Vitra Design Museum

«Here We Are!»: Design von Frauen im Vitra Design Museum

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Das Vitra-Museum in Weil am Rhein zeigt vom 23. September 2021 bis zum 6. März 2022 unter dem Titel «Here we Are! Frauen im Design 1900 - heute» in vier chronologisch geordneten Kapiteln den grossen Einfluss von kreativen Frauen auf die Entwicklung der Gestaltung von Möbeln, Textilien, Geschirr, Schmuck, aber auch von Plakaten. Zu sehen sind Werke berühmter Designerinnen wie die Irin Eileen Gray (1878-1976) oder Charlotte Perriand (1903-1999), die zehn Jahre lang als Mitarbeiterin des Architekten Le Corbusier und seines Coucousins Pierre Jeanneret für fast alle Möbel-Entwürfe des Ateliers verantwortlich zeichnete, oder Lilly Reich (1885-1947), die mit Ludwig Mies van der Rohe unter anderem grossen Anteil an der Gestaltung des deutschen «Barcelona-Pavillons» an der Weltausstellung 1929 und 1930 an der Innenausstattung der Brünner Villa Tugendhat hatte, einem der Hauptwerke des Architekten.

Carlotte Perriand 1929 klein
Im ersten Raum, der die Geschichte von 1900 bis 1930 unter dem Titel «Reform und Revolution» darstellt, wird deutlich, wie gross die Anstrengungen der Frauen, aller fortschrittlichen Frauen, waren, die ihnen die Ausbildung (nicht nur) in kreativen Berufen gestatteten. War der Kampf um Gleichberechtigung vor dem Ersten Weltkrieg noch mühsam, wurden die Beiträge von Frauen, vor allem in den Milieus der künstlerischen Avantgarde am Ende und nach der Kriegszeit, zunehmend geschätzt. Dass aus dem Weimarer und Dessauer Bauhaus, das Frauen und Männer gleichberechtigt aufnahm, zahlreiche Anekdoten überliefert sind, in denen die Studentinnen nach dem Vorkurs fast automatisch der Textilwerkstatt zugewiesen wurden, ist kein Widerspruch. Oft waren es die Frauen selbst, die sich dies wünschten, andere wechselten im Lauf der Zeit in ein anderes Fach und entwarfen Möbel, Spielzeug, Lampen oder Geschirr.

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Der zweite Raum der Ausstellung ist – zeitlich überlappend den «Pionierinnen der Moderne 1920-1950» gewidmet. Hier sind zum Beispiel die ikonischen Entwürfe von Charlotte Perriand zu sehen, und hier wird auch vermerkt, dass Designerinnen nicht als Originalgenies gewürdigt werden sollen, sondern als Teamplayerinnen, die ihre Projekte oft mit ihren Partnern und mit weiteren Mitarbeitenden zum Erfolg brachten. Es ist den Kuratorinnen der Ausstellung – Viviane Stappmanns, Nina Steinmüller und Susanne Graner – hoch anzurechnen, dass sie diesen Aspekt der Designgeschichte besonders betonen und deutlich machen, dass es kein Makel, sondern im Gegenteil ein Beleg für ihre Eigenständigkeit und ihr Selbstbewusstsein ist, wenn Frauen partnerschaftlich mit Männern zusammenarbeiten.

Der dritte Raum widerspiegelt unter dem Titel «In Bewegung 1950-1990» die Dynamik der Nachkriegsjahre, die auch der Kreativität von Gestalterinnen neue Möglichkeiten eröffnete. Die zentrale Botschaft dieses dritten Ausstellungsteils ist die Überwindung des traditionellen Frauenbilds. Wie langsam dies geschah, wird am Beispiel der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit SAFFA 1958 in Zürich vorgeführt. Ihre Vorgängerin, 1928 in Bern, sollte die politische Emanzipation der Schweizer Frauen voranbringen. Dreissig Jahre später ging es um die Würdigung und Förderung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leistung der Frauen. Dass dies in einer irgendwie verklemmten Form geschah, indem ein überaus konservatives Frauenbild präsentiert wurde, das alle Klischees einer bürgerlichen Frauenexistenz bediente.
Plakat SAFFA-1958 klein
Das ist nur im Rückblick verwunderlich. Mitten im Kalten Krieg, als es darum ging, einem sozialistisch, von in «Männerberufen» malochenden Frauen – nicht zuletzt unter dem Einfluss amerikanischer Konsumwerbung – eine Alternative entgegen zu setzen: Aus Hausfrauen sollten Damen werden, die es nicht nötig hatten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen und sich auf ihre Rolle als Hüterinnen des gepflegten Eigenheims konzentrierten, denen zahlreiche Apparate und Geräte – Kühlschrank, Elektroherd, Waschmaschine, Staubsauger – zur Verfügung standen, die sie von der jeder mühseligen Plackerei entlasteten. Paradoxerweise ermöglichte dieser Trend Frauen auch überraschende Karrieren. Die Ausstellungsmacherinnen stellen in diesem Kontext in unter anderen Brownie Wise (1913-1992) vor, die das Vertriebssystem der «Tupperware» mit Nachbarschaftspartys erfand, und die, ebenfalls kaum bekannte, britische Designerin Enid Seeney (1931-2011), welche die Dekors für das in den 1950er- und 1960er Jahren in Grossbritannien überaus populäre Keramik-Geschirr «Homemaker» entwarf.

Gleichzeitig, auf der andern Seite des Eisernen Vorhangs, gestaltete die russische Architektin Galina Balaschowa (geb. 1931) ab 1963 die Innenräume der sowjetischen Orbitmodule von vier verschiedenen Sojus-Modellen, später von mehreren Raumstationen und der Raumfähre Buran. Sie übernahm auch das Design von Medaillen und Emblemen. In einem Interview mit der beratenden Kuratorin Aljona Sokolnikowa, das im Programm zur Ausstellung abgedruckt ist, betont die Gestalterin, dass sie bei ihrer Arbeit künstlerisch immer frei arbeiten konnte, wohl auch, weil ihrer Ansicht nach «in all den Jahren nie jemand wirklich begriff, was ich da eigentlich
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machte.» Zwei wesentliche Dinge seien es, die zu berücksichtigen seine, wenn man Räume für die Schwerelosigkeit entwerfe: «Ersten verwendete ich immer erdige Farben, um einen deutlichen Kontrast zwischen dem dunkleren , grünen Boden und der helleren, blassgelben Decke zu erzielen und so die Orientierung im Raum zu erleichtern. zweitens erfand ich ein innovatives System mit Klettverschlüssen, mit dessen Hilfe die Kosmonauten umstandslos kleine Gegenstände fixieren konnten, die sonst in der Kapsel herumschweben würden.»

Im vierten Kapitel entfaltet sich ein Panorama der gegenwärtigen Designerinnen-Szene. Die Gestalterinnen führen ihre eigenen Studios und arbeiten als Entwerferinnen unter ihrem eigenen Namen. Die Vorstellung, dass gestalterische Begabung oder Kreativität etwas mit dem Geschlecht zu tun haben, sei zwar längst überwunden, heisst es im Saaltext, aber Ungleichheiten seien weiterhin vorhanden, wie der zeitgenössische feministische Diskurs belege. Das ist allerdings ein weites Feld, und es scheint, dass sich die Ausstellungsmacherinnen versuchten, einer eindeutigen Stellungnahme zu entziehen, indem sie einzelne Standpunkte nebeneinander stellten. Interessanter ist die Weitung des Blicks weg von der eurozentrischen Sichtweise, hin auf die Design-Traditionen und neue Entwicklungen in Afrika und anderswo.

Insgesamt bietet die Ausstellung «Here We Are! – Frauen im Design 1900 - heute» eine überaus facettenreiche Fülle von Anschauungsmaterial von rund 80 Gestalterinnen. Es ist sehr zu bedauern, dass es keine Publikation gibt, die diese Fülle festhalten, begründen und einordnen könnte.

Illustrationen: Key Visual der Ausstellung »Here We Are!« © Vitra Design Museum, Illustration: Judith Brugger, Objekt: Faye Toogood, Roly Poly, 2018, Foto: Andreas Sütterlin; Charlotte Perriand auf der Chaise longue basculante, 1929, Perriand und Jeanneret © VG Bild-Kunst. Bonn 2021, Le Corbusier: F.L.C./ VG Bild-Kunst, Bonn 2021; Ray Eames bei der Arbeit an einem Modell, 1950, © Eames Office LLC; Plakat für die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit, SAFFA, Zürich, 1958, Gestaltung: Nelly Rudin Plakatsammlung Schule für Gestaltung Basel, Copyright für Nelly Rudin: © VG Bild-Kunst, Bonn 2021; Galina Balaschowa, Skizze des Innenraums des orbitalen (Wohn-)Abteils des Sojus-Raumschiffs. Variante 1, 1963, © Kosmonautenmuseum, Moskau

100 Jahre, 20 visionäre Interieurs im Vitra Design Museum

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An 20 beispielhaften Interieurs zeigt Kurator Jochen Eisenbrand vom 8. Februar 2020 bis 28. Februar 2021 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein wie sich in den letzten hundert Jahren die Wohnformen in den westlichen Industrieländern verändert haben. Nicht als Stilgeschichte, sondern als Ideengeschichte soll die überaus anregend gestaltete Ausstellung verstanden werden. Sie beginnt im Erdgeschoss mit Beispielen aus der Gegenwart, in der die Welt der Arbeit und die Welt des Wohnens nicht mehr streng getrennt sind, und der verfügbare Wohnraum knapp und deshalb teuer ist. Kein anderes Unternehmen hat die zeitgenössische Wohnwelt so stark geprägt wie IKEA. Seit 1951 wirkt der Katalog des schwedischen Einrichtungshauses, von dem inzwischen jedes Jahr 200 Millionen Exemplare gedruckt werden, in 52 Ländern bei der Inneneinrichtung mit. Mit ihren preiswerten Produkten, so ein Text in der Ausstellung, löst IKEA «das Versprechen der Avantgarde der Moderne ein, gut gestaltete Produkte für die Massen verfügbar zu machen». Diese lobenswerte Demokratisierung wurde nicht zuletzt durch tiefe Preise erreicht, was die Möbel zum blossen Konsumgut machte, das spontan gekauft und ebenso spontan ersetzt werden kann. Weitere Beispiele im ersten Ausstellungsbereich befassen sich mit dem faszinierenden Versuch eines spanischen Gestalter-Teams, auf 33 Quadratmetern eine Familienwohnung einzurichten, und mit zwei grundverschiedenen Konzepten, alte, nicht oder nicht mehr zum Wohnen geeignete Bauten neu zu nutzen.

Im zweiten Saal, der an fünf exemplarischen Interieurs den gesellschaftlichen Aufbruch seit den 1960er-Jahre vorführt, dominiert auf den ersten Blick die Kollektion des avantgardistischen Mailänder Designkollektivs Memphis, die der Modeschöpfer Karl Lagerfeld in seiner Wohnung in Monte Carlo von der Innenarchitektin Andrée Putman arrangieren liess. Die dreiste Farbigkeit der geometrischen Elemente und die an einen Boxring erinnernde Sitzlandschaft wirken wie eine dadaistische Provokation, ihr Gebrauchswert ist allerdings gering. Kein Wunder, liess Lagerfeld das Ensemble nach wenigen Jahren versteigern. Bis heute in Gebrauch ist hingegen das bereits in den ersten 1970er-Jahren vom japanischen Architekten Kisho Kurakawa errichtete Kapsel-Hotel in Tokio. Die einheitlich acht Quadratmeter grossen und 2,3 Meter hohen Zellen sind komplett eingerichtet. Beispielhaft für die Zeit – und darüber hinaus – war auch Andy Warhols «Silver Factory». Gebäude im New Yorker Stadtteil SoHo, die als Werk- und Lagerhallen ausgedient hatten, nutzten Künstler als Ateliers. Der exzentrische Andy Warhol liess 1964 eine ehemalige Hutfabrik an der East 47th Street komplett mit Silberfolie auskleiden und nutzte den weitläufigen Raum nicht nur zum Arbeiten, sondern auch zum Wohnen und als Treffpunkt für seine bizarre Gefolgschaft.
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In Verbindung mit der genialen Vermarktung seines Lebensstils machte Warhol das Leben im Loft zum Hype. Weniger ein reales neuartiges Wohngefühl als vielmehr eine beispielgebende Ästhetik jener Zeit vermittelt die höhlenartige Wohnlandschaft «Phantasy Landscape», die der dänische Designer Verner Panton 1970 im Auftrag des Chemiekonzerns Bayer für die Kölner Wohnausstellung «Visiona 2» entworfen hat. Ein Nachbau des bunten Interieurs, das alle traditionellen Vorstellungen einer Wohnung über den Haufen warf, steht während der Ausstellung im Feuerwehrhaus.
Die im Saal 3 unter dem Rubrum «Natur und Technik» versammelten Wohnmodelle der 1950er-Jahre führen uns in die Welt des grenzenlosen Fortschrittsglaubens: Ernstgemeint und unkritisch im «House of the Future» der «Ideal Home Exhibition» in London 1956, witzig veralbert in Jacques Tatis Film «Mon Oncle» über die voll automatisierte «Villa Arpel». Andere Konzepte, Innen und Aussen, Interieur und Natur zu verbinden, wirkten weit nachhaltiger. Am radikalsten ging Bernard Rudofsky (1905-1988) in seinem Wohngarten für den Bildhauer Costantino Nivola vor, in dem er freistehende Wände und – als Wohnraum – eine Pergola aufstellte, die im Sommer von Glyzinien überwuchert war. Weniger radikal versuchte die brasilianische Architektin Lina Bo Bardi 1953 ihre «Casa de Vidro» in die «natürliche Ordnung» einzufügen, indem sie die Fenster bis zum Fussboden zog und damit die Natur ins Haus holte.

Einzigartig war das allerdings nicht, wie im vierten Raum augenfällig wird, wo Ludwig Mies van der Rohes (1886-1969) Brünner «Villa Tugendhat» präsentiert wird. Als der letzte Direktor des Bauhauses 1928 den Auftrag für den Bau erhielt, erfüllte sich der Traum jedes Architekten: Das Hang-Grundstück in einem Villenquartier der mährischen Hauptstadt war riesig, die Begeisterung der Auftraggeber für seine Ideen fast grenzenlos, und ihre finanziellen Ressourcen ebenso. Das machte es möglich, dass Mies nicht nur konstruktiv Neuland betreten konnte, indem er als Tragkonstruktion ein Stahlskelett wählte, sodass den Wänden keine statische Funktion mehr zukam. So konnte er zum Park hin vom Boden bis zur Decke Glasfronten einbauen, die zudem versenkbar waren, sodass die dahinter liegenden Räume im Sommer zu einer Art Balkon werden konnten. Die Errungenschaften der
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Villa Tugendhat, von der Raumaufteilung bis zur vorwiegend speziell entworfenen Inneneinrichtung und bis zu der, auch nach heutigen ökologischen Massstäben, modernen Zentralheizung haben ihre Vorbildfunktion bis heute nicht verloren. Während die gleich nebenan präsentierte Prager «Villa Müller», die der Wiener Architekt Adolf Loos in der gleichen Zeit entwarf ebenso wie die zusammen mit der Wiener «Villa Beer» von Josef Frank und Oskar Wlach ihren Nachruhm vor allem der neuartigen Aufteilung der Räume verdanken, ist die Villa Tugendhat, nach einer bewegten Nutzungsgeschichte seit 2012 in sorgfältig restauriertem Zustand der Öffentlichkeit zugänglich – ebenso wie die «Villa Müller» in Prag).

Besonders interessant an der aktuellen Ausstellung des Vitra Design Museums sind die Querbezüge, die über die Zeitspanne von hundert Jahren sichtbar werden. Es gibt Wohnwelten, die von 1920 bis heute allgemein als zeitgenössisch akzeptiert sind, und andere, die höchstens individuell als wertvoll gelten. Kritisch ist anzumerken, dass das gleichwertige Nebeneinander der beiden Konzepte – der von Wenigen als lebenswert empfundenen Wohnwelten und den von Vielen allgemein anerkannten Prinzipien – einen Eindruck von Beliebigkeit vermittelt, als hätten die Ausstellungsmacher selten gezeigte Stücke aus der Sammlung wieder einmal herzeigen wollen. Der Katalog, der ein viel breiteres Spektrum von beispielhaften Interieurs abdeckt, ist geeignet, diesen Eindruck zu korrigieren.

Die Ausstellung wird begleitet von einer Fülle von Führungen, Vorträgen, Workshops und Diskussionen. Das Programm steht auf der Website des Museums und
hier zur Verfügung.

Den Katalog zur Ausstellung gibt es in einer deutschen und einer englischen Version.

Kries, M., Eisenbrand, J. (Hrsg.): Home Stories. 100 Jahre, 20 visionäre Interieurs.
Mit Beiträgen von Jochen Eisenbrand, Joseph Grima, Anna-Mea Hoffmann, Jasper Morrison, Matteo Pirola, Alice Rawsthorn, Timothy Rohan, Penny Sparke, Adam Štěch, and Mark Taylor; Interviews mit Nacho Alegre, Charlap Hyman & Herrero, Ilse Crawford, Sevil Peach u.a.
Weil am Rhein 2020 (Vitra Design Museum), 320 Seiten, €59.90.

Illustrationen: Oben: Ausstellungssignet (Casa de Video), Mitte: Verner Panton, Phantasy Landscape. Unten: Villa Tugendhat, Gartenfront. Foto © Jürg Bürgi, Basel 2020.

Victor J. Papanek: The Politics of Design

Er war einer der bedeutendsten und einflussreichsten Designer und Design-Theoretiker des 20. Jahrhunderts: Victor J. Papanek (1923-1998), geboren in Wien und geschult in England, emigrierte 1939 nach dem Anschluss Österreichs mit seiner verwitweten Mutter in die USA. Seit 1946 amerikanischer Staatsbürger, studierte er – unter anderem bei Franz Lloyd Wright – Architektur und erwarb 1950 sein Bachelor-Diplom an der privaten Cooper Union for the Advancement of Science and Art in New York.
Papanek
Fünf Jahre später folgte das Master-Diplom am Massachusetts Institute of Technology. Nach der Ausbildung begann Papanek eine klassische Laufbahn als Industriedesigner im Atelier des «Stromlinien-Gurus» (Alison Clarke in ihrem Katalogbeitrag) Raymond Loewy. Doch bald gab es Krach, als Papanek vorschlug, die traditionellen japanischen Sandalen in einer besonders dicken Sohle als Plateau-Schuh zu gestalten, der es besonders kleinen Menschen – wie seiner Mutter, die nur anderthalb Meter gross war – den Alltag in den normierten Wohnungen zu erleichtern. Loewy spottete über den Entwurf für «die Minderheit» – und half so, Papanek zum scharfen Kritiker der Konsum- und Wegwerfgesellschaft zu machen. Mit Auftritten im Radio und Fernsehen und in zahlreichen Vorträgen verurteilte er den allgegenwärtigen Kommerz und setzte sich für ein politisch bewusstes und dem Schutz der Umwelt verpflichtetes Verständnis der Produktgestaltung ein. Sein Hauptwerk «Design for the Real World – Human Ecology and Social Change» erschien 1971 und wurde in kurzer Zeit zum weltweit meistgelesenen Buch über Design. So einflussreich dieses Werk bis heute geblieben ist, so blass ist die Erinnerung an seinen Autor geworden. Die Ausstellung im Vitra Design Museum in Weil am Rhein, die erste umfassende Retrospektive überhaupt, soll dies nun ändern. Zusammen mit der «Victor J. Papanek-Foundation» an der Universität für angewandte Kunst in Wien, der Hüterin des Nachlasses, stellen die Kuratorinnen Amelie Klein und Alison J. Clarke vom 29. September 2018 bis zum 10. März 2019 den kritischen Geist unter dem Titel «The Politics of Design» in den Zusammenhang seiner Zeit und zeigen seine Wirkung bis in die Gegenwart, indem sie an 20 zeitgenössischen Werken demonstrieren, wie Papaneks Überzeugungen weiterleben. Die ersten beiden Abteilungen präsentieren anhand einer Medien-Installation und einer eindrücklichen biografischen Übersicht, die Papaneks Leben von der Flucht aus Europa bis zum internationalen Erfolg umfasst, den zeitgeschichtlichen Kontext des bahnbrechenden Werks. Die Fülle der Dokumente in diesem Teil ist überwältigend. Wer hier lieber nicht ins Detail gehen möchte, tut gut daran, das umfangreiche und sehr ansprechend gestaltete Katalogbuch zu konsultieren, in dem zahlreiche Exponate abgebildet und ausführlich erläutert sind. In den weiteren Räumen sind die Hauptthemen von Papaneks Werk dargestellt: seine kritische Haltung zur Wegwerfkultur, sein Engagement für Minderheiten und die so genannte Dritte Welt, sowie für Ökologie und Nachhaltigkeit. Eine Fülle von Entwürfen belegen seine Überzeugung, dass gestalterische Probleme am besten im Kollektiv gelöst werden sollen.

Katalogumschlag
Zur Ausstellung erschien, wie erwähnt, ein Katalogbuch, das einen umfassenden Einblick in Papaneks Denken ermöglicht. es macht nachvollziehbar, dass sein Ansatz, der seinerzeit revolutionär war, heute allgemein anerkannt ist: Design darf sich nicht auf die blosse Ästhetik von Gegenständen beschränken, sondern muss sich seiner gesellschaftlichen Funktion bewusst sein. Mateo Kries, Amelie Klein, Alison J. Clarke (Hrsg.): Victor Papanek – The Politics of Design. Weil am Rhein 2018 (Vitra Design Museum). 400 Seiten, €59.90

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs folgen
hier.

Illustration: Porträtfoto Victor Papanek ca. 1981 (Scan aus dem Katalog, © 2018 Kansas City Art Institute).

Night Fever im Vitra Design Museum

Nightclubs als Gesamtkunstwerke – Innenarchitektur, Möbeldesign, Grafik und Kunst, Licht und Musik – waren in vielen Grossstädten seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Zentren der populären Kultur. Hier tobte sich die Kunstszene aus, hier mussten sich Schwule und Lesben nicht verstecken, hier wurden – zum Teil in atemberaubendem Tempo – neue Musikstile kreiert und technisches Equipment lanciert, bevor der Kommerz die kreative Subkultur überrollte und der Niedergang seinen Anfang nahm. Unter dem Titel «Night Fever – Design und Clubkultur 1960 bis heute» zeigt das Vitra Design Museum in Weil am Rhein vom 17. März bis 9. September 2018 in Zusammenarbeit mit dem Brüsseler Design Museum «ADAM» die erste umfassende Ausstellung zur Design- und Kulturgeschichte der Nachtclubs. Die chronologisch aufgebaute Ausstellung präsentiert sowohl Erinnerungsstücke wie (Plakate, Möbel und Nachtschwärmer Outfits) als auch Filmdokumente Musikbeispiele und technische Einrichtungen von Clubs in Italien, Spanien, Deutschland, Grossbritannien und den USA. Ein Rundgang durch die mit grosser Kennerschaft von Jochen Eisenbrand, Catharine Rossi und Katarina Serulus gestaltete Schau führt von den Anfängen in den 1960er Jahre, als junge
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Menschen erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg bereit und in der Lage waren, um in der Freizeit Geld auszugeben. In Italien und Grossbritannien entstanden – oft als Teil von grossen Einkaufszentren – neuartige Unterhaltungsstätten, wo nicht nur getanzt wurde, sondern auch Konzerte, Theateraufführungen und Performances stattfanden. Zehn Jahre später waren Discos modern, wo Schallplatten mit Musik verschiedener Stilrichtungen gespielt wurden. Die immer bessere technische Ausrüstung ermöglichte neue, die Sinne berauschende Licht- und Toneffekte, und die Disc-Jockeys, die bis dahin nur dafür sorgten, dass keine Lücken im Soundteppich entstanden, entwickelten sich zu eigenständigen Tonkünstlern. Klar, dass sich die Entwicklung in technischer Hinsicht und der Zwang, dem anspruchsvollen Publikum zu gefallen, auch auf die Architektur der Freizeittempel auswirkte. Sie wurden immer grösser, ihre Einrichtungen immer aufwändiger – bis das System kollabierte, weil hohe Mieten und Immobilienpreise in den Cities mit den Einnahmen nicht mehr zu finanzieren waren und das Publikum von Festivals und anderen Grossveranstaltungen absorbiert wurde. Man mag bedauern, dass sich die Ausstellung «Night Fever» ausschliesslich auf die Auswirkungen der Clubszene auf Design und Kultur konzentriert. Die Ausweitung des Fokus auf die historische Einbettung in den Kontext einer besonders aufgewühlten Epoche – Stichworte: Vietnamkonflikt, Drogenkonsum, Studentenbewegung, Kalter Krieg – hätte illustrieren können, dass Diskotheken mehr sein konnten als «ein Organismus hedonistischer Ausschweifung» (so Damon Rich im Essay «Palladian Demise»). Im Begleitbuch zur Ausstellung zeigt Iván López Munuera am berühmten «Palladium» in New York, dass die «Gemeinde der Tanzenden … mit ihrem Treiben eine bestimmte Art des politischen Engagements» verkörperten. In der Anfangszeit waren Männer-Tanzlokale illegal; mindestens jeder vierte Gast in einem New Yorker Nightclub musste weiblich sein. Die Tanzfläche, schreibt Munuera, sei damals ein umkämpftes Territorium gewesen, das überwiegend von sexuellen Minderheiten in Beschlag genommen wurde. Afroamerikaner, Lateinamerikaner und Frauen rangen um ihre Emanzipation, die ihnen in der Nixon-Ära und später unter Reagan «demokratische Repräsentanz» sichern half. «Als Folge dieses Prozesses bildete sich eine Art kollektiver Intelligenz heraus, die …ihre grösste Wirkung entfaltete, als es ab Mitte der achtziger Jahre darum ging, gemeinsam auf die Krise von HIV und Aids zu reagieren.»

Der Katalog der Ausstellung, der in einer deutschen und einer englischen Ausgabe erschien, ist eine sehr schön gestaltete, ebenso facettenreiche wie tiefgründige Materialsammlung mit einer Reihe von aufschlussreichen Aufsätzen und Interview-Texten.
Kries, M., Eisenbrand, J., Rossi, C. (Hrsg.): Night Fever. Design und Clubkultur 1960-heute. Weil am Rhein 2018 (Vitra Design Museum), 400 Seiten, €59.90.

Illustration: © Jürg Bürgi, Basel (2018), Installationsansicht aus der Ausstellung (DJ Larry Levan, Paradise Garage, New York, 1979 mit Grafik von Keith Haring.)

«An Eames Celebration» im Vitra Design Museum

Mit einer alle Facetten des Werks umfassenden Präsentation feiert das Vitra Design Museum in Weil am Rhein vom 30. September 2017 bis zum 25. Februar 2018 das einflussreichste Architekten- und Designerpaar des 20. Jahrhunderts – Charles (1907-1978) und Ray (1912-1988) Eames. Die «Eames Celebration» besteht aus vier Ausstellungen: Der Hauptteil vermittelt im Vitra Design Museum unter dem Titel «The Power of Design» einen Überblick über das lebenslange gemeinsame Schaffen des Ehepaars Eames. Die Schau, ursprünglich für das Barbican Centre, London, konzipiert und nun von Kuratorin Jolanthe Kugler ergänzt und neu arrangiert, gibt Einblick in die Entstehung ihrer Möbel; sie zeigt, wie langwierig die Entwurfsprozesse verliefen und mit welcher Sorgfalt das Team im Eames Office arbeitete. Dargestellt wird die ganze Bandbreite des Werks von Charles und Ray Eames, die auch als Ausstellungsarchitekten, Fotografen und Filmschaffende wirkten. Zu sehen sind Entwürfe, Modelle, Zeichnungen, Skulpturen, Filminstallationen und Diaschauen. Gleich nebenan, in der Vitra Design Museum Gallery, ist unter dem Titel «Play Parade» eine Eames-Ausstellung für Kinder aufgebaut. Von Ray und Charles Eames entworfene Spielzeuge sind hier nicht nur zu besichtigen, sie sollen auch ausprobiert werden. In dem bunt inszenierten Raum gibt es zudem Nischen, in denen Kurzfilme zu sehen sind, mit denen das Ehepaar Eames, die auf ausgedehnten Reisen gesammelte Spielsachen lebendig machte. Das Vitra-Museum verfügt über eine einzigartige Sammlung von Möbel-Modellen und -Entwürfen, die das ständige Experimentieren von Charles und Ray Eames dokumentieren. Unter dem Titel «Kazam! Die Möbelexperimente von Charles und Ray Eames» werden diese Preziosen nun im Schaudepot zugänglich gemacht. Und schliesslich die Filme! Nicht weniger als 100 Kurzfilme produzierten Charles und Ray Eames im Lauf der Jahre. Dazu kamen Multimedia-Installationen (als es diesen Begriff noch gar nicht gab) und Ausstellungen über Wissenschaft und Technik. Nicht weniger als 60 dieser Filme sind nun im Rahmen des Eames-Festivals im Feuerwehrhaus zu sehen. Wer alle anschauen will, muss sich allerdings Zeit nehmen: Nicht weniger als acht Stunden und zehn Minuten, rechnet Kuratorin Jolanthe Kugler vor, dauert das ganze Programm. Auch die übrigen Teile des Ausstellungs-Parcours sind es übrigens wert, ohne Eile betrachtet zu werden.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogbuchs gibt es
hier.
Zur Ausstellung erschien in einer deutschen und einer englischen Version die Publikation: Kries, M., Kugler, J. (Hrsg.): Eames Furniture Source Book. Weil am Rhein 2017 (Vitra Design Museum). 336 Seiten, €49.90

Neu im Vitra-Campus: Das Schaudepot

Schaudepot
Am Südende des Vitra Campus in Weil am Rhein, gegenüber dem berühmten Feuerwehr-Haus von Zaha Hadid und teilweise über dem schon bestehenden Lager- und Archivkeller des Vitra Design Museums, entwarfen die Architekten Herzog & de Meuron im Auftrag von Rolf Fehlbaum, des «Chairman emeritus» von Vitra und Spiritus Rector der Gestaltung des Campus zu einem weltberühmten Architektur-Park, einen schlichten, fensterlosen Backstein-Bau, um die einzigartige Möbelsammlung des Museums öffentlich zugänglich zu machen. Das Gebäude schliesst unmittelbar an eine bestehende Fabrikationshalle an und erhält durch einen über Treppenstufen erschlossenen «Podest», der sich zu einem grosszügigen Vorplatz weitet, gegenüber dem dominanten Hadid-Bau einen selbstbewussten Auftritt. Im Innern sind in einer Dauerausstellung in chronologischer Ordnung über 400 Stühle und Kleinmöbel zu besichtigen. Die einzelnen Exponate sind dabei nur spärlich beschriftet. Ausführliche Informationen werden über Nummern in einem digitalen Katalog erschlossen, der im Schaudepot auf dem eigenen Smartphone und auf Leih-Tablets zur Verfügung steht. Die ebenerdige Halle bietet auch Platz für kleinere Wechselausstellungen. Im Untergeschoss werden den Besuchenden hinter Glas thematische Einblicke in die Kollektion von mehreren tausend Möbeln und über 1000 Leuchten gewährt. Insgesamt verfügt das Museum über mehr als 100’000 Archivstücke, darunter die Nachlässe von Charles und Ray Eames, Verner Panton und Alexander Girard (dem bis Ende Januar 2017 im Bau von Frank Gehry eine grandiose Schau gewidmet ist).
Dauerausstellung
Zu sehen ist im Untergeschoss des Schaudepots auch eine Rekonstruktion des Ateliers von Charles Eames. Und eine besondere Attraktion bildet gleich daneben das «Schaudepot Lab». Zu sehen sind an der Wand Einzelteile von Stühlen, die in den Schubfächern im darunter aufgestellten Korpus als Materialbibliothek zum Anfassen bereit liegen. Neben den rund 350 Materialproben sind auf Tablets weitere Informationen verfügbar. In dem Raum, erläuterte Co-Direktor Marc Zehntner bei einer Vorbesichtigung, sollen Workshops für Schulklassen sowie Seminare für Studenten und weitere Interessierte stattfinden. Ganz generell sei es ein grosses Anliegen des Museums, der Vermittlung der Designgeschichte mehr Gewicht beizumessen und die Tätigkeit der über 120 Mitarbeitenden sichtbar zu machen. Aus der Cafeteria, «Depot-Deli» genannt, ergeben sich Einblicke in das Museumsbüro, die Bibliothek und in die Restaurierungswerkstatt.

Die Eröffnung des Schaudepots hat den praktischen Nebeneffekt, dass der Vitra Campus an seiner Südseite zur Stadt Weil hin geöffnet wird. Das Gelände wird damit von der Endstation der 8er-Tramlinie der Basler Verkehrsbetriebe (und auch vom Bahnhof Weil der DB) bequem zu Fuss erreichbar.

Das Schaudepot des Vitra Design Museums ist ab 4. Juni 2016 für das Publikum täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet.

Illustrationen © Jürg Bürgi, 2016

Alexander Girard im Vitra Design Museum

Seine herausragende Stellung in der Geschichte der Innenarchitektur und des Textil-Designs des 20. Jahrhunderts verdankt der 1907 in New York als Sohn eines französisch-italienischen Vaters und einer amerikanischen Mutter geborene und in Italien und England aufgewachsene Alexander (Sandro) Girard der Tatsache,
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dass er sehr früh damit begann, seine Interieurs gegen den herrschenden Trend der kühlen Sachlichkeit farbenfröhlich und mit Motiven aus der Volkskunst zu gestalten. Die erste umfassende Rückschau auf sein Werk, die Kurator Jochen Eisenbrand aufgrund des privaten Nachlasses vom 12. März 2016 bis zum 29. Januar 2017 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein präsentiert, zeugt von einzigartiger Kreativität und einer unerhörten Schaffenskraft. Girard plante Häuser und ganze Inneneinrichtungen, darunter das Restaurant «La Fonda del Sol» in New York. Er gestaltete komplette Firmenauftritte – zum Beispiel das Erscheinungsbild der «Braniff International Airlines», die sich damit brüstete, das Ende des schlichten, unattraktiven Flugzeugs («The end of the plain plane») herbeigeführt zu haben– und er entwarf für Herman Miller unzählige Stoff-Kollektionen und Wanddekorationen für Grossraumbüros, die sogenannten «Environmental Enrichment Panels». Girard liess sich von der Natur, von Landschaften und von der Volkskunst inspirieren, denen er auf ausgedehnten Reisen in Europa, Afrika, Asien und vor allem in Nord- und Südamerika begegnete. Seine Sammlung von Volkskunst aus der ganzen Welt umfasste am Schluss nahezu 100’000 Objekte. Zur Pflege und Erforschung dieser immensen Kollektion, die er auch in mehreren grossen Ausstellungen kunstvoll zu inszenieren wusste, gründete er mit seiner Frau 1961 die Girard Foundation. Der Ausstellung im Vitra Design Museum, die das Londoner Design-Studio «Raw Edges» gestaltete, gelingt es, die ganze Vielfalt von Girards gestalterischem Universum fassbar zu machen. Und der von Jochen Eisenbrand herausgegebene und konzipierte prächtige Katalog ist nichts weniger als das wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Inventar eines für die moderne Geschichte der Gebrauchskunst ebenso einzigartigen wie richtungsweisenden Lebenswerks. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier zur Verfügung.

Der Katalog erschien in einer deutschen und einer englischen Ausgabe.
Kries, M., Eisenbrand, J: Alexander Girard. A Designer’s Universe. Weil am Rhein 2016 (Vitra Design Museum). 512 Seiten, € 69.90

Illustration: Daisy Face. Environmental Enrichment Panel #3036, für Herman Miller 1971, Vitra Design Museum, Nachlass Alexander Girard.

Vitra Design Museum: Design in Afrika

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Es gibt – in unseren Augen – amerikanisches Design. Gibt es europäisches Design – und nicht viel eher deutsches, französisches, britisches, skandinavisches? Und erst afrikanisches Design! Was verbindet ägyptische und südafrikanische Künstlerinnen und Gestalter? Das ist die Hauptfrage, die uns die Ausstellung «Making Africa – A Continent of Contemporary Design» im Vitra Design Museum in Weil am Rhein vom 14. März bis zum 13. September 2015 beantworten möchte. Die Kuratorin Amelie Klein und ihr Berater, der aus Nigeria stammende und zur Zeit als Direktor des Münchner Hauses der Kunst sowie der 56. Biennale von Venedig tätige Okwui Enwezor verzichten bewusst darauf, einen umfassenden Überblick über die vielgestaltige Kunst- und Designszene Afrikas zu geben. Sie blicken nicht auf einen nach wie vor von Hungersnöten und kriegerischen Auseinandersetzungen gebeutelten Kontinent, vielmehr konzentrieren sie sich auf die kreative Kraft der gut ausgebildeten, mit der ganzen Welt vernetzten urbanen Mittelklasse, die seit etwa zehn Jahren den wirtschaftlichen Aufschwung antreibt. Auf ausgedehnten Recherche-Reisen sammelte die Kuratorin eine immense Fülle von Material; sie sprach in Einzelinterviews mit Künstlern und Gestaltern; sie führte mehrere Workshops durch, um der eigenwilligen Design- und Kunstszene den Puls zu fühlen. Während die sehr sorgfältig gestaltete Ausstellung auf den ersten Blick etwas Foto- und Video-lastig wirkt und nicht alle der 280 Exponate von 120 Gestalterinnen und Gestaltern ihren Bezug zu Afrika offenkundig machen können, bietet der 346-seitige, grossformatige Katalog eine überwältigende Fülle von Materialien und Informationen, die belegen, dass «Design in Afrika viel umfassender verstanden wird als in westlichen Kulturkreisen», wie es in einer Pressemitteilung heisst.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs gibt es
hier.

Alvar Aalto: Natürliche Formen

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Unter dem Titel «Second Nature» präsentiert das Vitra Design Museum in Weil am Rhein Alvar Aalto (1898–1976), einen der wichtigsten Architekten und Designer der Moderne, als Gestalter komplexer, auf die Natur und ihre Formen und Materialien Bezug nehmender Räume. Kuratiert von Jochen Eisenbrand und gemeinsam mit dem Alvar-Aalto-Museum in Jyväskylä entwickelt, zeigt die sorgfältig konzipierte Ausstellung den weit über seine finnische Heimat hinaus einflussreichen Grossmeister der «organischen Architektur» in vier, lose chronologisch geordneten Abteilungen. Die erste zeigt Aalto unter dem Titel «Wahlverwandtschaften» am Anfang seiner Karriere als universal interessierten Gestalter, der Sakralbauten,
Mehrzweckgebäude und im karelischen Viipuri (Vyborg. heute Russland) eine Bibliothek entwirft und sich gleichzeitig für bildende Kunst,Theater und Kino interessiert. Er entwirft Bühnenbilder, gründet eine Filmproduktion, und gestaltet selbstverständlich die Einrichtung seiner Bauten selbst. Das erste Gesamtkunstwerk wird das Lungensanatorium in Paimio. Das zweite Kapitel der Schau, «Natur, Kunst, Architektur» überschrieben, ist Aaltos Nähe zur natürlichen Umwelt und seinem dauernden Austausch mit wichtigen Künstlern seiner Zeit gewidmet. Jean Arp und Alexander Calder, Fernand Léger und der Bauhaus-Meister László Moholy-Nagy übten einen besonders starken Einfluss auf ihn aus, wie anhand ihrer Werke zu sehen ist. Der dritte Schwerpunkt fokussiert unter dem Titel «Die Kunst des Alltags» auf den Designer Aalto, der die Serienproduktion moderner Möbel und Leuchtkörper mit der eigenen Firma «Artek» förderte und ihre Verbreitung zu einer «mundialen Aktivität» erklärte. Im Obergeschoss schliesslich kulminiert die Ausstellung unter dem Titel «Architektur der Synthese». Gezeigt werden Entwürfe und Modelle beispielhafter Bauten, die Aaltos humanistisches Architekturverständnis manifestieren, darunter das Kulturzentrum in Wolfsburg, ein achtstöckiges Wohnaus im Berliner Hansaviertel, Wohnsiedlungen und Kommunalbauten in Finnland, ein Studentenwohnheim auf dem Campus des MIT in Cambridge (USA) und – wie eine Summe seiner Könnerschaft– die Finlandia-Halle in Helsinki. Insgesamt entwarf Alvar Aalto in fünf Jahrzehnten rund 500 Bauten, von denen 200 verwirklicht wurden – vor allem in Finnland, aber auch in 18 weiteren Ländern.

Zur Orientierung in diesem fast unübersehbaren Lebenswerk ist das Katalogbuch sehr hilfreich. Es dokumentiert nicht nur die Exponate und die eigens für die Schau vom Fotokünstlers Armin Linke hergestellten Bildfolgen, sondern enthält eine Fülle weiterer Dokumente und ein gutes Dutzend sachkundiger Essays zu allen Aspekten von Aaltos Wirken. Jochen Eisenbrand, Mateo Kries (Hrsg.): Alvar Aalto – Second Nature. Weil am Rhein 2014 (Vitra Design Museum), 688 Seiten, € 69.90)

Eine ausführliche
Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier zur Verfügung.

Konstantin Grcic: Design als Abenteuer

«Design», definiert der Münchner Gestalter Konstantin Grcic (geb. 1965), «ist das Abenteuer, nicht genau zu wissen, was bei einem kreativen Prozess herauskommt.» So witzig das Bonmot, so sehr widerspricht es allem, was die One-Man-Show im Vitra Design Museum in Weil am Rhein (22. März bis 14. September 2014) unter dem Titel «Konstantin Grcic – Panorama» zeigt: Der Gestalter, dessen Objekte in privaten und öffentlichen Räumen allgegenwärtig sind, ist ein systematischer Arbeiter, der wenig dem Zufall überlässt. Die von ihm selbst, zusammen mit Mateo Kreis konzipierte und kuratierte Ausstellung ist in vier Abteilungen gegliedert. Die erste präsentiert unter dem Titel «Life Space» den Prototyp eines privaten Wohnmoduls, die zweite – «Work Space» – zeigt auf einem grossen Arbeitstisch und in einer Filmprojektion Grcic’s Werkstatt, die dritte – «Public Space» – ist als öffentlicher Platz konzipiert, der von einem 30 Meter langen Panorama einer visionären Stadt-Silhouette umgeben ist, und der vierte schliesslich – «Object Space» genannt – versammelt in Vitrinen eine grosse Zahl von Objekten, selbst entworfenen und fremden, die einen evolutionären Prozess simulieren. Vor allem diese Objektsammlung belegt die enorme Breite von Grcic’s Schaffen, sowohl was Formen als auch was Materialien angeht. Neben einer grossen Vielfalt von Sitzmöbeln sind Leuchten und Alltagsgegenstände aus Kunststoff zu sehen, und dazwischen gibt es immer wieder witzige Einfälle zu bewundern – zum Beispiel einen Kleiderbügel mit eingebauter Bürste oder einen Strassenwischer-Besen, dessen Kunststoff-Borsten wie Zweige aussehen. Zur Ausstellung erschien ein sehr schön gestalteter Katalog: Kreis, M., Lipsky, J. (Hrsg.): Konstantin Grcic – Panorama. Weil am Rhein 2014 (Vitra Design Museum), 320 Seiten, €69.90. Eine Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier.

Lichtdesign im Vitra Design Museum

Als der Brite Joseph Swan (1828–1914) und der Amerikaner Thomas Edison (1847–1931) 1879 unabhängig von einander diesseits und jenseits des Atlantiks die erste brauchbare Glühbirne vorführten, war noch nicht absehbar, wie sehr ihre Innovation den Alltag verändern würde. Aber schon zur Jahrhundertwende war elektrisches Licht weit verbreitet. Gleichwohl gibt es bis heute beträchtliche Unterschiede. Über 1,6 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu einem öffentlichen Stromnetz. Sie müssen sich in der Dunkelheit mit Strom aus Generatoren oder natürlichen Leuchtmitteln – Feuer, Kerzen, Gas – behelfen. In der Ausstellung «Lightopia» im Vitra Design Museum in Weil am Rhein – 28.9.2013 – 16.3.2014 – macht eine Karte des nächtlichen Globus die Ungleichheit anschaulich: Während der reiche Norden im Lichtermeer glänzt, ist es in den meisten Teilen Afrikas, Südamerikas und Asiens weitgehend finster. Die von Jolanthe Kugler kuratierte Schau zeigt die Kulturgeschichte des elektrischen Lichts als einen Prozess, der gegenwärtig durch den Übergang vom Glühlampen-Licht zur LED- und OLED-Technik einen radikalen Wandel vollzieht. Und sie demonstriert, unter anderem anhand von 300 Exponaten aus der einzigartigen Lampen-Sammlung des Museums, wie phantasievoll Designer seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die unterschiedlichsten Materialien zum Leuchten brachten. Zum ersten Mal, erklärt die Kuratorin, werde die Gestaltung von Licht nicht nur in Teilaspekten – wie etwa Lichtkunst und Leuchtendesign – aufgegriffen, sondern die verschiedenen Facetten des Lichtdesigns zusammengebracht. Dem Anspruch, den Überblick umfassend zu gestalten, wird auch der Katalog gerecht. Er ist in drei Bände aufgeteilt. Der erste Teil enthält Essays zur Kulturgeschichte des Lichts, der zweite konzentriert sich auf die bedeutendsten Leuchten aus der Sammlung des Vitra Design Museums und der dritte befasst sich im Gespräch mit zeitgenössischen Lichtdesignern und Lichtkünstlern mit den gestalterischen Perspektiven der neusten Lichttechnik.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs gibt es hier.

Illustration Pieke Bergmans «Totally in Love» 2012. Foto @Jürg Bürgi 2013.

Louis Kahn im Vitra-Museum: Meister des Monumentalen

Louis Kahn (1901-1974) war einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Und – mindestens in Europa – einer der unbekanntesten. Eine umfassende Retrospektive, die das Vitra Design Museum in Weil am Rhein (in Zusammenarbeit mit den Architectural Archives der University of Pennsylvania in Philadelphia und dem NAI part of The New Institute, Rotterdam) erarbeitete, ermöglicht es nun, den Meister des monumentalen Bauens neu oder wieder kennenzulernen. Die von Jochen Eisenbrand und Stanislaus von Moos kuratierte Ausstellung «Louis Kahn – The Power of Architecture» demonstriert die herausragende Rolle Kahns in sechs Kapiteln, welche Breite und Tiefe seines Schaffens ausloten. Der erste Teil fokussiert auf Kahns stadtplanerische Arbeiten in Philadelphia, wo er aufwuchs und studierte; der zweite legt das Gewicht auf das Haus als kleinste architektonische Einheit, deren Grundriss nach Kahns Ansicht wie ein Stadtplan im Kleinen aussehen musste. Das dritte Kapitel befasst sich mit Kahns Überzeugung, dass Natur und Gestaltung dieselben Wurzeln haben: «Die Idee, dass Architektur sich in naturwissenschaftliche Begriffe fassen lässt, ist eine Folge davon», heisst es im Katalog. Im vierten Teil geht die Ausstellung Kahns Faszination für Ruinen, für antike Baukunst, für Festungen und Fortifikationen nach, deren monumentale Ästhetik viele seiner Arbeiten prägten; und der fünfte ist seinen bis heute aktuellen Bemühungen gewidmet, seine Bauten in die Natur einzubetten, ja sie in einen direkten Dialog mit der Landschaft zu zwingen. Der letzte Teil schliesslich widmet sich Kahns Unterscheidung zwischen «dienenden» und «bedienten» Räumen und seiner Überzeugung, dass Architektur eine gemeinschaftsstiftende Funktion zu erfüllen hat, indem sie «ein Maximum an offener Interaktion zwischen Menschen ermöglicht» (Katalog). Kahn war nicht nur ein begnadeter Entwerfer, er war – an einer klassischen Kunstschule ausgebildet – auch ein eigenständiger Maler und Zeichner. Seine Skizzen und Aquarelle, die auf seinen zahlreichen Reisen entstanden, bilden innerhalb der einzelnen Ausstellungs-
Kapitel eigene Schwerpunkte. Der sorgfältig gestaltete und opulent illustrierte Katalog leistet mit seinen Essays und Abbildungen einen wesentlichen Beitrag zu Louis Kahns Wiederentdeckung. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalog steht hier.

Mateo Kries, Jochen Eisenbrand, Stanislaus von Moos (Hrsg.): Louis Kahn – The Power of Architecture. Weil am Rhein 2012 (Vitra Design Museum),354 S. €79.90 (Deutsche und Englische Ausgabe).

Pop-Art und Design: Ein spannender Dialog

Wer das Theater kennt, den amerikanische Schulen mit den Fahnen in den Schulzimmern machen, die unter keinen Umständen den Boden berühren dürfen, kann ermessen, was es bedeutete, als das Flaggenmuster 1969 auf einem italienischen Sitzmöbel («Leonardo») auftauchte, wo jeder seinen Hintern auf dem verehrten Tuch polieren konnte – wenn auch nur symbolisch. Es war die Zeit, als die Protestwellen gegen den Vietnamkrieg hoch gingen, als Tausende ihre Marschbefehle nach Vietnam verbrannten. Es ist ein besonders eindrückliches Arrangement der von Mathias Schwartz-Clauss kuratierten Ausstellung «Pop Art Design» im Vita Design Museum in Weil am Rhein, über dem provozierenden Stars-and-Stripes-Sofa Andy Warhols monumentales Porträt «Mao» aufzuhängen und beides mit Gaetano Pesces überlebensgrossser «Moloch»-Leuchte zu erhellen. Auch an anderen Stellen der höchst anregenden Schau (bis 3.2.2013) kommt es zu gelungenen Begegnungen, die belegen, wie sehr sich in den 1960er Jahren Kunst und Design, artistische Kreativität und Produktgestaltung gegenseitig beeinflussten. Nicht alle der über 140 Exponate, die durch Fotografien, Dokumente, Filme und Texte ergänzt werden, verdienen als Einzelstücke gleich hohe Beachtung. Doch im Kollektiv vermitteln sie allemal den aufrührerischen Geist der damaligen Aufbruchstimmung. Eine neue Generation amerikanischer Künstler befreite sich damals von der überkommenen Haltung des Originalgenies, das einsam in seinem Atelier seinem artistischen Ego huldigte. Sie bedienten sich, meist mit ironischer Distanz, in der Erlebniswelt der Durchschnittsbürger. Gleichzeitig wurde die Kunstproduktion in gewisser Weise demokratisiert – und damit auch zugänglich gemacht für den kommerziellen Zugriff. Indem das Vitra Design Museum seine Ausstellung zusammen mit dem Louisiana Museum of Modern Art in Humblebæk (DK) und dem Moderna Museet in Stockholm gestaltete, sind zahlreiche wertvolle Stücke aus den Sammlungen der beiden skandinavischen Häuser zu sehen. Zudem stellt die Fondation Beyeler im nahen Riehen in ihren Räumen eigene Exponate der Pop-Art aus, die durch Design-Objekte aus der Vitra-Sammlung ergänzt werden. Zur Ausstellung in Weil am Rhein erschien ein opulent bebilderter Katalog. Eine ausführliche Besprechung steht hier.

Illustration: Studio 65, Leonardo, Sofa, 1969, Sammlung Vitra Design Museum © Studio 65, Foto: Andreas Sütterlin.

Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags

Eingerichtet von Mateo Kreis, zeigt das Vitra Design Museum in Weil am Rhein vom 15. Oktober bis zum 1. Mai 2012 Rudolf Steiner als Schöpfer einer «völlig neuen Alltagsästhetik». Der Gründer der Anthroposophischen Bewegung und Erbauer des Goetheanums in Dornach folgte auch in seiner gestalterischen Arbeit demselben Muster, mit dem er sich seinen ganzen Geistespalast zusammenbaute: indem er Vorhandenes auswählte und in neue Zusammenhänge brachte. Bei Goethe lieh er sich die Farbsymbolik und bediente sich in der Metamorphosenlehre. Der Jugendstil mit seinem vegetativen Gestaltrepertoire lieferte ebenso Vorlagen wie der Kubismus, und die zahlreichen Reformbewegungen der Zeit, die unter anderem einfache Formen und die handwerklich sorgfältige Bearbeitung grundlegender Materialien propagierten. Die Ausstellung im schwierig zu bespielenden Museumsgebäude von Frank Gehry ist gleichzeitig eine Einführung in die Steinersche Ästhetik und eine Auseinandersetzung mit der Frage nach ihrer Gültigkeit bis heute. In dieser Breite und Tiefe ist dies der erste Versuch einer Gesamtschau auf Steiner als Designer. Und man darf ohne Weiteres sagen: Schon ein erster Rundgang zeigt, dass der Wurf gelungen ist. Um die Wirkung der Schau zu vertiefen, leistet sich das Vitra Design Museum ein Begleitprogramm, das auch für grössere Häuser den Rahmen des Gängigen bei weitem sprengen würde: Das Angebot umfasst, zusätzlich zu den Führungen durch die Ausstellung, fast ein halbes Hundert Workshops Happenings, Gespräche und Exkursionen. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist hier zu lesen.

Die Essenz der Dinge

Vom Faustkeil bis zum billigsten Auto der Welt, vom klassischen Thonet-Stuhl bis zum Sparschäler spürt das Vitra Design Museum in Weil am Rhein bis zum 19. September 2010 unter dem Titel «Die Essenz der Dinge» den Verbindungen des Designs mit der Kunst der Reduktion nach. Kurator Mathias Schwartz-Clauss organisiert 159 Exponate in einem Prolog und zwölf Kapiteln und ergänzt die Präsentation mit Projektionen von assoziierten Gegenständen. In dem so entstehenden Panoptikum der Design-Geschichte, das um die Sitzmöbel-Sammlung des Museums kreist, ergeben sich teils spannungsvolle, teils irritierende Gegenüberstellungen. Mehr…