Niko Pirosmani in der Fondation Beyeler

Pirosmani klein
Niko Pirosmani (geboren als Nikolos Pirosmanaschwili, 1862-1918) ist ein Solitär in der Kunstgeschichte der Moderne. Über den Autodidakten, in einem kleinen Dorf in Kachetien, im äusserten Süden Georgiens geboren, gibt es nur wenige zuverlässige biografische Angaben. Gleichwohl wird er seit den 1920er-Jahren von vielen Malern der Avantgarde zugerechnet und in seiner georgischen Heimat als Nationalkünstler verehrt. Dem heutigen Publikum im Westen ist Pirosmani weitgehend unbekannt geblieben – obgleich zahlreiche seiner Werke 1969 in Paris, 1995 auch in Zürich und zuletzt 2019 in Wien im Kontext zeitgenössischen Kunstschaffens zu sehen waren. Das dänische Louisiana Museum für moderne Kunst in Humblebæk (im vergangenen Sommer) und die Fondation Beyeler in Riehen (vom 17. September 2023 bis 28. Januar 2024) unternehmen es nun, unterstützt vom Georgischen Nationalmuseum und dem georgischen Kulturministerium, die eigenartige Magie dieses Œuvres endlich auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. In Dänemark ist dies anscheinend gelungen: «Ein Knüller von einer Ausstellung!», schrieb die Wochenzeitung «Weekendavisen». «Pirosmani ist ein Geschenk an die Weltkunst.» Wie ein Rundgang durch die in neun Räumen von Gastkurator Daniel Baumann, dem Direktor der Zürcher Kunsthalle, inszenierte Ausstellung zeigt, trifft die Einschätzung der Kopenhagener Kollegen den Nagel auf den Kopf.
Niko_Pirosmani_Fisherman klein
Zu sehen sind in Riehen 49 Arbeiten, die mit Ölfarbe meist auf schwarzes Wachstuch oder Karton gemalt wurden. Da die meisten Werke nicht datiert sind, ist eine chronologische Abfolge, die Aufschluss über Schaffensperioden oder Motiv-Präferenzen geben könnte, nicht möglich. Typisch für Pirosmani ist seine Porträtkunst, wobei es keinen offensichtlichen Unterschied zwischen menschlichen und tierischen Modellen gibt. Sehr oft stammen sie aus dem Umfeld des Malers: Der Fischer, der Koch, der Hausmeister, die Amme, der Doktor auf seinem Esel, das Wildschwein, die Ziege, der Bär, der Hirsch. Menschen und Tiere treten uns nicht als einzigartige Individuen entgegen, sondern als Exempel ihrer Art. Die Figuren füllen den ganzen Bildraum aus. Für einige, wie die berühmte «Giraffe» scheint sogar der nötige Platz zu fehlen, weshalb sie mit einem kurzen Hals vorlieb nehmen muss. Ein Hintergrund ist meist nur angedeutet. Man kann sich vorstellen, dass solche Helgen als Schilder hätten dienen können, für ein «Gasthaus zum Eber» zum Beispiel oder für eine «Wirtschaft zum Hirschen», Tatsächlich hingen zahlreiche Bilder Pirosmanis in Tavernen und Gasthäusern – Auftragsarbeiten des zeitweise obdachlosen Künstlers im Tausch für Kost und Logis. Eine zweite Motivreihe ist als Erzählung konzipiert:
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Männer beim Trinkgelage, das «Fest des heiligen Georg in Bolnissi», das «Fest am Fluss Zcheniszkali», ein Personenzug an einer Haltestelle in Kachetien, auf der Fracht – mit Wein gefüllte Bälge und amphorenartige Tongefässe – auf- und abgeladen wird, oder (nicht in der Ausstellung zu sehen, aber im Katalog abgebildet) ein detailreiches «Gastmahl während der Weinlese». Vor allem die Festbilder enthalten zahlreiche kleine Szenen und erinnern so an Wimmelbilder, wie wir sie aus Kinderbüchern kennen. Eine dritte Kategorie von Arbeiten sind Stillleben, die möglicherweise das Angebot in Gastwirtschaften illustrierten. Von Niko Pirosmani ist eine einzige Fotografie aus dem Jahr 1916 überliefert. Wir sehen einen bärtigen, selbstbewusst in die Kamera blickenden Mitvierziger. Sechs Jahre zuvor waren der georgische Kunststudent Ilja Sdanewitsch und sein russischer Kommilitone Michail Le-Dantju im Tbilisser Wirtshaus «Waräger» auf Gemälde Pirosmanis gestossen: «Der Maler war Autodidakt, seine Technik und sein Verständnis von Malerei zeugten von Meisterschaft und eigenwilliger Methodik», erinnerte sich Iljas Bruder Kirill, der Pirosmani einige Wochen nach der Entdeckung auf der Strasse antraf. Kurze Zeit später publizierte Ilja Sdanewitsch in einer Lokalzeitung unter dem Titel «Ein autodidaktischer Maler» eine erste Hommage und rief dazu auf, den Künstler, der bei schlechter Gesundheit war, zu unterstützen. Auf seiner Rückreise zur Kunsthochschule in St. Petersburger traf Sdanewitsch in Moskau die russische Malerin Nataljia Gontscharowa (1881-1962) und ihren Freund Michail Larionow (1881-1964), die Anführer der russischen, als «Neoprimitivismus» und «Rayonismus» bezeichneten Avantgarde-Bewegung, und brachte ihnen Bilder Pirosmanis. Im März/April 1913 wurden sie, zusammen mit Arbeiten Marc Chagalls, Kazimir Malewitschs sowie Le-Dantjus in der epochemachenden Ausstellung «Zielscheibe» («Mischen») präsentiert. Damit hatte es sich. Niko Pirosmanis Kunst blieb – im Gegensatz zu den Werken der russischen Avantgarde – im Westen unentdeckt. Eine in Paris geplante Ausstellung fiel 1914 dem Kriegsbeginn zum Opfer. Und die Bemühungen, ihm wenigstens in Georgien den ihm gebührenden Platz in der Kunstszene einzuräumen, endeten in einer Blamage. Die neue gegründete Gesellschaft der georgischen Künstler nahm den Aussenseiter 1916 zu seiner grossen Freude in ihren Kreis auf. Man gab ihm zehn Rubel und liess
Fest des heiligen Georg in Bolnissi
ihn vom Fotografen Eduard Klar ablichten. Im Gegenzug präsentierte er den Kollegen sein Bild «Georgische Hochzeit in alten Zeiten». Beides zusammen, Foto und Gemälde, wurden in der Zeitung «Sachalcho purzeli» mit dem Bildtext: «Der Volksmaler Niko Pirosmanaschwili» publiziert. Die Glücksblase platzte, als der so Geehrte kurze Zeit später in der illustrierten Beilage derselben Zeitung eine Karikatur von sich entdeckte: Barfüssig und in abgerissener Kleidung war darauf ein Künstler mit Palette und Pinsel zu sehen, der gerade dabei war, die «Giraffe» zu malen. Ein bürgerlich gekleideter Mann stand daneben und gab dem Maler Anweisungen: «Du musst lernen, mein Freund. In deinem Alter kann einer noch einiges schaffen…» Beleidigt brach Pirosmani alle Kontakte zur Künstlergesellschaft ab und bezog ein anderes Wohnquartier. Kollegen, die ihm helfen wollten, hatten die grösste Mühe, ihn ausfindig zu machen. Er lebte praktisch auf der Strasse, war krank, depressiv und verwirrt. Er starb in der Osternacht 1918. Wo er begraben wurde, ist unbekannt. Was von ihm geblieben ist, sind seine Bilder, zahlreiche Legenden und ein Nachruhm als Nationalkünstler, dessen Porträt und das Bild eines Rehs bis 2006 die Ein-Lari-Banknote zierte. Die Ausstellungen in Dänemark und der Schweiz werden das Interesse an Pirosmanis Kunst mit Sicherheit weiter stärken. Als überaus erfreulicher Nebeneffekt ermöglichten sie die Restauration der ausgestellten Gemälde. Zudem entstand ein Katalog mit zahlreichen kenntnisreichen Aufsätzen, die den aktuellen Stand der Pirosmani-Forschung dokumentieren.

S. Keller und D. Baumann (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Niko Pirosmani. Berlin 2023 (Haje Cantz Verlag), 208 Seiten, CHF 62.50/€ 58.00.

Illustrationen: Porträt des Fotografen Eduard Klar. © Infinart Foundation/George Chubinashvili National Research Centre for Georgian Art History and Heritage Preservation. (Es ist zweifelhaft, ob dies tatsächlich das einzige Konterfei Pirosmanis ist. Der Wikipedia-Text
https://de.wikipedia.org/wiki/Niko_Pirosmani zeigt das Bild eines bartlosen, jüngeren Mannes.) «Fischer», «Giraffe», «Fest des heiligen Georg in Bolnissi» (Foto aus der Ausstellung) © Infinitart Foundation.

Roni Horn in der Fondation Beyeler

In sechs Räumen zeigt die Fondation Beyeler in Riehen vom 2. Oktober 2016 bis zum 1. Januar 2017 an beispielhaften Arbeiten aus den letzten 20 Jahren das Werk der amerikanischen Künstlerin Roni Horn. 1955 in New York geboren, wuchs sie im Rockland County, im südlichsten Zipfel des Staates New York auf. Ihr Kunststudium an der Rhode Island School of Design schloss sie 1975 mit dem Bachelor ab, bevor sie an der Yale University in New Haven ihr Master-Studium mit Schwerpunkt Skulptur aufnahm, reiste sie 1975 als 20-jährige zum ersten Mal nach Island. Diese Reise und zahlreiche weitere Aufenthalte auf der Vulkaninsel im Nordatlantik waren prägend für Horns künstlerische Entwicklung. Roni Horn ist ungeachtet ihrer Ausbildung zur plastischen Künstlerin in erster Linie Zeichnerin. Dabei benutzt sie den Zeichenstift nicht nur als künstlerisches Werkzeug, sondern auch als Werkzeug
Th Rose Prblm
der Selbstvergewisserung. Das Zeichnen ermöglicht ihr, neue Ideen auszuprobieren, bevor sie sie dann umsetzt – zum Beispiel als eine Art Collage – wie die imposante Galerie von zehn abstrakten Bildern in der Ausstellung zeigen. Ausgangsmaterial sind bei allen mehrere ähnliche Zeichnungen, die dann sorgfältig mit dem Messer zerschnitten und neu zu einem Grossformat zusammengesetzt wurden. Eröffnet wird die Schau aber durch die Foto-Installation «a.k.a.» von 2008/09, eine Sammlung von 30 paarweise präsentierten Porträts der Künstlerin als Kind, Jugendliche und Erwachsene. Da die Bilder nicht chronologisch geordnet sind, bleibt immer ein Rest an Zweifel, ob es sich auf den Fotos immer um die gleiche Person handelt. Besonders beeindruckend fanden wir die neusten Papierarbeiten, die unter dem Titel «Th Rose Prblm» auf vielfältige Weise und in grosser Farbigkeit an Gertrude Steins (1874-1946) meistzitierte Gedichtzeile «Rose is a rose is a rose is a rose» erinnern – und wohl auch als Hommage an die Mutter aller Avantgardisten gedacht. Horn weitet Steins Vorgabe aus, indem sie weitere Redewendungen verwendet, in denen das Wort «Rose» vorkommt. Der Titel, dem sie, wie im Hebräischen, die Vokale bis auf das O in der Rose entzieht, ist ein zusätzliches Aperçu. Im dritten Raum zeigt Kuratorin Theodora Vischer, welche die Schau in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin gestaltete, 15 grossformatige Fotografien des Wassers der Themse. «Still Water (The River Thames, for Example)» entstand 1999. Unterhalb der Bilder platzierte Fussnoten fordern die Betrachtenden auf, nicht nur zu schauen, sondern auch nachzudenken: «Is water sexy?» wird da etwa gefragt, oder es werden Anekdoten über Vorkommnisse in und an der Themse zitiert – alles in einem Tonfall, als ob man einem Selbstgespräch der Künstlerin zuhören würde. Der grösste Raum der Ausstellung ist drei zylindrischen Glasskulpturen-Paaren mit dem Titel «Water-Double» vorbehalten.
Water Double
Die viele Tonnen schweren Gebilde sind alle gleich gross, aber von verschiedener Farbe. Sie wirken mächtig durch ihre Masse und vermitteln paradoxerweise gleichzeitig den Eindruck von Zerbrechlichkeit – weil wir Glas spontan als fragil erleben. Von allen Exponaten lässt sich bei dieser Arbeit am ehesten die Inspiration durch die isländische, von Wasser, Eis und Vulkanasche geprägte Landschaft vorstellen. An den Schluss der Schau haben die Ausstellungsmacherinnen eine zweite, ganz neue und erstmals gezeigte Porträtarbeit gestellt. Der Raum präsentiert 67 einzelne, in Gruppen arrangierte Fotografien von Objekten, die Roni Horn zwischen 1974 und 2015 zum Geschenk gemacht wurden. Es sind Bücher darunter, aber auch ein Liebesbrief, das versteinerte Ei eines Dinosauriers oder ein ausgestopfter Schwan. In der Summe, ist die Künstlerin überzeugt, lässt sich dieses Inventar von Geschenken und Mitbringseln auch als Selbstporträt lesen.

Im Verlauf der Ausstellung erscheint eine Broschüre mit einem Gespräch Theodora Vischers mit der Künstlerin und Installationsaufnahmen der Ausstellung. Zudem steht ein Heft mit Saaltexten zur Verfügung.

Illustrationen: Oben: «Th Rose Prblm» (2015/2016), unten: «Water Double, v 1-v. 3 (2013-2016). Fotos aus der Ausstellung © Jürg Bürgi, Basel.