in den USA gelebt hat. Erstmals Aufsehen erregte Horn, als sie 1972, eingeladen von Harald Szeemann, an der documenta 5 in Kassel erste Arbeiten präsentierte. Das war eine Zeit, in der die Öffentlichkeit mit freizügigen Darstellungen und ausgefallenen Ideen relativ leicht zu erschrecken war. Heute, da das Publikum kaum mehr zu provozieren ist, dokumentiert die thematisch gegliederte Basler Ausstellung, dass Horns frühe Erfolge alles andere als Eintagsfliegen waren. Vielmehr erweist sich ihre hartnäckige Suche nach gültigen Formen der Darstellung ihrer körperlichen und seelischen Befindlichkeit als nachhaltiges Konzept. Enthüllen, Blossstellen und Verbergen des Körpers, die Erforschung der «nackten Existenz» und die adäquate Abbildung der erlittenen Traumata durch ihre Isolation in einem Internat oder in einem Tuberkulose-Sanatorium beschäftigen Rebecca Horn während ihres ganzen Künstlerlebens. Sie fand dafür eigenständige Metaphern, die sich auf vielfältige Weise abwandeln liessen.

Schmetterling_klein
Das zeigt sich schon im ersten Kapitel der Ausstellung, das den Varianten des Fliegens und Flatterns gewidmet ist. Die hier versammelten Arbeiten beschäftigen sich mit den Möglichkeiten, die Flügel verleihen. Mit dem «Weissen Körperfächer» (1972), zeigt Horn in einem Film, wie Flügel auch zur Verhüllung dienen können, wie sie uns ermöglichen, uns auf uns selbst zurückzuziehen, in einen Kokon einzuspinnen. Mit ihrer Hilfe kann man sich auch dem (illusorischen) Gefühl hingeben, auf und davon zu fliegen, wie es Ikarus mit fatalen Folgen versuchte. Da gibt es einen motorisierten blauen Falter («Schmetterling im Zenit», 2009), der in seinem Käfig eifrig umher flattert und doch nicht vom Fleck kommt. Und da versucht ein Koffer («Fluchtkoffer», 2013), an einer langen Stange auf- und abfahrend, sich fliegend davonzumachen. Eine zweite Werkgruppe summiert die Kuratorin unter dem Begriff «Zirkulieren». Auch hier geht es mit der frühen Arbeit «Überströmer» (1970) um den menschlichen Körper, genauer: um den Blutkreislauf, der in der Form von Schläuchen, durch die eine rote Flüssigkeit gepumpt wird, zum Kleidungsstück wird. Im Zentrum des Themas steht die Installation «El Rio de la Luna» von 1992. Wir sehen ein raumgreifende System aus Bleiröhren, durch die von einem zentralen, mit Trichtern versehenen Schrank Quecksilber gepumpt wird. Auf seinem Weg wird das «flüssige Mondlicht» in sieben Kästen sichtbar, welche die Künstlerin als «Herzkmmern» bezeichnet.

Bleistiftmaske klein
Eine besonders grosse Zahl von Möglichkeiten erforschte Rebecca Horn beim Schreiben und Zeichnen. Sie konstruierte Apparate, die mittels motorgetriebener Stangen Schreibmaschinen bedienen, oder sie erfand eine groteske, mit Bleistiften gespickte Gesichtsmaske, die es erlaubt, mit Kopfbewegungen zu zeichnen. Vom Schreiben und Zeichnen führt eine direkte Linie zum Tasten. Die Verlängerung der Finger kann auch den Tastsinn verfeinern, wie Rebecca Horn 1979 festhielt: «Die Hebelwirkung der verlängerten Finger steigert den Tastsinn der Hand. Ich fühle, wie ich berühre, sehe, wie ich greife und kontrolliere die Entfernungen zwischen den Objekten und mir in einer selbstgewählten Distanz.»

Die Ausstellung im Museum Tinguely zeigt die künstlerische Welt einer poetischen Erfinderin, die zu ihren Objekten jederzeit ironisch Distanz hält. Die Auswahl der Werke und ihre sorgfältige Präsentation widerspiegeln sowohl die Kennerschaft als auch die Freude, mit der die Kuratorin eine rundum gelungene Präsentation realisierte.

Handschuhfinger klein
Unter dem Titel «Theater der Metamorphosen» ist Rebecca Horns Schaffen vom 8. Juni 2019 bis zum 13. Januar 2020 auch im Centre Pompidou Metz zu sehen. Das besondere Augenmerk der Kuratorinnen Emma Lavigne und Alexandra Müller gilt dort der «Verwandlung unter animistischen, surrealistischen und mechanistischen Gesichtspunkten», wie sie in einer Pressemitteilung schreiben. Grosses Gewicht legt die Schau in Metz zudem auf das filmische Oeuvre von Rebecca Horn, die neben zahlreichen Kurzfilmen auch mehrere Spielfilme realisierte.

Am 6. und 12. Juni 2019 zeigt das Stadtkino Basel drei Spielfilme von Rebecca Horn. Die Schauspielerin Michaela Wendt trägt am 9. und 23. Juni, sowie am 7. Juli, 25. August und 8. und 22. September jeweils um 10 Uhr zu den Werken passende Texte vor. (Details auf der Website des Museums.)

Zur Ausstellung erschien – in je einer deutschen und englischen Ausgabe – ein sehr sorgfältig gestalteter Katalog. Reimann, Sandra B. (Hrsg. für das Museum Tinguely, Basel): Rebecca Horn – Körperphantasien. Wien 2019 (Verlag für moderne Kunst), 160 Seiten, CHF 42.00, € 38.00.

Illustrationen von oben nach unten: Weisser Körperfächer (1972, Filmstill), Schmetterling im Zenit (2009), Bleistiftmaske (1973, Filmstill), Handschuhfinger (1972) © 2019 Rebecca Horn/Pro Litteris, Zürich.

Cyprien Gaillard im Museum Tinguely

Unter dem nicht weiter erläuterten Titel «Roots Canal» präsentiert das Museum Tinguely in Basel vom 16. Februar bis 5. Mai 2019 eine skulpturale Installation sowie zwei Filmarbeiten von Cyprien Gaillard. Den 1980 in Paris geborenen und teilweise in Kalifornien aufgewachsenen Franzosen, der sein Kunststudium 2005 in Lausanne mit einem Diplom abschloss, hält Museumsdirektor Roger Wetzel für «einen der interessantesten Künstler seiner Generation». Im Mittelpunkt der von Séverine Fromaigeat kuratierten Schau steht ein Ensemble von Baggerschaufeln verschiedener Grösse. Die penibel ausgerichteten Baugeräte, sauber geputzt und sorgfältig geölt, repräsentieren Gaillards Interesse an «Zerstörung, Bewahrung, Wiederaufbau» und «Beleuchtet unser ambivalentes Verhältnis zu Ruinen und dem Verschwinden», wie es im Pressetext zur Ausstellung heisst. Und weiter: «Die Baggerschaufeln aus dem Jahr 2013 … nehmen uns mit auf eine Reise in ein Hin und
Baggerschaufeln
Her zwischen Vorgeschichte und Gegenwart». Die «Vorgeschichte» repräsentieren die Mineralien Onyx und Kalkspat, die anstelle des Stahlgestänges, welche die Schaufel mit dem Baggerarm verbindet, eingesetzt sind. Zu sehen sind in Basel, erstmals in Europa, neun grosse und kleine Baumaschinenteile. (Im Gegensatz zu der umfangreicheren Installation vor fünf Jahren in der New Yorker Gladstone Gallery, wo rund ein Dutzend, bedrohlich eng neben und gegen einander platzierte Schaufeln zum Teil mit Goldbronze-Bemalung als Schmuckstücke daherkamen, soll bei der Präsentation im Tinguely-Museum das Zerstörungspotenzial im Vordergrund stehen.) Die beiden weiteren ausgestellten Werke sind Video-Arbeiten. «Koe» von 2015 zeigt einen Schwarm ursprünglich wohl aus Nordindien eingeschleppte Halsbandsittiche. Die grünen Papageienvögel, von denen es in Deutschland angeblich 30’000 geben soll, drehen in dem Film über der Innenstadt von Düsseldorf ihre Runden. Sie sind auch auf Schlafbäumen in einem Park zu beobachten. Beim Betrachten des Streifens darf man sich Gedanken über das Zusammenspiel der eleganten exotischen Eindringlinge über den Luxusläden der Königsallee machen. Ob Gaillard auch darauf hinweisen möchte, dass rund ein Viertel der Einwohner der Hauptstadt von Nordrhein-Westfalen einen ausländischen Pass haben und dass Englisch neben Deutsch zur Verwaltungssprache erhoben wurde, um hochqualifizierten Expats, darunter besonders viele Japaner, das Leben zu erleichtern, ist nicht bekannt. Der zweite Film, «Nightlife» aus demselben Jahr, ist eine 3D-Produktion, die aus mehreren, nächtlichen Szenen besteht. Zu sehen ist zunächst Rodins Skulptur «Le Penseur» vor dem Cleveland Museum of Art gefolgt von Wacholderbäumen in Los Angeles, die nach Angaben der Saalbroschüre einen «halluzinativen Tanz» aufführen und einem eindrücklichen Feuerwerk über dem Berliner Olympiastadion, wo der afro-amerikanische Leichtathlet Jesse (eigentlich James Cleveland = J.C.) Owens bei den Olympischen Spielen 1936 vier Goldmedaillen gewann und von den Organisatoren mit vier Eichen-Setzlingen geehrt wurde. Einer davon wuchs auf dem Gelände der Rhodes High School in Cleveland zu einem stattlichen Baum heran und bildet nun, beleuchtet von einem darüber kreisenden Hubschrauber, das Zentrum der letzten Filmszene. Begleitet wird das dreidimensionale Filmerlebnis durch eine von Gaillard gemixte Tonspur aus Samples eines Songs des Rocksteady-Musikers Alton Elis, dessen Refrain «I was born a loser» Gaillard in «I was born a winner» umpolt. Da auch der wortreiche Text der Saalbroschüre keinen Aufschluss darüber zu geben vermag, weshalb wir Cyprien Gaillard als einen der interessantesten Künstler seiner Generation betrachten sollen, verlassen wir die Ausstellung ratlos und enttäuscht. Wir fragen uns, weshalb von den im Internet zahlreich abgebildeten und kommentierten interessanten übrigen Arbeiten Gaillards im Museum Tinguely nichts zu sehen ist. Oder anders: Wenn es Gründe gibt, welche die Gaillard-Schau zu einem blossen Köder reduzierten, müsste offen darüber informiert werden.

Radiophonic Spaces im Muesum Tinguely

Einmal mehr profiliert sich das Museum Tinguely in Basel als eine besonders experimentierfreudige Institution der Kunstvermittlung. In Zusammenarbeit mit der Bauhaus-Universität in Weimar und dem medienwissenschaftlichen Institut der Uni Basel lädt das Museum vom 23. Oktober 2018 bis zum 27. Januar 2019 zur Erkundung der Radiokunst-Geschichte ein. Unter dem Titel «Radiophonic Spaces» gibt es in der Ausstellung nichts zu sehen, dafür umso mehr zu hören. Besucherinnen und Besucher erhalten beim Eingang ein speziell präpariertes Smartphone und Kopfhörer, mit deren Hilfe sie 210 sorgfältig ausgesuchte Programme erleben können. Wer will, kann sich wie eine menschliche Sendersuchnadel auf einem klassischen Radiogerät durch den vom Multimedia-Künstler Cevdet Erek gestalteten Raum bewegen und dabei Ausschnitte von Radiostücken hören. Bei besonderem Interesse ist es möglich, das ganze Werk zu hören und an Bildschirm-Stationen zusätzliche Informationen und Querverweise abzufragen. Es ist unschwer vorauszusagen, dass nur eine Minderheit des Publikums die Fülle von Möglichkeiten nutzen kann. Das aufwändige Vermittlungskonzept, das aus einem dreijährigen, von Prof. Nathalie Singer geleiteten wissenschaftlichen Forschungsprojekt der Weimarer Bauhaus-Universität hervorging, wird viele überfordern. Denn das Fehlen von Bild-Elementen im Ausstellungsraum und der Einsatz technischen Geräts machen das Eintauchen in die Geschichte der Radiokunst zu einem anspruchsvollen Abenteuer. Wer den Mut (und die Zeit) aufbringt, sich darauf einzulassen, wird allerdings reich belohnt.

Logo
Eine grosse Hilfe bietet eine kostenlose Begleitbroschüre mit einer Anleitung zur Benutzung der technischen Gerätschaften und der eindrücklichen Liste aller 210 Archivstücke. Darunter sind Hörspiele und experimentelle Musikstücke sowie beispielhafte historische Tonaufnahmen, die weit über die akademische Radioforschung hinaus ein breites Publikum interessieren können: Da ist zum Beispiel Kaiser Wilhelm II. mit einem «Aufruf an das Deutsche Volk» zu hören oder Adolf Reichenberg, der seiner Frau 1899 einen Phonographen zum Geschenk machte und ihr die Neuigkeit auf einer von ihm besprochenen Wachswalze gleich selbst mitteilte. Zum Angebot gehören sodann Grammophonplatten-Experimente von Paul Hindemith und John Cage, oder das epochemachende Hörspiel «The War of the Worlds» von Orson Welles, das 1938 den Überfall von Ausserirdischen auf New York so realistisch erlebbar machte, dass in der Stadt Panik ausbrach. Besondere Beachtung verdienen auch die Hörspiele aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, darunter das Rückkehrer-Drama «Draussen vor der Tür» von Wolfgang Borchert, das am 13. Februar 1947 vom NWDR gesendet wurde. (Die Hamburger Uraufführung der Bühnenfassung am 21. November desselben Jahres erlebte Borchert nicht mehr. Er starb, 26-jährig, am Tag davor im Claraspital in Basel.) Die Liste der Preziosen liesse sich fast beliebig erweitern…

Das Museum Tinguely und der verantwortliche Kurator Andres Pardey verlassen sich allerdings nicht darauf, dass ein wissenschaftlich oder historisch weniger interessiertes Publikum automatisch in die Ausstellung drängen wird. Deshalb gruppierten sie rund um die Ausstellung 15 begleitende Themenwochen. In der ersten sind zum Beispiel jeden Tag um 11.30 Uhr und um 15 Uhr zwei Spielfilme zum Thema Radio zu sehen, und in der zweiten können Besucherinnen und Besucher mit Hilfe von Amateurfunkern der Station «Notfunk Birs HB9NFB» selbst Radiosignale senden und empfangen. Auf grosses Interesse wird in der neunten Themenwoche auch die Möglichkeit stossen, unter Anleitung einen eigenen Radioapparat zu bauen. Auch viele weitere Angebote setzen auf die aktive Teilnahme des Publikums. Alle Details sind der
Website des Museums zu entnehmen.

Nicht überraschend gibt es in der Ausstellung auch ein eigenes Radiostudio. «RadioTinguely» (
www.tinguely.ch/radiotinguely) geht jeden Sonntag um 17 Uhr auf Sendung und berichtet live, moderiert vom bekannten Basler Radiojournalisten Roger Ehret, über die Höhepunkte der vergangenen Themenwoche.

Nur keine Panik! Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger im Museum Tinguely

Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger
So viel Spass beim Hinschauen, Entdecken und Ausprobieren wie vom 6. Juni bis 23. September 2018 im Museum Tinguely in Basel bieten Kunstausstellungen nur selten. Und selten passt eine künstlerische Haltung so perfekt zu Jean Tinguely wie die von Séverine Fromaigeat unter dem Titel «Too early to panic» kuratierte Retrospektive auf das künstlerische Wirken von Gerda Steiner (geb. 1967) und Jörg Lenzlinger (geb. 1964), die seit 1997 zusammenarbeiten. Im Lauf der Jahre ist daraus eine einzigartige, erfindungsreiche und witzige Kunstwelt entstanden. Beim Eingang müssen die Besuchenden einen von drei Eingängen wählen. Sie führen in die Vergangenheit, in die Gegenwart oder in die Zukunft. Wer sich, was empfehlenswert ist, spontan für die Holztür in die Vergangenheit entscheidet, lernt den Werdegang des Künstlerpaars kennen, der zunächst stark von der Malerei geprägt war. Jörg Lenzlinger machte zum Beispiel Versuche mit tropfender Aquarellfarben, und Gerda Steiner erkundete Möglichkeiten, mit papierenen Farbpunkten zu malen. Das Paar brachte von langen und weiten Reisen viele Inspirationen mit, die es direkt und indirekt zu Kunstwerken gestaltete. Viele dieser
Samen aus Mali
Arbeiten sind bei aller Fröhlichkeit und allem Witz, die sie auf das Publikum übertragen, durchaus auch als Denkanstösse gemeint. So ist auf einem Tisch eine Sammlung von Samen ausgelegt, die auf einer Reise nach Mali zusammen kamen. Wer sich die mannigfaltigen Formen und Grössen ansieht, wird auch in Betracht ziehen, welche Rolle diese Pflanzen für die malische Bevölkerung spielen. Wichtig ist auch, die mannigfaltigen Papierstücke zu betrachten, mit denen das Saatgut verpackt wurde und auf denen es nun ausliegt. Sie sind, wie Gerda Steiner erklärt, «Teil der Geschichte» – Fundstücke aus einem Land, in dem jeder Fetzen verwendet wird, weil Papier Mangelware ist. Die Natur, in lebendiger, toter oder künstlicher Form ist allgegenwärtig in der Ausstellung. Besonders vif sind die hüpfenden Hühner, die beim Spaghetti-Pflücken von tief hängenden
Dünger-Kristalle
Ästen gefilmt wurden (Hühnerhüpfen, 2016), tot ist das Vogelnest, in goldenen Stöckelschuhen (Goldschatz, 2013) und künstlich sind Blumen und andere Verzierungen, die sowohl im Innern des Museums in urwaldartigen Arrangements aus totem Holz wie auch im Park in einem Schiffscontainer voll Schlingpflanzen vegetieren. Im Hauptraum der Ausstellung wachsen in einer wunderbar farbigen Skulptur Harnstoff-Kristalle, und daneben verschafft eine vielfältig vernetzte und verdrahtete Fitness-Maschine Einblick in den menschlichen Protein-Kreislauf. Wer sich hinsetzt und mit dem Drahtzug seine Armmuskeln trainiert, öffnet links und rechts die Deckel von Tiefkühltruhen, aus denen das Grunzen von Schweinen und das Muhen von Kühen an die Lieferanten des Kühlguts erinnern, gleichzeitig gerät – zum grössten Teil unsichtbar für die Trainierenden – die ganze raumgreifende Skulptur in Bewegung. Weil es zu der Retrospektive weder ein vollständiges Verzeichnis aller ausgestellten Objekte noch einen Katalog gibt, ist es ratsam, sich genügend Zeit für die eindrückliche Schau zu nehmen. Nur so bleiben auch weniger grosse Arbeiten in Erinnerung. Zum Beispiel eine Metallplatte die seit 30 Jahren in einem mit Säure gefüllten Gefäss in Auflösung begriffen ist, oder ein mit Mikroskopen bestücktes Labor, in dem die Wunderwelt von Kristallen aus Tränen zu bestaunen ist, sowie ein Mobile aus menschlichen Ersatzteilen – Prothesen, Herzschrittmacher, künstliche Gelenke, Hörgeräte. Weil es unmöglich scheint, allen Ideen und Geistesblitzen beschreibend gerecht zu werden, ist es ein schöner Gedanke, sich vorzustellen, dass dereinst das Ganze der überaus eindrucksvollen Ausstellung nur im kollektiven Gedächtnis ihrer Besucherinnen und Besucher aufgehoben sein wird.

Illustrationen: © 2015, Domaine de Chaumont-sur-Loire - Centre d’arts e t de nature (oben),
© 2018 Jürg Bürgi, Basel (Mitte, unten).

RE-SET: Die Paul Sacher Stiftung im Museum Tinguely

Das Museum Tinguely spricht in seinen Texten zur Ausstellung «RE-SET – Aneignung und Fortschreibung in Musik und Kunst seit 1900», die es vom 28. Februar bis 13. Mai 2018 präsentiert, von einer «Zusammenarbeit». In Wirklichkeit gewährt das Museum Tinguely der «Paul-Sacher-Stiftung» Gastrecht für eine grosse Ausstellung, während im Erdgeschoss ein bedauernswert kurzer, von Annja Müller-Alsbach kuratierter «kunsthistorischer Prolog» zu sehen ist, der auf die Wirkung von Marcel Duchamps ikonischen Werken auf das Kunstschaffen von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart fokussiert.

Sosehr man das Ungleichgewicht bedauern mag: Sehr sehenswert sind die ungleichen Teile der Ausstellung allemal.

Im zweiten Obergeschoss dokumentiert die Sacher-Stiftung, losgelöst von jedem Bezug zur bildenden Kunst, ihre weltweit einzigartige Rolle bei der Erforschung der Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Schade, dass die Ausstellung ganz davon absieht, Brücken zwischen den kreativen Welten zu bauen, obwohl sowohl zum Beispiel Igor Strawinsky als auch Arnold Schönberg, die in der Stiftung prominent vertreten sind, enge Beziehungen zur bildenden Kunst pflegten: Strawinsky verglich sein Komponieren mit dem Malen von Bildern; er liess sich von Gemälden inspirieren und sass dutzendfach seinen Künstlerfreunden Modell. Und der doppelt begabte Schönberg gehörte in München zum Kreis des «Blauen Reiter».

Spanschachtel
Mauricio Kagel ist zwar im Durchgang zum Treppenhaus ein kurzer Auftritt mit seiner witzigen Hommage zu Ludwig van Beethovens 200. Geburtstag, dem WDR-Film «Ludwig van» von 1970 vergönnt – aber wer mag schon 90 Minuten stehend vor einem kleinen Bildschirm verbringen? Zudem: Dass das Werk in Zusammenarbeit mit Kagels Künstlerfreunden Joseph Beuys, Ursula Burghardt, Robert Filiou Klaus Lindemann, Heinz-Klaus Metzger, Dieter Roth, Otto Tomek und Stefan Wewerka entstand, hätte mannigfaltige Möglichkeiten geboten, das Zusammenspiel unter Kunstschaffenden zu illustrieren.

Bartók
Die Kuratorin Heidy Zimmermann und der Kurator Simon Olbert inszenieren ihr Thema in vier Kapiteln. Im ersten Raum zeigen sie Komponisten – unter dem Titel «Eigentümlich fremd» – im Dialog mit historischen Vorbildern, darunter der mittelalterliche Musiker Guillaume de Machaut (gest. 1377), aber auch Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven oder, aus neuerer Zeit, Erik Satie (1866-1925). Sie alle lieferten Material für Bearbeitungen. Besucherinnen und Besucher steht beim Eingang ein Tablet-Computer mit einem speziellen Programm zur Verfügung, das die ausgestellten Notenblätter zum Klingen bringt.

Im zweiten Raum wird gezeigt, wie Komponisten ihr eigenen Einfälle variierten und weiter entwickelten. Igor Strawinsky war einer der fleissigsten Selbstbearbeiter, wie am Beispiel des Balletts «Der Feuervogel» gezeigt wird, das er mehrfach bearbeitete, um es konzerttauglich zu machen. Das dritte Kapitel befasst sich mit «Anbindungen an die Volksmusik». Es zeigt, wie Komponisten Reisen unternahmen, um die musikalische Volkskultur festzuhalten – wie das zum Beispiel mit wissenschaftlichem Eifer der Ungar Béla Bartok (1881-1945) in Südosteuropa oder der amerikanische Musiker Steve Reich (*1936) im westafrikanischen Ghana betrieb. Beide liessen sich in ihrem Werk durch ihre Erfahrungen nachhaltig inspirieren.

Erstaunlich ist die im vierten Teil der Ausstellung illustrierte Erkenntnis, dass sich Komponisten des 20. Jahrhunderts weniger oft vom Jazz und anderer populärer Musik ihrer Zeit beeinflussen liessen als von älteren Werken der Musikgeschichte oder von der Folklore. Aber es gibt Ausnahmen! In der Ausstellung ist zu sehen und zu hören, wie Dmitri Schostakowitsch ein Orchester den Schlager «Tea for Two» spielen lässt. Auch die Filmindustrie griff – unter Mithilfe der Komponisten – gern auf Konzertstücke zurück. Strawinskys Ballettmusik «Le Sacre du printemps» von 1913 gehört zum Soundtrack des Disney-Films «Fantasia» aus dem Jahr 1940, und György Ligetis (1923-2006) Stück «Atmosphère» von 1961 wurde ausserhalb der Avantgarde-Konzertsäle weltberühmt, als Stanley Kubrick es 1968 in
Bethan Huws, Forest VI
seinen epochemachenden Film «2001: Odyssee im Weltraum» einbaute.

Der Reichtum des musikalischen Teils der Ausstellung RE-SET könnte dem Eindruck Vorschub leisten, der eingangs erwähnte, in drei Räumen konzentrierte «kunsthistorische Prolog» sei bloss als Teaser, laut Wörterbuch ein «Neugier weckendes Werbeelement», für den musikalischen Teil zu verstehen. Ganz falsch! Die Konzentration auf Duchamps ikonische Werke – das Pissbecken «Fountain» von 1917 und der «Flaschentrockner» von 1914 – bringt das Thema der Ausstellung auf einzigartige Weise auf den Punkt. Im ersten Raum dominieren die Wiedergänger der «Fountain», die rund um Duchamps in mehreren Serien gestaltetes Multiple «Boîte-en-valise», ein Mini-Museum in einem Karton-Koffer, versammelt sind. Im zweiten Raum sind teils schwarz-weisse, teils kolorierte Postkarten aus dem Jahr 1917 zu entdecken, die der französische Künstler Saâdane Atif (*1970) gesammelt hat. Alle zeigen ausschliesslich Brunnen im öffentlichen Raum.

Auf ähnlich intensive Art befasst sich die walisische Künstlerin Bethan Huws (*1961) in ihrem Werk mit Marcel Duchamp. Im dritten und grössten Raum des «Prologs» dokumentiert sie ihre Recherchen zu dem bis heute einflussreichen Ahnherrn der Konzeptkunst. Und daneben ist ihr «Forest» von 2008-2009 aufgebaut, ein Wald von Flaschengestellen, über denen die Leuchtschrift «At the Base of the Brain There is a Fountain» signalisiert, was sowohl für die Bildende Kunst als auch für das Musikschaffen gilt: Am Grund des menschlichen Bewusstsein sprudelt eine Quelle der Kreativität.

Zur Ausstellung erschien ein reich illustriertes Katalogbuch. Obert, S. und Zimmermann, H. (Hg.): RE-SET. Rückgriffe und Fortschreibungen in der Musik seit 1900. Eine Publikation der Paul Sacher Stiftung. Mainz 2018 (Schott Music). 328 Seiten, CHF 35.00 (Vorzugspreis während der Ausstellung).

Die Besprechung mit Illustrationen steht
hier auch im PDF-Format zur Verfügung.

Illustrationen: Oben: Still aus dem Fernsehfilm von Mauricio Kagel "Ludwig van" (WDR, 1970); Mitte: Béla Bartok transkribiert Volksmelodien (1910er Jahre) © 2018 Bartok Archivum, Budapest; unten: Bethan Huws in ihrem «Forest». © 2018 Jürg Bürgi, Basel.

Sofia Hultén im Museum Tinguely

Hultén Porträt
Das Museum Tinguely in Basel präsentiert vom 24. Januar bis zum 1. Mai 2018 das faszinierende Werk der 1972 in Stockholm geborenen, im britischen Birmingham aufgewachsenen und ausgebildeten und seit 20 Jahren in Berlin wirkenden Künstlerin Sofia Hultén. Die von Lisa Anette Ahlers kuratierte Schau unter dem zunächst rätselhaften Titel «Here’s the Answer. What’s the Question?» entstand in Zusammenarbeit mit der Ikon-Gallery in Birmingham und umfasst neun skulpturale Installationen und acht Videofilme aus der Zeit von 2008 bis 2017. In drei Fällen dokumentieren Filme die Entstehung der Installationen. Zwei rote Fäden sind bei einem Rundgang sogleich auszumachen: Sofia Hultén manipuliert erstens alltägliche Fundstücke zu irritierenden Artefakten und sie spielt zweitens dabei gern mit dem Lauf der Zeit. Besonders zeigt sich das Verfahren beim Objekt «Mutual Annihilation» von 2008: Eine alte, grün bemalte Schubladen-Kommode wird zunächst sorgfältig renoviert. Die Farbe wird entfernt, die Kratzer und Schrammen werden aufs Penibelste verspachtelt, die Oberflächen geschliffen und geölt. Dann wird alles rückgängig gemacht, die Zeit zurückgedreht: Das Möbelstück erhält seine hässliche grüne Bemalung zurück, die weissen Farbspritzer werden – nach Recherchen über die Art ihrer zufälligen Applikation – erneut aufgetragen; mit Stechbeitel und anderen Werkzeugen wird die Oberfläche, die eben noch sorgfältig poliert worden war, erneut zerkratzt. Indem sie das Objekt in seinen ursprünglichen Zustand zurück versetzte, erläutert die Künstlerin mit schelmischem Lachen, sei es ihr gelungen, die Zeit umzukehren. Umkehren, umstülpen ist ein weiterer Aspekt von Sofia Hulténs Schaffen. Abfallcontainer faszinieren sie in dieser Hinsicht wie Abfallsäcke. Diese leert sie aus, dreht das Innere des Sacks nach aussen und befüllt ihn erneut. Dasselbe übte sie mit einem Container: Sie schweisste das mächtige Behältnis aus einander und setzte es – umgestülpt – erneut zusammen. Ironische Distanz ist immer präsent, wenn sich die Künstlerin ganz ernsthaft ans Werk macht. So liess sie sich von dem Buch «Problem der Erkennung» des russischen Kybernetikers Mikhail Bongard (1924-1971) anregen, der 1967 eine Reihe von 100 Rätseldiagrammen vorlegte, bei denen es galt, ein Muster zu erkennen. Sofia Hultén benützt zur Präsentation ihrer eigenen Rätsel gebrauchte Lochplatten, die in Werkstätten als Werkzeughalter dienen. Sie arrangierte darauf Gegenstände und Werkzeuge zu Bongard-Problemen, darunter auch Materialien, von denen unklar bleibt, wozu sie einst dienten.

Die faszinierende Ausstellung im Museum Tinguely erfordert Geduld beim Schauen und, wenn möglich, sachkundige Erläuterungen, wie sie im sorgfältig gestalteten und reich illustrierten Katalog zu finden sind oder von versierten Sachverständigen bei Führungen vermittelt werden.

Zu den Ausstellungen in Birmingham und Basel erschien ein gemeinsamer Katalog in deutscher und englischer Sprache: Ahlers, L. A. und Watkins, J. (Hg.): Sofia Hultén – Here’s the Answer. What’s the Question?, Birmingham/Basel 2017, 128 Seiten, CHF 28.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
steht hier zur Verfügung .

Illustration: Sofia Hultén. © Jürg Bürgi 2018

Schweizer Performancekunst von 1960 bis heute

Unter dem Titel «PerformanceProcess» präsentiert das Museum Tinguely in Basel vom 19. September 2017 bis zum 28. Januar 2018 einen Überblick über «60 Jahre Performancekunst in der Schweiz». Die Schau, kuratiert von Jean-Paul Felley und Olivier Kaeser sowie Sévérine Fromaigeat ist eine erweiterte Version eines Festivals, welches das Centre Culturel Suisse in Paris 2015 realisiert hatte. Sie versammelt «über 50 künstlerische Positionen», wie das in den Zeiten der Beliebigkeit genannt wird, um jede Verbindlichkeit zu vermeiden. Ergänzt wird die Präsentation durch eine enge Kooperation mit der Kaserne Basel und der Kunsthalle. Beide Institutionen tragen ihre eigenen Programme zum Projekt bei.
Study for an End of the World No. 2_Filmstill NBC
Erwartungsgemäss stehen am Anfang des von Video-Sequenzen und Fotografien dominierten Ausstellungs-Parcours im zweiten Stock Jean Tinguelys grandioses Selbstzerstörungs-Happening in New York, das Weltuntergangs-Show in der Wüste von Nevada und andere Spektakel ähnlichen Kalibers. Gemessen an diesen wegweisenden Werken, haben die jüngeren und jüngsten Performances die grösste Mühe, eine eigenständige, über den grassierenden Narzissmus hinaus weisende Wirkung zu entfalten. Wenn einer sich beim Joggen in einem Tunnel filmen lässt, ein anderer Zauberkunststücke zum Besten gibt und ein Dritter alte Herren im Superman-Outfit ins Gelände schickt, weckt das beim Publikum, wenn’s hoch kommt, ein Achselzucken. Die Ausstellung, sorry, dokumentiert nichts als eine grosse Ratlosigkeit. Wenn alles erlaubt ist, und sich niemand mehr provoziert fühlt, wenn sich Performance-Künstlerinnen und -Künstler in erster Linie auf ihren Körper konzentrieren, wie das an der Medien-Vorbesichtigung behauptet wurde, sind kreative Überraschungen nicht zu erwarten. Die Kunsthalle, kündigte Direktorin Elena Filipovic in ihrem Pressetext an, beende ihr Programm «mit einem grossen Finale in den Nachtstunden des 18. Februar 2018 bis hin in den frühen Morgen des 19. Februar 2018, wenn um 4 Uhr morgens alle Lichter der Stadt für den Morgestraich gelöscht werden – dem rituellen Auftakt der Fastnacht (sic!), Basels ganz eigener ‹Kollektiv-Performance›». Kein Witz? Kein Witz.

Illustration: Jean Tinguely, Study for an End of the World, N° 2, 1962
Filmstill aus “David Brinkley’s Journal”, NBC, 1962 © LIFE Magazine; Foto: Life Magazine

Wim Delvoye im Museum Tinguely

Dem belgischen Konzeptkünstler Wim Delvoye, geb. 1965, widmet das Museum Tinguely in Basel vom 13. Juni 2017 bis 1. Januar 2018 die erste grosse Retrospektive in der Schweiz. Die in Zusammenarbeit mit dem MUDAM (Musée d’Art Moderne) in Luxemburg von Andres Pardey kuratierte Schau zeigt Werke eines witzig-kreativen Geistes, der weit mehr kann, als mit seinen inzwischen weltweit berüchtigten Verdauungsmaschinen das Publikum zu provozieren. Das heisst, dass diese aufwändig und wissenschaftlich genau den menschlichen Verdauungsvorgang simulierenden Apparate auch in dieser Ausstellung einen wichtigen Platz einnehmen. Aber sie sind in einen Kontext eingebettet, der die Intention des Künstlers verständlich macht, für alle Menschen, ohne Unterschied der Herkunft und Klasse und für alle gleichermassen lebensnotwendige natürliche Prozesse zu simulieren.
Truck Tire Detail
Das Konzept, erläuterte Wim Delvoye bei der Vorbesichtigung, sei stark von seiner Faszination für die Forschung am menschlichen Genom und anderen Errungenschaften der Biomedizin beeinflusst. Wie sich in der Ausstellung zeigt, ist dies allerdings nur eine der Quellen, aus denen sich Delvoyes Imaginationen speisen. Eine zweite sind die traditionellen Handwerke, zum Beispiel die Kunstschnitzerei in Indonesien oder die Porzellanmalerei in Holland. Diese Fertigkeiten nutzt er zur Ironisierung und Verfremdung von Alltagsgegenständen – zum Beispiel, indem er 18 Propangasbehälter wie Delfter Porzellan bemalen oder indem er eine ganze Baustelle mit Schubkarre, Betonmischer und allem weiteren Drum und Dran aus Tropenholz schnitzen lässt. Die dritte Abteilung zelebriert das Ornament in sakraler Brechung: Die nach oben strebende, nach Ansicht von Wim Delvoye, von den europäischen Wäldern inspirierte Gotik als Baustil und Weltanschauung ist hier auf vielfältige Weise präsent: zum Beispiel in den ornamental geschnitzten Lastwagenreifen, in dem «Suppo» genannten, von der Decke hängenden extrem verdrehten neugotischen Kathedralenmodell oder, draussen im Park, im – ebenfalls neugotisch gestalteten – «Cement-Truck», der ganz aus lasergeschnittenen, langsam rostenden Cortenstahl-Platten zusammengesetzt ist.

Zur Ausstellung erschien ein reich illustrierter Katalog mit sachkundigen deutsch/englischen Texten.
Andres Pardey (Hrsg. für das Museum Tinguely): Wim Delvoye, Paris 2017 (Somogy éditions d’art), 224 Seiten, CHF48.00.

Eine Besprechung der Ausstellung und des Katalogs gibt es
hier.

Illustration: Wim Delvoye: Ohne Titel (Geschnitzter LKW-Reifen) 2013 (Detail). Foto © Jürg Bürgi, 2017.

Kapelle für Tinguelys «Mengele Totentanz» und ein Vorraum von Jérôme Zonder

«Mengele Totentanz» nannte Jean Tinguely seine aus Trümmern des im August 1986 abgebrannten Bauernhofes seiner Nachbarn in Neyruz (FR) gestaltete Skulpturengruppe. Sie entstand nach und nach, zuerst der Hochaltar aus einer zur Unkenntlichkeit deformierten Maisernte-Maschine der Marke «Mengele», und die vier «Ministranten»: «der Bischof», «der Fernseher», «die Gemütlichkeit» und «die Schnapsflasche». Während «der Bischof», zusammengebaut aus Motorsäge, Bajonett und Karabinerlauf, Tinguelys Überzeugung von der Komplizenschaft der katholischen Kirche mit der Mord-Maschinerie der Nazis verkörpert, symbolisieren die drei anderen Skulpturen, wie Roland Wetzel im neuen Katalog zur Werkgruppe schreibt, «das Unpolitische». Sie stehen «für den individuellen Rückzug ins Private oder für die Meinungsbildung am Stammtisch, die Mechanismen der Ausgrenzung in Gang setzen kann und damit Populismus und Totalitarismen durch Ignoranz begünstigt». Auch die 13 weiteren Teile versinnbildlichen den Totentanz und ihren Tanzmeister Josef Mengele, der auf der Rampe im Vernichtungslager Auschwitz ungezählte Juden aus ganz Europa in die Gaskammern schickte.

Eingang zum Mengele Totentanz von Jérôme Zonder
Als angemessenen Ausstellungsraum für den «Mengele Totentanz», stellte sich Jean Tinguely zeitlebens eine Kapelle vor, nachdem er das Ensemble 1987 in Venedig, im Rahmen einer Retrospektive im Palazzo Grassi in Venedig in der gegenüber am Canale Grande liegenden Kirche San Samuele präsentiert hatte. Ein Jahr später überzeugte er seine Freunde Paul Sacher und Fritz Gerber, dass die Werkgruppe zusammenbleiben und im besonders totentanz-affinen Basel ausgestellt werden sollte. Tatsächlich kaufte die Firma Hoffmann-La Roche einen Teil der Skulpturen und Tinguely versprach, den verbliebenen Rest der Gruppe beizusteuern. Er entwarf einen Kapellenraum unter Paul Sachers Anwesen auf dem Schönenberg. Als Tinguely 1991 starb, kam das Werk als eines der ersten in das von der Roche finanzierte und von Mario Botta gebaute Tinguely-Museum.

Was dort bis heute fehlte, war ein ganz auf den «Mengele Totentanz» zugeschnittener Ort. Diesen hat das «Museum Tinguely», wie es nun offiziell und mit frischem Logo heisst, in einem neu eingebauten Raum geschaffen. Tinguely, darf man annehmen, hätte seine Freunde daran: Die neue Kapelle ist dunkel und düster, gerade gross genug, um ein eindrückliches sowohl visuelles als auch akustisches Erlebnis zu ermöglichen.

Es ist ein Glücksfall, dass zur Eröffnung des neuen Ausstellungsraums der Pariser Künstler Jérôme Zonder (*1974) den Vorraum gestaltete. Im Foyer des Totentanzes – in seinem «Dancing Room» – zeigt Zonder vom 6. Juni bis 1. November 2017 eine Art Ballsaal der organisierten und der individuellen Grausamkeit. Drei Seiten sind mit Bildern des Schreckens bedeckt. Die schwarz-weissen Bleistift-, Kohle- und
Pasted Graphic 1
Fingerabdruck-Zeichnungen orientieren sich teils an Filmszenen, an tief im kollektiven Gedächtnis verankerten Kriegsbildern oder auch an einer aus dem Basler Kunstmuseum bekannten Totentanz-Darstellung von Hans Baldung Grien (1484-1545) aus der Zeit um 1520. Das kleine, rund 31 mal 19 Zentimeter messende, farbige Tafelbild, hat Zonder überlebensgross schwarz-weiss, neu interpretiert. Auch die übrigen Exponate bestechen durch Zonders einzigartiges Zeichentalent und seine technische Fertigkeit.

Auch in Zukunft sollen junge Kunstschaffende Gelegenheit erhalten, den Vorraum zum «Mengele Totentanz» im Dialog mit Tinguelys Werk zu gestalten.

Eine Publikation über Jérôme Zonder aus der édition Galerie Eva Hober, Paris, ist angekündigt.

Zur Neueinrichtung von Tinguelys «Mengele Totentanz» erschien auf Deutsch, Französisch und Englisch eine Publikation mit aktuellen Texten von Sophie Oosterwijk, Sven Keller, Roland Wetzel und dem Nachdruck eines Gesprächs, das Margrit Hahnloser 1988 mit Jean Tinguely über den Totentanz führte.
Museum Tinguely (Hrsg.): Mengele Totentanz. Heidelberg, Berlin 2017 (Kehrer Verlag), 64 Seiten, CHF 24.00 (Museumsausgabe), ca. €22.00 (Buchhandel).

Illustrationen: Jérôme Zonder: Eingangsbereich zum «Mengele Totentanz» © Bild Jürg Bürgi, 2017; unten links: Hans Baldung Grien: Tod und Frau (1518-1520, Kunstmuseum Basel), rechts: Jérôme Zonder: Tod und Frau nach Baldung Grien (2017).

Haroon Mirza/hrm199 Ltd. im Museum Tinguely

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Haroon Mirza, 1977 in London geboren und pakistanischer Herkunft, nimmt auf Einladung des Hauses vom 10. Juni bis 9. September 2015 das Museum Tinguely in Basel in Beschlag. Er tut das, seiner Überzeugung entsprechend, dass die Zeit der künstlerischen Originalgenies vorbei ist, nicht allein, sondern in vielfältiger Kooperation mit den Mitarbeitenden seines Ateliers «hrm199.Ltd» und anderen Kunstschaffenden, deren Werke er in seine eigenen Installationen integriert. Haroon Mirza studierte Malerei, Design und Kunsttheorie an der Winchester School of Art, am Goldsmiths College der University of London sowie am Chelsea College of Art. 2011 erregte er erstmals internationales Aufsehen, als ihm die Jury der 54. Biennale von Venedig einen silbernen Löwen verlieh. 2014 erhielt er den vom Haus Konstruktiv und der Zurich Versicherungsgruppe ausgelobten «Zurich Art Prize». Die jetzt im Museum Tinguely – erstmals in solcher Fülle – präsentierten Werke sind darauf angelegt, unsere visuelle und akustische Wahrnehmungsfähigkeit zu strapazieren. Mirza setzt dafür alle aktuellen Mittel der digitalen Technik ein; er baut auf die Möglichkeiten des LED-Lichts; er nutzt seine reichen Erfahrungen als DJ beim Erzeugen akustischer Effekte, und er verknüpft seine Einfälle zu komplexen Netzen. So kommt zum Beispiel das Geräusch rauschenden Wassers in seinem schalldichten «Pavillon for Optimisation» nicht etwa einer Tonkonserve eines Wasserfalls, vielmehr wird es von einem gleich ausserhalb des Raums installierten Duschkopf erzeugt. An einem anderen Ort verfremdet Mirza unter anderem eine längst geschlossene Ausstellung über die irische Architektin und Möbel-Designerin Eileen Grey (1878–1976) und einen Youtube-Film, auf dem die isländische Sängerin Björk erklärt, wie ein TV-Gerät funktioniert sowie weitere Fundstücke zur Multimediaschau «System». Und im zweiten Untergeschoss orchestriert er mit «Bitbang Mirror» einen vom Kollegen Anish Kapoor ausgeborgten Hohlspiegel («Ohne Titel», 2013) mit einer Arduino-Plattform, Lautsprechern, Verstärker und Stroboskop-Blitzen von LED-Leuchten zu einem dröhnenden Spektakel. Bemerkenswert an dieser Arbeit ist weniger das (überzeugend gelungene) Experiment mit der Fähigkeit des Spiegels den Schall zu reflektieren, als vielmehr die Rückführung eines anerkannten Kunstwerks in den Zustand blossen Materials. Von Roland Wetzel und Sandra Beate Reimann kuratiert, bespielt die anspruchsvolle, die Besucher ebenso bereichernde wie anstrengende Schau das ganze Museumsgebäude sowie den Solitude-Park. Und sie zeigt auf vielfältige Weise, wie sehr künstlerisches Schaffen heute stets ein Prozess mit zahlreichen Akteuren ist.

Zur Ausstellung erschien ein Katalog, der das prozesshafte Kunstverständnis von Haroon Mirza und seiner «hrm199 Ltd.» perfekt widerspiegelt. Er bietet gleichzeitig ein Werkverzeichnis und eine Beschreibung des Entstehens der aktuellen Ausstellung. Roland Wetzel, Sandra Beate Reimann (Hrsg.): Haroon Mirza/hrm199 Ltd. Basel/Köln 2015 (Museum Tinguely/Snoeck Verlagsgesellschaft mbH), 408 Seiten, CHF 48.00 (Museumspreis),

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs befindet sich
hier.
Illustration: © La Nouvelle République, 18.7.2013

Poesie der Grossstadt: Die Affichistes im Museum Tinguely

Plakat

Sie gehörten zu den innovativsten, von neuen Ideen strotzenden Künstlern in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie waren dabei, als der Kunstkritiker und grosse Anreger Pierre Restany (1930–2003) am 27. Oktober 1960 in der Wohnung von Yves Klein (1928-1962) sein Manifest eines «Nouveau Réalisme» vorlegte, um sie – darunter auch Arman, Martial Raysse, Jean Tinguely und Daniel Spoerri – zu einer Künstlergruppe zu formen. Und gleichwohl sind ihre Namen hierzulande (und auch in Deutschland) kaum bekannt: François Dufrêne (1930–1982), Raymond Hains (1926–2005) und Jacques Villeglé (geb. 1926). Später kamen noch der Italiener Mimmo Rotella und der Deutsche Wolf Vostell dazu. Unter dem Titel «Poesie der Grossstadt – Die Affichisten» ermöglicht das Museum Tinguely in Basel einen umfassenden Einblick in das Schaffen dieser Anti-Maler, die als eine Art Stadtindianer von der Sonne gebleichte, vom Regen aufgeweichte und von Vandalen verunstaltete Plakate von Mauern und Zäunen rissen, um sie als urbane Zeitzeugnisse zu bearbeiten und auszustellen. Die von Roland Wetzel, Direktor des Museums Tinguely in Basel, und Esther Schlicht, Kuratorin und Ausstellungsleiterin der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main, gemeinsam konzipierte Schau gibt vom 22. Oktober 2014 bis 17. Januar 2015 in Basel (und danach in Frankfurt) einen umfassenden Einblick in das künstlerische Universum dieser ausgeprägten Individualisten, die sich zum Ziel setzten, gemeinsam den Kunstbetrieb auf eine höhere, alle möglichen Ausdrucksformen verbindende Stufe zu heben. Die Décollage, das Abreissen und weiter bearbeiten des städtischen Plakatmülls, war nur eine ihrer Methoden. Sie experimentierten, allein oder in Gruppen, mit Auftritten als Poeten, welche – ähnlich wie seinerzeit die Dadaisten – die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks erforschten, oder sie widmeten sich mit grösstem Enthusiasmus dem Film und der Fotografie. Mit grossem Geschick führen die Ausstellungsmacher die Besucher durch Themen und Räume und zeigen die ungeheure Vielfalt der affichistischen Formen – von der kleinformatigen, etüdenhaften Dekonstruktion bis zum grossformatigen, marktschreierischen Auftritt. In allen Fällen überzeugt die bildnerische Präsenz der zwischen 1946 und 1968 entstandenen Werke. Es ist dem Museum Tinguely (und später der Schirn Kunsthalle) hoch anzurechnen, dass sie sich auf dieses anspruchsvolle Projekt, das sich ganz auf die Präsentation einer ausserhalb Frankreichs in Vergessenheit geratenen Kunstrichtung konzentriert, eingelassen haben.

Ein sorgfältig gestalteter, opulent bebilderter grossformatiger Katalog mit kenntnisreichen Essays von Bernard Blistène, Fritz Emslander, Esther Schlicht, Didier Semin, Dominique Stella und einem Interview von Roland Wetzel mit dem letzten lebenden Affichisten Jacques Villeglé und einem ausführlichen Dokumentarteil unterstreicht den Anspruch, die grossstädtische Poesie der Affichisten zu vergegenwärtigen. Die Publikation ist bei der Snoeck Verlagsgesellschaft mbH Köln erschienen. 280 Seiten, CHF 42.00.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
folgt demnächst hier.

Krištof Kintera: I AM NOT YOU

Zur Einstimmung in seine Werkschau in Basel lässt der Prager Künstler Krištof Kintera das Publikum vom 11. Juni bis 28. September 2014 durch einen Noteingang an der Gebäudeseite des Tinguely-Museums eine Kleiderboutique betreten, in der immer Ausverkauf herrscht. Aber alles ist echt: Die Kleider, das Verkaufspersonal, die Preise. Zweck der Mimikry sei es, den Übergang aus unserer realen Konsumwelt in die Welt der Kunst und damit unsere Wahrnehmungshaltung bewusst zu machen, erläuterte Kintera bei der Vorbesichtigung gegenüber den Medienleuten. Obwohl in seiner Heimat der bekannteste Künstler seiner Generation, dessen Werke im öffentlichen Raum präsent sind, und der in vielfältiger Weise an der öffentlichen Debatte teilnimmt, wird ihm nun in Basel seine bisher grösste Einzelausstellung ausgerichtet. Das mag ein Zufall sein. Was die widerborstige Ironie, den ätzenden Witz dieses Œuvre angeht, das intellektuell in der langen Tradition des Prager Protestlertums und formal im tschechischen phantastischen Realismus wurzelt, so ist die Verbindung zum Basler Fasnachtsgeist, dessen Esprit von dunklen und absurden Tönen untermalt ist, offensichtlich. Die Ausstellung, die vom Künstler zusammen mit Andres Pardey, dem Vizedirektor des Museums, eingerichtet wurde, bietet mit den zahlreichen gross- und kleinformatigen Exponaten einen Einblick in ein Künstlermilieu, in dem ein anarchischer und kritischer Geist überlebt und die kommerziellen Gesetze der Kunst noch als Zumutung empfunden werden. «Der fundamentale Aspekt der Kunst», heisst es in einem Statement des Künstlers auf einem der rund 400 Blätter des «Katalogs», ist dass sie nicht auf Bestellung gemacht wird … sondern aus einer inneren Notwendigkeit. Sie ist nicht ergonomisch, sie muss weder schön noch glatt sein. Sie existiert für sich selbst. Wer zu ihr hinfinden will, muss etwas dafür tun… .»

Zur Ausstellung erscheint ein «Katalog» in Einzelblättern mit Dokumenten und Fotos aus der Werkstatt des Künstlers sowie einem Gespräch zwischen Krištof Kintera, Roland Wetzel, Andres Pardey und dem Galeristen Jiří Švestka in englischer Sprache. Jedes Exemplar ist in einer individuellen Schuhschachtel handverpackt. Ausschliesslich erhältlich
im Museumsshop: CHF 68.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des «Katalogs» steht
hier.

Iluustration: A Prayer for Loss of Arrogance, 2013.

Zilvinas Kempinas: Licht, Luft und Videotape

Mit der Schau «Slow Motion» lädt das Museum Tinguely in Basel zur Entdeckung des litauischen Künstlers Žilvinas Kempinas (geb. 1969) ein. Auf 1500 Quadratmetern und vier Etagen präsentiert Kurator Roland Wetzel vom 6. Juni bis zum 22. September 2013 – teils im Dialog mit Jean Tinguelys Maschinenskulpturen, teils in eigenen Räumen – die raumgreifenden Installationen des in New York lebenden «Magiers der Elemente» (Wetzel). Beeindruckend sind die komplexen Raumwirkungen, die Kampinas mit seinem Lieblingsmaterial Magnetband erzielt, das er waagrecht, schräg und senkrecht in den Raum spannt. Die Betrachtenden, die sich in den und um die Kunstwerke bewegen, werden zu Bestandteilen der Installationen. Virtuos geht Kampinas nicht nur mit Räumen, sondern auch mit Luft um. Schon ein leichter Wind macht die dünnen Vogelschreckbänder, die er im Freien zwischen japanische Schneepfähle gespannt hat, zu einer flirrenden, die Farben der Pfähle reflektierenden Skulptur. Ähnlich im Innern, wo Ventilatoren für ständige Bewegung von liegenden, schwebenden und hängenden Videobändern sorgen. Mit der Kempinas-Ausstellung beschert uns das Museum Tinguely die spektakuläre Begegnung mit einem hierzulande bisher unbekannten Kunst-Zauberer, dessen Werk durch geniale Einfachheit und solide Gedankenarbeit besticht.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung folgt demnächst hier.

Museum Tinguely: «Kuttlebutzer»-Fasnacht

Unter dem Titel «Sodeli, d’Kuttlebutzer» zeigt das Museum Tinguely in Basel vom 23. Januar bis zum 14. April 2013 eine eindrückliche Retrospektive auf die kreative Kraft, mit der die Clique «Kuttlebutzer» die Basler Fasnacht revolutionierte – mehrmals unter tatkräftiger Mithilfe Jean Tinguelys, der sich dem ungezügelten Haufen von notorischen Individualisten verbunden fühlte. Die «Kuttlebutzer» zelebrierten ihr Anderssein von Anfang an: Sie starteten kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Schnitzelbangg und entwickelten sich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu einer wohl organisierten Clique. Im Unterschied zu den traditionellen Fasnachtsgesellschaften, die, überwacht vom Fasnachts-Comité, jeweils am Montag- und Mittwochnachmittag einen vorgeschriebenen Parcours, den sogenannten Cortège, absolvierten und dafür Subventionen erhielten, zogen die «Kuttlebutzer» ungebunden durch die Gassen. 1957 waren die zumeist aus kreativen Berufen stammenden Mitglieder individuell kostümiert. Das erste Sujet (ein gemeinsames Thema, das mit Witz und Spott ausgespielt wird) gab es aber schon im zweiten Jahr: «Menschen, Tiere, Sensationen: Yeti» war zwar unpolitisch, liess aber grösstmöglichen Raum für Phantasie und Gestaltungskraft. Neben der eigenwilligen und teuren Ausstaffierung, machte der erstklassige musikalische Auftritt der Gruppe grossen Eindruck. 1958 hatte der «Kuttlebutzer»-Pfeifer und begabte Jazz-Musiker (und nachmalige Regierungsrat) Lukas «Cheese» Burckhardt als Staatsanwalt auf einer Dienstreise nach Schottland Marschmusik-Noten aufgetrieben und daraus den Marsch «Whisky Soda» komponiert, und der «Kuttlebutzer»-Tambour Otti Wick verfasste dazu einen «kühnen und virtuosen»Trommeltext (so der Fasnachtsmusik-Experte Bernhard «Beery» Batschelet am 3.3.2001 in der BaZ). Der «Whisky» ist einer der am meisten gespielten Fasnachtsmärsche; die Noten seien bisher 14’000mal verkauft worden, berichtet der inzwischen 88-jährige Komponist in einem der 30 von Kurator Andres Pardey geführten Video-Interviews, die einen Schwerpunkt der Ausstellung bilden. Neben der Erneuerung der Fasnachtsmusik gehört die Individualisierung der Kostümierung zu den grossen Verdiensten der «Kuttlebutzer». Sie waren die ersten, die Larven und Kostüme selbst gestalteten, eigenwillig und jeder für sich, wie die zahlreichen Exponate belegen. Wohl möglich, dass in einer Clique, die zum grossen Teil aus Künstlern, Grafikern und Dekorateuren bestand, die ihrer Kreativität freien Lauf lassen und die Kollegen übertrumpfen wollten, gar nichts Anderes in Frage kam. Der Umbruch begann mit dem «Lumpesammler-Geisterzug» von 1965, den der Maler Max «Megge»Kämpf (1912-1982) erfunden hatte – ein Totentanz grinsender Gespenster, pure Phantasie ohne Bezug zur Wirklichkeit. Die Kostüme der Vorträbler, Tambouren und Pfeifer bestanden aus Vorhangstoffen und Tüll; die Larven waren Totenköpfe oder federgeschmückte Phantasiegebilde. So etwas hatten die Basler nie zuvor gesehen. Und die Fasnächtler nahmen die Anregungen unverzüglich auf. Innovativ waren die «Kuttlebutzer» auch, wenn es galt, nonkonforme Aussichten zu äussern. 1959 machten sie sich politisch
unkorrekt über das Verbot des Films «Wege zum Ruhm» lustig, 1966 – als «Kuckucksklan» – über die geplante Bundessicherheitspolizei und 1967 über die Roten Garden. Besonders wirkungsvoll (und für die traditionellen Cliquen echt ärgerlich) war die Verspottung der organisierten Cortège-Fasnacht und des Comités: 1964, im Jahr der Expo in Lausanne, formierten die «Kuttlebutzer» ihren eigenen, uniformierten Festzug und überspannten die Freien Strasse, in der während der Strassenfasnacht der grösste Stau herrschte, mit einem Transparent: «Die Kuttlebutzer grüssen die stehenden Cliquen!» Weil die Fasnacht für viele Basler eine todernste Sache ist, war die Provokation ein Volltreffer. Den Höhepunkt erreichte die Kampagne für die wilde und gegen die reglementierte Fasnacht 1974 mit dem «grossen Bums». Zum ersten und einzigen Mal hatte sich die Clique beim Comité angemeldet und vorgegeben, am Cortège teilzunehmen. Jean Tinguely, der in diesem Jahr zum ersten Mal mitmachte, hatte eine Höllenmaschine konstruiert, die vor dem Comité mit gewaltigem Getöse losdonnerte und dabei russigen Rauch ausstiess. «Sodeli. D’ Kuttlebutzer» stand auf dem Gefährt, was jeden Zweifel über den Zweck der rabiaten Übung ausräumte. Im folgenden Jahr legte die Clique nach und verteilte ein «Aufgabenbüchlein für das Comité». Jean Tinguelys anarchischer Geist passte zwar genau ins Profil der eigenwilligen Clique, doch seine hemdsärmlige Unberechenbarkeit wirkte auf viele der gern exklusiv-elitär auftretenden «Kuttlebutzer» irritierend, wie aus einzelnen Interviews herauszuhören ist. 1976 entwarf er einen Zug bunter «Stadtindianer» und 1985 die schwarz-weisse «Atompolizei». Die von Andres Pardey mit grossem Engagement und offensichtlicher Begeisterung kuratierte Ausstellung bietet der älteren Generation einen nostalgischen Rückblick auf nahezu ein halbes Jahrhundert Basler Fasnachtsgeschichte, und den Jüngeren zeigt sie, wie mit Spott und Phantasie angeblich unveränderliches Brauchtum in Schwung zu bringen ist. Ohne die gewisse Arroganz der «Kuttlebutzer», mit der sie vermeintlich «alte Traditionen» zur Disposition stellten, wäre die Basler Fasnacht heute möglicherweise zur beliebigen Folklore erstarrt. Ganz sicher wären die drei schönsten Tage im Basler Jahr aber weniger bunt als sie sich heute präsentieren. Allen, die etwas über die Dynamik der Fasnacht erfahren wollen, und allen, die an der kreativen Energie dieser Stadt Freude haben, sei ein Ausstellungsbesuch mit Nachdruck empfohlen.

Zur Ausstellung ist zum Preis von Fr. 7.65 eine Publikation in Form eines gefalteten Weltformat-Plakats erschienen, auf dessen Rückseite die ganze «Kuttlebutzer»-Geschichte von 1957 bis 1999 dargestellt ist. Zudem steht ein Inventar der Exponate zur Verfügung, das auch ihre Herkunft verzeichnet.

Illustration: Kuttlebutzer «Geisterzug» von 1965 ©Foto Rolf Jeck.

Vera Isler zeigt Künstler-Porträts im Museum Tinguely

Vera Isler begann ihre Karriere als professionelle Fotografin spät und autodidaktisch. Kein Zweifel, dass ihr Lebenserfahrung und kreative Unvoreingenommenheit zustatten kamen, als sie begann, Künstlerinnen und Künstler zu porträtieren Unter dem Titel «Face to Face II» zeugen vom 1. Februar bis 6. Mai 2012 im Museum Tinguely in Basel 54 hervorragende Beispiele von Islers erstaunlicher Fähigkeit, gleichzeitig mit Spontaneität und Aufgeschlossenheit auf fremde Menschen zuzugehen und respektvoll Distanz zu wahren. Ihre Begegnungen mit den Künstlerinnen und Künstlern im Atelier oder in einer Ausstellung, versichert Vera Isler, seien meist von kurzer Dauer gewesen. So blieb keine Zeit zum Posieren. Technisch verliess sich die Fotografin ausschliesslich auf ihre Kamera. Auf Hilfsmittel, welche die Begegnung hätten stören können, verzichtete sie, und Fremde waren beim Rendezvous erst recht nicht erwünscht. Der Blickwinkel war immer derselbe: Face to Face, von Angesicht zu Angesicht. Die fast lebensgrossen, durchwegs schwarz-weissen Porträts, die in der von Andres Pardey kuratierten Schau zu sehen sind, bestechen durch ihre Präsenz. Die dicht gereihte Hängung zwingt die Betrachtenden zur Konzentration auf den einzeln abgebildeten Menschen.
Zur Ausstellung, die 2011 auch im Museum der Moderne in Salzburg zu sehen war, erschien ein Katalog mit Texten von Jean-Christophe Ammann und Margit Zuckriegl. Vera Isler: Face to Face II. Weitra 2011 (Verlag Bibliothek der Provinz) 96 Seiten, CHF 22.00. Die polnischen Filmemacher Daria Kołacka und Piotr Dżumala porträtieren die Künstlerin in dem Film «Vera Isler – Einen Augenblitz, bitte». Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier.

«Fetisch Auto» im Museum Tinguely

Unter dem Titel «Fetisch Auto. ich fahre, also bin ich» ist Roland Wetzel, dem Direktor des Museums Tinguely in Basel, ein kleiner Geniestreich gelungen. Vom 8. Juni bis zum 9. Oktober 2011 präsentiert er in einer umfassenden Schau auf 1700 Quadratmetern alle künstlerisch relevanten Aspekte des Autowahns. Nicht weniger als 180 Werke von 80 Künstlerinnen und Künstlern demonstrieren den Fetischcharakter des motorisierten Untersatzes. Jean Tinguelys Auto-Obsession wird im Untergeschoss in einer eigens eingerichteten Abteilung zelebriert. Als Einstimmung zur Ausstellung wird eine Filmcollage angeboten, und vor dem Museum, im Solitude-Park, werden in einem improvisierten Drive-in-Kino bis am 9. September jeweils von Dienstag- bis Freitagabend Filme gezeigt, in denen Autos eine wichtige, wenn nicht die Hauptrolle spielen. Die Zuschauenden finden in 29 Autos Platz, die gemietet werden können. Noch wichtiger als das Freiluft-Kino ist der Katalog zur Ausstellung. Denn er zeigt und erläutert weit mehr als die ausgestellten Kunst-Stücke. Der 336 Seiten starke Band illustriert die ganze Geschichte der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Auto und präsentiert wichtige Essays zum Thema.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist hier zu lesen.

Under Destruction

Das kleine gelbe Plakat am Anfang der Ausstellung «Under Destruction» im Museum Tinguely (15. Oktober 2010 bis 23. Januar 2011) lässt keinen Zweifel: Die Besucher betreten gefährliches Terrain. Die Gefahr droht in erster Linie vom Boden, einer Gipskarton-Wüste der italienischen Künstlerin Monica Bonvicini mit hinterlistig angebrachten Fehlstellen. Zerstörerische Gewalt ist in der von Gianni Leiter des «Swiss Institute» in New York, Gianni Jetzer, und Chris Sharp sorgfältig kuratierten Schau, nur zum Teil ein Thema. Zerstörung wird von Künstlern heute offensichtlich weniger spektakulär und mit politischem Hintersinn dargestellt als noch in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Während Jean Tinguely damals nichts weniger als Weltuntergänge inszenierte, geht es heute um das Verschwindenlassen von Bleistiftzeichnungen per Radiergummi oder um Ausbleichen von Textilien mit einer Waschmaschine. Einer lässt Seifenblassen in Flammen aufgehen, ein anderer schickt maschninell geschmierte Konfitüren-Toasts in den Orkus abstürzen. Geschickt spielen die Ausstellungsmacher mit der Erwartungen der Besucher, indem sie ihnen zunächst bloss die sanfte Tour der Zerstörung vorführen, bevor sie es krachen lassen. Dabei darf es durchaus bedachtsam zugehen: Die hydraulische Kraft, die einen massiven Holzbalken zersprengt, wirkt langsam aber stetig; und der Crash zweier Luxusschlitten braucht Wochen, bis sie, Millimeter für Millimeter, zu Schrott gereift sind. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung steht hier.

Rüstungen und Roben

Einmal mehr bestätigt das Museum Tinguely in Basel seine führende Rolle als Ort kreativer Kunst-Inszenierung. Die Lust am hemmungslosen Entdecken und Ausprobieren, die Jean Tinguely und seine weitläufige Entourage auszeichnete, beflügelte einmal mehr auch Guido Magnaguagno, wenn er in der Ausstellung «Rüstung & Robe» (13. Mai bis 30 August 2009), seiner letzten als Direktor, prächtige Erzeugnisse des ausgestorbenen Handwerks der Plattnerei aus Zeughäusern in Graz, Wien und Solothurn als «hohe Schule des wehrhaften Harnischs» zelebriert und mit Abendroben von Roberto Capucci sowie Werken von Eva Aeppli und Niki de Saint Phalle konfrontiert. Selbstverständlich gehört auch Jean Tinguelys und Bernhard Luginbühls ARTillerie zur Schau. Auch ihre kriegerischen Inszenierungen des ewigen Geschlechterkampfs sind selbstverständlich präsent. Mehr...

Littmanns chinesischer Veloladen

1997 kaufte der Basler Kunst-Unternehmer Klaus Littmann auf Pekinger Strassen zehn dreirädrige Lasten-Fahrräder. 2008 erstand er – zum Teil unter bizarren Umständen – 24 weitere. Einen Teil dieser Tricycles – 18 im «Originalzustand», als eine Art Readymades, und 16 von Künstlern verfremdete – sind vom 11. Februar bis zum 19. April 2009
im Museum Tinguely in Basel ausgestellt. So spassig sich die Fahhrad-Parade neben Tinguelys Maschinen ausnimmt und so schnell sich die Erinnerung an Jean Tinguelys und seiner Freunde Umzug vom Atelier an der Pariser Impasse Ronsin zur «Galerie des 4 saisons» am 14. Mai 1960 einstellt: so wahnsinnig aufregend, wie die Schau angepriesen wird, ist sie nicht. Selbstverständlich machen diese urtümlichen Velos ohne ordentliche Bremsen und Gangschaltung einen exotischen Eindruck. Und, ja: Die eingeladenen Künstlerfreunde Klaus Littmanns haben sich alle Mühe gegeben, mit den Rädern etwas Originelles anzustellen. Richtig gut gelungen ist das allerdings nur in anderthalb Fällen. Halbwegs reüssierte Thomas Virnich – vor allem, weil er handwerklich brillierte: Er kaschierte sein Rad zuerst mit seidenstoff-überzogenem Papiermaché, schnitt die Form dann auf und platzierte den Zwilling kopfüber auf die Ladefläche, sodass nun eine hübsche Chinoiserie zu bewundern ist. Grossartig hat der in Basel lebende Amerikaner Michael Vessa auf sein Fahrrad reagiert. Er motzte das Klappergestell zu einem technisch voll ausgerüsteten, das moderne China perfekt symbolisierenden Gefährt auf und baute es mit viel Liebe zum Detail zu einer mobilen Rednertribüne um: es gibt ein Treppchen zur Plattform hinauf, ein ausklappbares Pültchen fürs Manuskript, Fahnen auf faltbarem Gestänge- insgesamt eine vollendete, aber ganz unaggressive Provokation und ein Aufruf zur Verteidigung der Redefreiheit. Im Gegensatz zu dieser herausragenden Arbeit verstanden viele der beteiligten Künstler die Velos lediglich als Podest oder allenfalls als Synonym für ein beliebiges Transportmittel. Reizvoll ist immerhin zu sehen, wie nah sich Originale und Kunst-Stücke im Einzelfall kommen. Das Garküchen-Motiv kommt zum Beispiel drei Mal vor: zwei Mal echt und einmal westlich nachempfunden. Zu hoffen ist, dass Klaus Littmann, der seine Fahrrad-Schau von Basel aus auf Tournee schicken und auf ihrem Weg noch ausbauen will, künftig noch mehr Künstlerinnen und Künstler findet, die sich wirklich intensiv auf die chinesischen Lastenräder einlassen wollen.

Bilder © Jürg Bürgi (oben), Nils Fisch (unten).

Sammelsurium mit Seele

Im Museum Tinguely in Basel macht der Zeichner und Verleger Ted Scapa von 4. Februar bis 19. April 2009 seine wuchernde Privatsammlung öffentlich zugänglich – grossformatige Druckgraphik neben afrikanischen Holzskulpturen, chinesische Tonstatuetten, Masken aus Neuguinea und Memorabilien von Jean Tinguely und weiteren Künstlerfreunden. Was Kunsthistoriker schockieren muss, ist für das weniger bedarfte Publikum eine Offenbarung: Da sammelte ein Künstler ein Leben lang alles, was ihm gefiel oder mehr oder weniger zufällig zufiel. Und er stapelte diese Sammelstücke, diese Trophäen und Trouvaillen in seiner Wohnung zu einem ganz individuellen, nur ihm und seinen Nächsten durchschaubaren Sammelsurium, ohne Rücksicht auf Konventionen, ohne Angst vor Beschädigung. Mehr...

Jürg Hasslers Schach-Spiele

Der Filmemacher und gelernte Bildhauer Jürg Hassler, 70, erfindet seit fünf Jahren das Schachspiel neu. Wie berühmte Künstler des 20. Jahrhunderts – Man Ray und Max Ernst zum Beispiel – gestaltet er neue Figuren, aber anders als den Vorgängern genügt ihm das nicht. Das flache Brett mit den 64 Feldern erscheint ihm als Kampfplatz allzu banal. Seine Figuren belagern und attackieren einander auf polierten Steinplatten ebenso wie auf einem Floss aus alten Eisenbahnschwellen; sie bevölkern stllisierte Stadtlandschaften oder eine Sandwüste. Den Ideen sind keine Grenzen gesetzt: Die Welt ist in Hasslers Augen ein Schach-Platz, ein Sch(l)ach(t)-Feld sozusagen; und wer sich zum Mitspielen animieren lässt, gestaltet es mit. Eine Besprechung dieser witzigen Ausstellung im Muesum Tinguely in Basel (22.10.2008 bis 18.1.2009) gibt es hier.