Neun Filme von Bruce Conner im Museum Tinguely

Bruce Conner
«Light out of Darkness» ist der Titel einer Ausstellung des als «Vater des Videoclips» berühmten amerikanischen Multimedia-Künstlers Bruce Conner (1933-2008) im Museum Tinguely in Basel. Vom 5. Mai bis 28. November 2021 sind, kuratiert von Roland Wetzel, neun, meist kurze Filme zu sehen. Den nachhaltigsten Eindruck vermittelt zweifellos die halbstündige Dokumentation «Crossroads» von 1976, welche einen amerikanischen Atomwaffen-Versuch im Pazifik in der Nähe des Bikini-Atolls im nördlichen Teil der Marshall-Inseln dokumentiert. Dort detonierten im Sommer 1946 zwei 23-Kilotonnen-Plutoniumbomben, am 30. Juni die Bombe «Gilda», die aus einem Flugzeug abgeworfen wurde, und am 24. Juli die Bombe «Helen of Bikini», die 27 Meter unter dem Meeresspiegel gezündet wurde. Bruce Conner beschaffte sich für seinen Film die Aufzeichnungen über die Unterwasser-Detonation. Die US-Army wollte damals herausfinden, was mit Schiffen geschieht, die sich in der Nähe eines nuklearen Explosionsherds befinden. Dafür wurden 95 ausrangierte Boote verschiedener Bauart – darunter zwei Flugzeugträger, zwei Kreuzer, 13 Zerstörer, acht U-Boote – und auch drei von Japan und Deutschland erbeutete Kriegsschiffe in verschiedenen Abständen zum Explosionsherd verankert.
CROSSROADS 2 Ausschnitt
Sie waren beladen mit Munition und Treibstoff, aber auch mit Versuchstieren – 200 Schweine, 204 Ziegen, 5000 Ratten sowie Meerschweine, Mäuse und Insekten. Die Unterstützungsflotte umfasste 150 weitere Schiffe. Vorbereitung und Durchführung des Versuchs, dem, angeblich in sicherem Abstand, ein zahlreiches Publikum beiwohnte, erforderten die Mitarbeit von nicht weniger als 42’000 Marinesoldaten. Der langjährige Vorsitzende der amerikanischen Atomenergie-Kommission, der Chemiker Glenn T. Seaborg, nannte den Versuch mit der Unterwasser-Bombe «die weltweit erste Nuklearkatastrophe».

Ausser den ausrangierten Kähnen ist von all dem auf den von unzähligen an Land, auf See und in der Luft positionierten Kameras aufgenommenen Bildern nichts zu sehen. Sie zeigen die unvorstellbare Wucht der Atombomben-Explosion, welche die ganze Umgebung mit radioaktivem Sprühregen verseuchte, aber auch die makaber-faszinierende Schönheit des Gewaltaktes. Musikalisch begleitet wird der 35mm-Tonfilm im ersten Teil von atmosphärisch auf das Gezeigte abgestimmten Synthesizer-Klängen von Patrick Gleeson; der zweite Teil, der die irritierende Ästhetik des zerstörerischen Menschenwerks zelebriert, wird von hypnotischen elektronischen Tonfolgen untermalt, die Terry Ripley komponierte. Der eindrückliche 37 Minuten lange Zusammenschnitt der Archivaufnahmen läuft im Museum gleich neben dem offen zugänglichen Raum mit Jean Tinguelys Mengele-Totentanz. «Die Nachbarschaft …», heisst es im Begleittext, «will einen Dialog eröffnen über die politischen Gefahren von Militarismus und Totalitarismus».

A MOVIE_Ausschnitt
Menschliche Zerstörungswut steht auch im Zentrum von Bruce Conners erstem Film. Unter dem Titel «A MOVIE» – die Grossbuchstaben finden als Stilelement auch bei den in absurder Folge eingesetzten Zwischentiteln Verwendung – schnitt er 1958 Szenen aus Nachrichtensendungen, B-Movies und filmtechnischer Grafik zusammen. Als Begleitmusik wählte er drei von vier Sätzen der symphonischen Dichtung «Pini di Roma» von Ottorino Respighi (1879-1936). Die Rasanz des Schnitts und die Fülle der Motive gehen an die Grenzen dessen, was der menschlichen Aufnahmefähigkeit zuzumuten ist – und manchmal überschreiten sie sie auch. Wir sehen, wie Indianerhorden im Wilden Westen Siedler mit Planwagen jagen, dazwischen sind Verfolgungsrennen mit Elefanten, Dampfloks und Autos geschnitten, die sich zu allerlei gewaltigen Unfällen und Katastrophen steigern. Ein U-Boot-Kapitän ortet durch das Periskop ein Pin-up-Girl und schiesst ein Torpedo ab, das eine Atomexplosion auslöst, die zu einen Tsunami führt, der Schiffe zum Kentern bringt und ein Rudel Wasserskifahrer aus der Bahn wirft. Die Abfolge der Szenen erscheint willkürlich. Ein roter Faden ist nicht auszumachen. Gleich zu Beginn sorgt Conner für Verwirrung, indem er den Leader-Countdown (der dem Filmvorführer den Beginn des Films anzeigt und ihm ermöglicht, die Optik scharf zu stellen) durch die Sequenz einer fast nackten Frau unterbricht, die dabei ist, ihre Strümpfe auszuziehen.

REPORT Ausschnitt
Gewalt und die Macht amerikanischer Sehgewohnheiten dominiert auch Conners Film über die Rezeption der Ermordung von Präsident John F. Kennedy am 22. November 1963 in der texanischen Metropole Dallas. Dieser 1963 bis 1967 in mehreren Schritten entstandene, 13 Minuten lange Streifen spielt mit Wiederholungen der immer gleichen Szenen. Wir sehen Kennedys offene Limousine auf der Fahrt durch Dallas, wobei Conner die ikonisch gewordenen Filmsequenzen des Augenzeugen Abraham Zapruder, welche das Magazin «Life» seinerzeit für 150’000 Dollar erwarb, nicht zur Verfügung standen. Auch weiteres Bild- und Tonmaterial war ihm nicht zugänglich, so dass er den ursprünglichen Plan aufgeben musste, das historische Medienereignis in die seiner Ansicht nach manipulativ geprägte Bilderwelt des amerikanischen Alltags einzubetten. Bemerkenswert ist die Verwendung der live gesendeten Radioreportage von Reid Collins des Senders «WNEW Radio News». Die später für eine Schallplatte des Labels Colpix Records verwendete Tonspur läuft unabhängig von den Bildsequenzen, teilweise auch ganz ohne Bilder weiter. Auch hier bedient sich Conner des filmtechnischen Countdowns, diesmal begleitet von der Reporterstimme, die Kennedys Tod verkündet. Dazwischen sind Stierkampfszenen und mehrfach Zeitlupen-Aufnahmen von durchschossenen Glühbirnen – das Sprichwort «jemandem das Licht ausblasen» gibt es auch auf Englisch – zu sehen. «Mit einem Stakkato von Bildern massenmedialer Werbung, präsidentieller Paraden, glorifizierender Kriegsszenen und Flashbacks vom Tatort Dallas», heisst es im Begleittext, «führt uns Conner vor, in welchem Ausmass Medienbilder des Spektakels unsere Wahrnehmungen und Einstellungen prägen.»

In einem Interview gefragt, wie er eigentlich dazu kam, Filme zu machen, antwortete Conner, das sei ihm auch nicht ganz klar. Er sei häufig ins Kino gegangen und habe Ideen zu einem eigenen Film entwickelt. Und weil niemand ihn habe machen wollen, sei er gezwungen gewesen, es selbst zu versuchen. Die Äusserung ist typisch für Conners öffentliche Auftritte. Man weiss nie, ob er sich über die Fragerei lustig macht, oder ob er es ernst meint. Den ganzen Kunstbetrieb betrachtete er mit ironischer Distanz, manchmal auch mit Verachtung. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er auf den Rummel und seine Zumutungen angewiesen war, wenn er sein fast schrankenloses kreatives Potenzial ausschöpfen wollte. Denn auf die Filmmontage und die Erfindung von zum Teil surrealistischen Bildsequenzen (wie zum Beispiel in dem psychedelisch-experimentellen Farbfilm «Looking for Mushrooms») war Conners Begabung bei weitem nicht beschränkt: Er erregte mit erotischen Gemälden Aufsehen, er zeichnete, fotografierte, schuf Tapisserien, Collagen und Assemblagen, die an Arbeiten von Dieter Roth oder Daniel Spoerri erinnern. Und in vielen Fällen wollte Conner seine Werke als Kommentar zu aktuellen Ereignissen verstanden wissen. (Zum Beispiel die hier abgebildete Skulptur CHILD von 1959/60, die als Beitrag zur damals heftigen Auseinandersetzung um die Hinrichtung von Caryl Chessman, der in der Haft mehrere Bücher schrieb und bis zuletzt seine Unschuld beteuerte, verstanden wurde. Dass sich die aktuelle Ausstellung im Museum Tinguely ganz auf den Filmemacher Conner
Child 1959ː60 MoMa
beschränkt, hat nicht nur Platzgründe, begründet Kurator und Museumsdirektor Roland Wetzel. Viele von Conners übrigen Werken seien so fragil, dass sie kaum transportfähig seien. Das ist sicher zu respektieren. Allerdings darf auch daran erinnert werden, dass es der Kunsthalle Zürich 2011 gelang, wenigstens einen Monat lang eine kleine Retrospektive auf Bruce Conners Arbeiten aus den 1970er-Jahren zu zeigen, die auch Fotogramme und Zeichnungen umfasste, wie dem Begleittext zu entnehmen ist, der nach wie vor auf der Website der Kunsthalle abgerufen werden kann.

Die letzte Retrospektive auf Conners Schaffen fand im Juli 2016 unter dem Titel «It’s All True» als Kooperation des San Francisco Museum of Modern Art und des New Yorker Museum of Modern Art statt. Die New York Times nannte die Schau, auf der nicht weniger als 250 Werke in rund zehn verschiedenen Kunst-Techniken zu sehen waren, eine «Extravaganz» und einen Beweis «grösster Wertschätzung». Auch andere Kritiken enthielten nur höchstes Lob. Es wäre dringend zu wünschen, dass sich auch in Europa einmal Museen zusammenfänden, um dem grossen Anreger Bruce Conner, allen Schwierigkeiten zum Trotz, mit einer umfassenden Schau den verdienten Tribut zu zollen. Bis dann begnügen wir uns, nolens volens, mit den neun Filmen im Museum Tinguely. Und das ist immerhin schon sehr viel.

Illustrationen von oben nach unten: Porträt © NYT Bruce Conner in 2000. Peter DaSilva (Ausschnitt); Filmstills aus «Crossroads», «A Movie» und «Report» Courtesy Kahn Gallery und Conner Family Trust (© Conner Family Trust); CHILD (959/60). © Museum of Modern Art, New York.