Ferdinand Hodler bei Beyeler

Nicht der Schweizer «Nationalkünstler» Ferdinand Hodler (1853-1918), dessen historisierende Darstellungen über die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinaus einen überholten schweizerischen Patriotismus bedienten, ist der Fondation Beyeler in Riehen in Zusammenarbeit mit der Neuen Galerie in New York eine grosse Retrospektive wert, sondern der alte, arrivierte Hodler, der es sich leisten konnte, ohne Rücksicht aufs Geschäft als waghalsiger Neuerer der Landschaftsmalerei die Grenzen zur Abstraktion zu testen. Die von Ulf Küster (Fondation Beyeler) und Jill Lloyd (Neue Galerie) kuratierte Schau von rund 80 Arbeiten belegt vom 27. Januar bis zum 26. Mai 2013, wie der arrivierte Maler zwischen 1913 und 1918 die grossen Themen seines Schaffens in Serien variierte: Tod und Ewigkeit, Natur und Alpenwelt, das Selbstporträt, Frauenbilder. Da Hodler ausserhalb der Schweiz heute weitgehend vergessen ist, beginnt die Ausstellung mit einem biografischen Kabinett, das neben den Lebensstationen auch das Werk des zu Lebzeiten prominentesten einheimischen
Künstlers darstellt. Besonders beeindruckend sind die Fotografien, mit denen die langjährige Sammlerin und Freundin Gertrud Dübi-Müller den beruflichen und familiären Alltag des lungenkranken alten Mannes bis zum letzten Tag dokumentierte. Im Zentrum der Ausstellung stehen die Landschaftsbilder. Anders als in seinen frühen und mittleren Jahren kommt Hodler im Spätwerk mehr und mehr davon ab, von den Umrissen her zu denken. Stattdessen betont er die Farbflächen bis sich die Landschaft in horizontalen Streifen aufzulösen beginnt. Hier kündige sich die Farbfeldmalerei Mark Rothkos und Barnett Newmans an, heisst es in einem Text der Ausstellungsmacher. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Darstellungen des Leidens und Sterbens seiner krebskranken Geliebten Valentine Godé-Darel. Beim Betrachten fragt man sich, was ihn zu dieser übergriffigen Aktion getrieben haben mag. Welche Rolle spielte sein eigenes Trauma, das er erlitt, als seine lungenkranke Mutter bei der Arbeit auf dem Feld starb, und der 14-jährige ihre Leiche zusammen mit seinen Geschwistern bergen musste? Und wie schwer wog sein Wille zur provokativen Grenzüberschreitung? Irritierend wirkt sodann die Besessenheit, mit der sich Hodler mit seinem eigenen Gesicht abgab. Allein aus dem Jahr 1915 sind fünf Selbstporträts ausgestellt. Ging es ihm um die Selbstdarstellung oder um die Gestaltung von Gesichtslandschaften? Den letzten Höhepunkt der Schau bildet der «Blick in die Unendlichkeit», die bewegte Frauengruppe, die 1916 für das Zürcher Kunsthaus gemalt wurde, die heute aber im Kunstmuseum Basel hängt – weil das Bild den Bestellern seinerzeit zu monumental erschien.
Zur Ausstellung erschien ein opulent illustrierter Katalog. Jill Lloyd, Ulf Küster (Hrsg.): Ferdinand Holder. Riehen, New York, Ostfildern 2013 (Hatje Cantz Verlag) 220 Seiten; CHF 68.00.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalog steht hier.

Museum Tinguely: «Kuttlebutzer»-Fasnacht

Unter dem Titel «Sodeli, d’Kuttlebutzer» zeigt das Museum Tinguely in Basel vom 23. Januar bis zum 14. April 2013 eine eindrückliche Retrospektive auf die kreative Kraft, mit der die Clique «Kuttlebutzer» die Basler Fasnacht revolutionierte – mehrmals unter tatkräftiger Mithilfe Jean Tinguelys, der sich dem ungezügelten Haufen von notorischen Individualisten verbunden fühlte. Die «Kuttlebutzer» zelebrierten ihr Anderssein von Anfang an: Sie starteten kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Schnitzelbangg und entwickelten sich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu einer wohl organisierten Clique. Im Unterschied zu den traditionellen Fasnachtsgesellschaften, die, überwacht vom Fasnachts-Comité, jeweils am Montag- und Mittwochnachmittag einen vorgeschriebenen Parcours, den sogenannten Cortège, absolvierten und dafür Subventionen erhielten, zogen die «Kuttlebutzer» ungebunden durch die Gassen. 1957 waren die zumeist aus kreativen Berufen stammenden Mitglieder individuell kostümiert. Das erste Sujet (ein gemeinsames Thema, das mit Witz und Spott ausgespielt wird) gab es aber schon im zweiten Jahr: «Menschen, Tiere, Sensationen: Yeti» war zwar unpolitisch, liess aber grösstmöglichen Raum für Phantasie und Gestaltungskraft. Neben der eigenwilligen und teuren Ausstaffierung, machte der erstklassige musikalische Auftritt der Gruppe grossen Eindruck. 1958 hatte der «Kuttlebutzer»-Pfeifer und begabte Jazz-Musiker (und nachmalige Regierungsrat) Lukas «Cheese» Burckhardt als Staatsanwalt auf einer Dienstreise nach Schottland Marschmusik-Noten aufgetrieben und daraus den Marsch «Whisky Soda» komponiert, und der «Kuttlebutzer»-Tambour Otti Wick verfasste dazu einen «kühnen und virtuosen»Trommeltext (so der Fasnachtsmusik-Experte Bernhard «Beery» Batschelet am 3.3.2001 in der BaZ). Der «Whisky» ist einer der am meisten gespielten Fasnachtsmärsche; die Noten seien bisher 14’000mal verkauft worden, berichtet der inzwischen 88-jährige Komponist in einem der 30 von Kurator Andres Pardey geführten Video-Interviews, die einen Schwerpunkt der Ausstellung bilden. Neben der Erneuerung der Fasnachtsmusik gehört die Individualisierung der Kostümierung zu den grossen Verdiensten der «Kuttlebutzer». Sie waren die ersten, die Larven und Kostüme selbst gestalteten, eigenwillig und jeder für sich, wie die zahlreichen Exponate belegen. Wohl möglich, dass in einer Clique, die zum grossen Teil aus Künstlern, Grafikern und Dekorateuren bestand, die ihrer Kreativität freien Lauf lassen und die Kollegen übertrumpfen wollten, gar nichts Anderes in Frage kam. Der Umbruch begann mit dem «Lumpesammler-Geisterzug» von 1965, den der Maler Max «Megge»Kämpf (1912-1982) erfunden hatte – ein Totentanz grinsender Gespenster, pure Phantasie ohne Bezug zur Wirklichkeit. Die Kostüme der Vorträbler, Tambouren und Pfeifer bestanden aus Vorhangstoffen und Tüll; die Larven waren Totenköpfe oder federgeschmückte Phantasiegebilde. So etwas hatten die Basler nie zuvor gesehen. Und die Fasnächtler nahmen die Anregungen unverzüglich auf. Innovativ waren die «Kuttlebutzer» auch, wenn es galt, nonkonforme Aussichten zu äussern. 1959 machten sie sich politisch
unkorrekt über das Verbot des Films «Wege zum Ruhm» lustig, 1966 – als «Kuckucksklan» – über die geplante Bundessicherheitspolizei und 1967 über die Roten Garden. Besonders wirkungsvoll (und für die traditionellen Cliquen echt ärgerlich) war die Verspottung der organisierten Cortège-Fasnacht und des Comités: 1964, im Jahr der Expo in Lausanne, formierten die «Kuttlebutzer» ihren eigenen, uniformierten Festzug und überspannten die Freien Strasse, in der während der Strassenfasnacht der grösste Stau herrschte, mit einem Transparent: «Die Kuttlebutzer grüssen die stehenden Cliquen!» Weil die Fasnacht für viele Basler eine todernste Sache ist, war die Provokation ein Volltreffer. Den Höhepunkt erreichte die Kampagne für die wilde und gegen die reglementierte Fasnacht 1974 mit dem «grossen Bums». Zum ersten und einzigen Mal hatte sich die Clique beim Comité angemeldet und vorgegeben, am Cortège teilzunehmen. Jean Tinguely, der in diesem Jahr zum ersten Mal mitmachte, hatte eine Höllenmaschine konstruiert, die vor dem Comité mit gewaltigem Getöse losdonnerte und dabei russigen Rauch ausstiess. «Sodeli. D’ Kuttlebutzer» stand auf dem Gefährt, was jeden Zweifel über den Zweck der rabiaten Übung ausräumte. Im folgenden Jahr legte die Clique nach und verteilte ein «Aufgabenbüchlein für das Comité». Jean Tinguelys anarchischer Geist passte zwar genau ins Profil der eigenwilligen Clique, doch seine hemdsärmlige Unberechenbarkeit wirkte auf viele der gern exklusiv-elitär auftretenden «Kuttlebutzer» irritierend, wie aus einzelnen Interviews herauszuhören ist. 1976 entwarf er einen Zug bunter «Stadtindianer» und 1985 die schwarz-weisse «Atompolizei». Die von Andres Pardey mit grossem Engagement und offensichtlicher Begeisterung kuratierte Ausstellung bietet der älteren Generation einen nostalgischen Rückblick auf nahezu ein halbes Jahrhundert Basler Fasnachtsgeschichte, und den Jüngeren zeigt sie, wie mit Spott und Phantasie angeblich unveränderliches Brauchtum in Schwung zu bringen ist. Ohne die gewisse Arroganz der «Kuttlebutzer», mit der sie vermeintlich «alte Traditionen» zur Disposition stellten, wäre die Basler Fasnacht heute möglicherweise zur beliebigen Folklore erstarrt. Ganz sicher wären die drei schönsten Tage im Basler Jahr aber weniger bunt als sie sich heute präsentieren. Allen, die etwas über die Dynamik der Fasnacht erfahren wollen, und allen, die an der kreativen Energie dieser Stadt Freude haben, sei ein Ausstellungsbesuch mit Nachdruck empfohlen.

Zur Ausstellung ist zum Preis von Fr. 7.65 eine Publikation in Form eines gefalteten Weltformat-Plakats erschienen, auf dessen Rückseite die ganze «Kuttlebutzer»-Geschichte von 1957 bis 1999 dargestellt ist. Zudem steht ein Inventar der Exponate zur Verfügung, das auch ihre Herkunft verzeichnet.

Illustration: Kuttlebutzer «Geisterzug» von 1965 ©Foto Rolf Jeck.