«Écrits d’Art Brut – Wilde Worte und Denkweisen» im Museum Tinguely

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Vom 20. Oktober 2021 bis 23. Januar 2022 zeigt das Museum Tinguely in Basel, kuratiert von Lucienne Peiry, unter dem Titel «Écrits d’Art Brut – Wilde Worte und Denkweisen» Werke von 13 Künstlerinnen und Künstlern aus Europa und Übersee, die ihre Kreativität frei vom Wunsch nach Öffentlichkeit und ausserhalb von Normen und Konventionen entfalteten. Die Exponate – Zeichnungen, Malereien auf Mauern und auf grobem Gewebe, kostümartige Kleidungsstücke –
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verbindet der Drang zum Schreiben und zur Beschriftung. Neben dem in der Schweiz besonders berühmten Adolf Wölfli (1864-1930), der den grössten Teil seines Lebens in der Berner Psychiatrischen Klinik Waldau verbrachte und seine Visionen nicht nur in Schrift und Bild, sondern auch in Kompositionen festhielt, konzentrierten sich der Brasilianer Arthur Bispo de Rosario, dessen Werke erstmals in der Schweiz zu sehen sind, und auch Giovanni Battista Podestà auf Bild und Schrift. Gemeinsam war den drei die Faszination für sprachliche Neuschöpfungen und die Anordnung von Wörtern und Sätzen in labyrinthischen Figurationen. Jean Tinguely fühlte sich besonders dem Werk von Giovanni Battista Podestà angezogen.
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Es ist deshalb keine Überraschung, wenn man sich beim Betrachten des verkleideten Podestà an eines von Tinguelys Kuttlebutzer-Kostüme erinnert. Der Schweizer Pascal Vonlanthen ist der einzige noch lebende Künstler, von dem Werke in der Ausstellung zu sehen sind. Vonlanthen, 1957 in Fribourg geboren, macht sich aus Schriftlichem, das ihm, dem Analphabeten, als Schrift-Bild entgegen tritt, ein eigenes Bild.
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Als Vorlagen wählt er oft Zeitungen und andere frei zugängliche Druckerzeugnisse und gibt ihnen beim Abschreiben mit Filzstift, Bleistift oder Farbstift eine eigene, neue Form. Ein Film, der bei den Vorbereitungen zur Ausstellung entstand, gibt Einblick in Vonlanthens Schaffen. Auch von ihm präsentiert die Kuratorin einige Zeichnungen erstmals in der Schweiz. Speziell für die aktuelle Ausstellung rekonstruierte die Künstlerin Mali Genest aufgrund von zwei Fotografien aus dem Jahr 1894 ein seither zerstörtes Werk von Marie Lieb (1844-1917). Weitere Exponate stammen von Fernando Nannetti, Giovanni Bosco, Laure Pigeon, Armand Schulthess,
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Constance Schwartzlin-Berberat, Charles Steffen und Carlo Zinelli. Überdies dokumentieren kurze Filme die Lebensumstände, in denen die verstorbenen Künstlerinnen und Künstler ihre Werke schufen: Die psychiatrischen Kliniken und ihr Personal, in denen die meisten ihr Leben fristeten, waren nur in Ausnahmefällen in der Lage, das kreative Potenzial ihrer Patientinnen und Patienten zu ermessen und sie über das Allernotwendigste hinaus zu unterstützen. In der Kunstwelt war es Jean Dubuffet, der 1945 anlässlich der Begegnung mit Werken von Wölfli und Müller den Begriff des Art Brut, der «rohen Kunst» prägte und den Wert dieser ungezügelten kreativen Kraft erkannte. Besonders die im Museum Tinguely die versammelten Werke, die formal und inhaltlich dem Schriftlichen verpflichtet sind, belegen die – im surrealistischen Sinn «automatische» – Gestaltungsmacht der von keinen Konventionen eingeschränkten menschlichen Phantasie.

Zur Ausstellung erscheint eine Publikation in französischer Sprache.
Peiry, Lucienne: Écrits d’art brut. Graphomanes extravagants. Paris 2020 (Le Seuil), 288 Seiten, € 31.00.

Illustrationen von oben: Giovanni Bosco (Wandmalerei in Casellamare del Golfo (Sizilien), 2008., Arthur Bispo Rosário (Manto de apresentação, Ausschnitt, Bild aus der Ausstellung © Jürg Bürgi 2021); Pascal Vonlanthen (SWISSClou, 2019); Giovanni Battista Podestà (Der Künstler im Kostüm, Bild aus der Ausstellung © Jürg Bürgi 2021); Adolf Wölfli (Santta-Maria-Burg= Riesen-Traube: 100 Unitif Zohrn Tonnen schwer,1916).

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung unter Berücksichtigung des Katalogs ist geplant.

Jean Dubuffet in der Fondation Beyeler

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«Ich finde, Porträts und Landschaften müssen einander ähneln», schrieb Jean Dubuffet (1901-1985), «das ist mehr oder weniger dasselbe.» Mit dem Titel «Metamorphosen der Landschaft» nimmt Raphaël Bouvier den grossen Anreger der modernen Kunst und Erfinder der «Art brut» beim Wort. Mit rund 100 Werken aus allen künstlerischen Schaffensphasen, von den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis zu seinem Tod, belegt die grosse Retrospektive, die vom 31. Januar bis zum 8. Mai 2016 in der Fondation Beyeler in Riehen zu sehen ist, wie sehr Dubuffets Bilder – egal, ob sie als Köpfe, Körper, Äcker oder urbane Häuser-Haufen in Erscheinung treten – immer als Landschaften zu lesen sind. Die imposante Ausstellung demonstriert zudem, wie sich im Lauf der Zeit seine Farbskala veränderte: Auf Bilder mit lauten Farben folgten Gemälde, auf denen erdige und dunkle Töne dominierten, bevor in den 1960er- und 1970er-Jahren, der für Dubuffet zum Markenzeichen gewordene Hourloupe-Zyklus mit einer trikoloren Palette und schwarz umrandeten Farbflächen folgte. Sie prägt auch den Höhepunkt der Schau in Riehen: Im grössten Ausstellungssaal sind 60 Elemente des riesigen Gesamtkunstwerks «Coucou Basar» zu sehen, das als «animiertes Gemälde» aus Kulissen-Teilen und kostümierten Figuren bestand und Malerei, Skulptur, Theater, Tanz und Musik zu einem grandiosen Spektakel vereint. Die beiden einzigen Kostümfiguren, die aus konservatorischen Gründen noch verwendet werden dürfen, haben während der Ausstellung zweimal wöchentlich – mittwochs um 15.00 und 17.00 Uhr, sowie sonntags um 14.00 und 16.00 Uhr – einen Auftritt. Dubuffet verdankt seinen Ruf als einer der ganz grossen Anreger der Avantgarde aber nicht bloss der Vielfalt seines künstlerischen Schaffens, sondern vor allem seiner ganz vorurteilsfreien Verwendung von naturgegebenem Material. Baumrinde, Laub und Schmetterlingsflügel collagierte er zu einzigartigen Gemälden und aus bemalten Schwämmen konstruierte er kleine Plastiken. Auf seinen Leinwänden spachtelte er die Farbe zu skulpturalen Haufen, er klebte, kratzte und schabte. Bis in die Mitte seiner Jahre schwankte der vielseitig begabte Jean Dubuffet, Sohn einer begüterten Weinhändler-Familie aus Le Havre, zwischen Lebensentwürfen als Künstler und Kaufmann. Seit einer Reise in die Schweiz, kurz nach Kriegsende war, er von der kreativen Kraft psychisch Kranker fasziniert. Er fand dafür die Bezeichnung «Art brut», um damit die Spontaneität und Ursprünglichkeit ihrer Arbeiten deutlich zu machen. «Die wahre Kunst», äusserte er einmal «ist immer da, wo man sie nicht erwartet.» Das Wilde, Anarchische zog ihn an. Zeitweise pflegte er enge Kontakte zu den Surrealisten. Sein grösster Held in der Literatur war der Arzt und Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline (1894-1961), der sich seit dem Ende der 1930er-Jahre als hemmungsloser Antisemit äusserte und sich noch kurz vor Kriegsende in Deutschland der Wehrmacht als Truppenarzt andiente. Der Verehrung Dubuffets tat dies keinen Abbruch. Gleichzeitig war er eng mit der grauen Eminenz des Literaturbetriebs, Jean Paulhan, befreundet, der während der Okkupation für die «Résistance littéraire» arbeitete – aber auch von intensiven Kontakten zu Kollaborateuren profitierte. In der Ausstellung sind diese Verwicklungen kein Thema; aber es ist sicher nützlich sie beim Betrachten von Dubuffets fulminantem Kunst-Universum mit zu bedenken. Zur Ausstellung erschien ein sehr sorgfältig gestalteter Katalog mit kenntnisreichen Texten. Das Museum bietet während der Ausstellung zudem ein reichhaltiges Begleitprogramm an. Besonders hervorzuheben sind die Bemühungen um junge Besucherinnen und Besucher, die bei zahlreichen Gelegenheiten freien Eintritt geniessen.

Raphaël Bouvier (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Jean Dubuffet – Metamorphosen der Landschaft. Riehen/Ostfildern (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag) 232 Seiten, € 58.00/CHF 62.50.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs findet sich
hier.

Illustration: Kostümierte Figur aus «Coucou Bazar». © Bild Jürg Bürgi, 2016