Lois Weinbergers «Debris Field» im Museum Tinguely

Portràˆt Lois Weinberger
Im Vorraum zum «Mengele-Totentanz» präsentiert das Museum Tinguely zum dritten Mal eine Auseinandersetzung mit Jean Tinguelys beklemmendem Alterswerk. Eingeladen von Roland Wetzel, dem Direktor des Hauses, zeigt der Tiroler Lois Weinberger, geb. 1947, Fundstücke aus dem Bauernhaus in Stams, das seit vielen Generationen von seiner Familie im Auftrag des benachbarten Zisterzienser-Klosters bewirtschaftet wird. In Zwischenböden und unter dem Dach hat Weinberger jahrelang als volkskundlich-künstlerischer Archäologe nach Relikten früherer Bewohner gesucht. Ein Teil der Fundstücke, die er in den isolierenden Unterböden in jahrelanger Kleinarbeit zutage förderte, ist nun vom 17. April bis zum 1. September 2019 in elf Glaskästen unter dem Titel «Debris Field» zu besichtigen. Den Besucherinnen und Besuchern
Kruzifixe etc.
gibt die Schau Einblick in eine von Aberglauben und religiösem Eifer, von Angst und Unterdrückung geprägte Lebenswelt, die sich in dem Tiroler Dorf viele Jahrhunderte lang erhalten hat und nun «Erkundungen im Abgelebten» (Untertitel) möglich macht. Die konservierenden Eigenheiten der verwendeten Dämmstoffe –  gewöhnlich Kleie, Moos und Holzkohle – machten es möglich, dass sich die Zivilisationstrümmer gut erhalten haben. Darunter befinden sich Stücke aus Papier ebenso wie Textilien, die der Verrottung entgingen. Auch Mumien von Katzen, die zur Abwehr des Teufels lebendig verscharrt wurden, und Knochen von heimlich im Haus geschlachteten Tieren förderte Weinberger zutage. Viele eigentlich wertlose Fundstücke, erläutert der Künstler, wurden verborgen statt weggeworfen, um das Andenken an Verstorbene irgendwie zu bewahren. Eine besondere Bewandtnis hat es mit den Schuhen, vonToten, von denen jeweils nur einer unter dem Dach versteckt wurde: So sollten Wiedergänger, vor denen sich die Menschen besonders fürchteten, an der Rückkehr gehindert werden. Das Schuhwerk berichtet aber nicht nur über den Aberglauben. Wir erfahren auch, dass sich die Stamser Bauern kaum eigene Schuhe leisten konnten. Vielmehr reparierten sie die von den Mönchen ausgelatschten Schuhe notdürftig und trugen sie so lange, bis sie endgültig auseinander fielen. «Je mehr die Funde ans Licht gebracht wurden/» schreibt Weinberger in einem poetischen Text für die erste Präsentation seines «Debris Field» an der Documenta 14 in Athen, »desto mehr glaubte ich den menschen / die vor hunderten jahren am dachboden hantierten und rumorten nahe zu sein. der wunsch besonders
Schuhe klein
aufregende funde zu machen wurde bedeutungslos wie das bewusstsein sich mit etwas vergangenem zu beschäftigen / alles war nichts als gegenwärtig und doch so unwirklich…» Angesichts der Fülle des Materials, die Weinberger zusammengetragen hat, und angesichts der unzähligen Einsichten, die in diesem «Archiv des Lebens» zu gewinnen sind, ist zu hoffen, dass das Museum die Zahl der öffentlichen Führungen erhöht und den Interessierten so die Möglichkeit gibt, sich über die Exponate intensiv informieren zu lassen. Denn Weinbergers Arbeit führt über das Offensichtliche im Dialog mit dem «Mengele-Totentanz» weit hinaus. Sie verdient, in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen zu werden.

Auf Einladung des Museums Tinguely realisierte die in Riehen lebende Künstlerin Nadine Cueni, geb. 1976, unter dem Titel «des hirondelles» einen filmischen Essai über den am 23. August 1986 durch einen Blitzschlag und die folgende Feuersbrunst vollständig zerstörten Bauernhof der Familie Dafflon in Neyruz. Jean Tinguely, der als Nachbar die Katastrophe miterlebte, baute aus den Trümmern von Landmaschinen der Familie Dafflon seinen «Mengele-Totentanz». Cueni hat in Neyruz mit Bauernsohn Benoît Dafflon und anderen Zeitzeugen gesprochen und sie über das Feuer und den Nachbar Tinguely sprechen lassen. Nicht überraschend ist auch hier in Erinnerungen und Anekdoten der überlieferte Aberglaube gegenwärtig. Der knapp einstündige Film, französisch mit deutschen Untertiteln, läuft im Vorraum von «Debris Field».

Zur Ausstellung von Lois Weinberger erschien ein schön illustrierter Katalog (Englisch und Deutsch), der sich an die anlässlich der documenta 14 erschienene, inzwischen vergriffene Publikation «Debris Field – Erkundungen im Abgelebten, 2010-2016» anlehnt. Er enthält einen poetischen Text von Lois Weinberger und Beiträge von Roland Wetzel und Adam Szmyczyk. Wetzel, R. (Hrsg.): Lois Weinberger. Debris Field. Erkundungen im Abgelebten. 36 Seiten CHF 14.00 im Museumsshop.

Illustrationen: Porträt Lois Weinberger © Jürg Bürgi, 2019. Lois Weinberger: Debris Field, 2010-2016, Dachbodenfunde. Elternhaus Stams in Tirol, 14. bis 20. Jahrhundert. Foto Paris Tsitsos © Studio Weinberger