Museum Tinguely Basel

Delphine Reist im Museum Tinguely

Delphine Reist Porträt
Delpine Reist, 1970 in Sion geboren, präsentiert vom 18. Oktober 2023 bis 14 Januar 2024 im Museum Tinguely in Basel eine Übersicht über ihr künstlerisches Schaffen. Unter dem (etwas irreführenden) Titel «ÖL [oil, olio, huile]» zeigt die Künstlerin, die in Genf lebt, arbeitet und an der Haute Ecole d’Art et de Design (HEAD) unterrichtet, 20 Arbeiten, die sich um das Thema der Arbeit drehen. Öl als Triebkraft der Wirtschaft spielt dabei zwar eine wichtige Rolle, aber es ist nicht die bestimmende Dominante der Ausstellung, die von Sandra Beate Reimann mit Engagement kuratiert wurde. Wir haben uns beim Rundgang durch die Schau
Betoneimer
mehrfach unsicher gefühlt, ob wir Ähnliches nicht schon anderswo gesehen haben: In einander verschlungene Reifen. Maschinen, die plötzlich losgehen. Tröpfelnde Flüssigkeiten, die ihre Spuren hinterlassen. Gebrauchsgegenstände, die lebendig wirken. Aber spielt das eine Rolle? Delphine Reist nützt das ganze Arsenal technischer Möglichkeiten. Sie arrangiert zum Beispiel aus 40 liegenden Kunststoffeimern, deren Inhalt – grober Beton – ausgeleert und eingetrocknet ist eine ornamentale Installation. Sie inszeniert Bürostühle und ihre kreisrunden Spuren auf einem weissen Büroboden zu einem erstarrten Ballett. Sie macht aus einem Werkstattgestell mit Handwerkermaschinen, die unvermittelt in Aktion treten, ein lärmendes Raubtierhaus. Besonders symbolkräftig ist eine Videoinstallation: Sie zeigt eine verlassene Fabrikhalle, von deren Decke sich, eine nach der andern, die Neonröhren in die Tiefe stürzen und auf dem Betonboden zerschellen. Der Witz der im Museum Tinguely zum Genius loci gehört, Ist in den Werken der Westschweizerin ständig präsent. Das macht die Ausstellung der Werke von Delphine Reist, die das ganze Spektrum der künstlerischen Techniken beherrscht, sehenswert, auch wenn umwerfend Neues nicht zu sehen ist.

Illustrationen: Porträt Delphine Reist (Foto ©Jürg Bürgi, 2023); «La pente (das Gefälle), 2023 (Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi)

Temitayo Ogunbiyi im Museum Tinguely

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Seit Mai 2023 gibt es im Solitudepark, unweit vom Eingang zum Museum Tinguely in Basel, eine Spiel-Skulptur aus merkwürdig unregelmässig geborgenen, mit Manilaseil umwickelten Stahlstangen. Die 1984 in den USA geborene und aufgewachsene Künstlerin und Kunsthistorikerin Temitayo Ogunbiyi, die seit zehn Jahren in Lagos (Nigeria) lebt und arbeitet, hat das Gerät eigens für diesen Ort entworfen. Vom 18. Oktober 2023 bis zum 14. Januar 2024 sind jetzt im Museum weitere Arbeiten zu sehen. Auffallend ist in der Ausstellung, die von Roland Wetzel kuratiert wurde, wie sehr die Amerikanerin auf die Umgebung eingeht, in der sie arbeitet. Sie reflektiert das für sie Ungewohnte, indem sie zum Beispiel die Angebote von Supermärkten, die Speisekarten von Gaststätten oder die Möblierung von Wohnungen erforscht. Es ist offensichtlich, dass sie sich als Brückenbauerin zwischen Kulturen sieht – in diesem Fall zwischen der nigerianischen ihres Wohn- und Arbeitsortes Lagos und der von Basel.
Wickelfisch
Den Auftakt der Schau im Untergeschoss des Museums bildet ein improvisiertes Ladenregal mit Produkten aus zahlreichen fremden Ländern. Sie symbolisieren die Vielfalt der hiesigen multikulturellen Bevölkerung. Für Rheinschwimmerinnen und Rheinschwimmer entwarf die Künstlerin für das Museum, das über einen eigenen Strand verfügt, einen Wickelfisch in ihrer Lieblingsfarbe Orange. Eine Sammlung aus Brockenhaus-Möbeln mit vielen Schubladen, deren Inhalt vom Publikum erkundet werden soll, sind mit zahlreichen Zeichnungen und Texten bestückt. Darunter ist auch ein neu kreiertes Rezept für ein Freiburger Fondue moitié-moitié. Statt dem gewohnten trockenen Weisswein wird der Käse nach der Vorgabe Ogunbiyis im Agbalumo- oder im Mango-Wein aufgelöst. Als Ersatz für die hierzulande sparsam verwendete Mais- oder Kartoffelstärke als Bindemittel sieht die Künstlerin einen Suppenlöffel Cassava-Mehl vor, und statt Kirsch schlägt sie einen Suppenlöffel des in Nigeria «Ogogoro» genannten Palmwein-Schnapses vor. Gewürzt wird mit Alligator-Pfeffer und Muskatnuss. Exotisch ist auch die Bestückung der Fonduegabeln mit Stücken halbreifer Papaya, englischen Birnen, Meeresfrüchte oder Bananenchips. Für die Ausstellung erfand Temitayo Ogunbiy auch ein eigenes Musikinstrument: An einem Gestell mit einer langen geborgenen Stange hängen zahlreiche einfache Küchengeräte – Kellen, Kochlöffel, Salatbesteck aus Holz und Metall –
Instrument
aber auch zwei hölzerne Wetzsteinfässer, die von Perkussionisten zum Klingen gebracht werden können. Die Installation daneben besteht aus gebogenen Stäben aus Stahl, Mesing und Bronze, welche Wanderwege zwischen Basel und anderen europäischen Städten nachzeichnen, wie der Saaltext erläutert. Den im Vordergrund platzierten Sitzelemente diente eine Wok-Pfanne als Gussform. Die Ausstellung, die auch zahlreiche Zeichnungen und Gemälde von Früchten und anderen botanischen Elementen präsentiert, führt im letzten Stück die Faszination der Künstlerin für gemeinschaftsbildende Funktion von Spielplätzen und ihrer Liebe zur Natur zusammen: Unter dem Titel «You will follow the Rhein and compose play» ist eine auf Spielplätzen häufig installierte Fallschutzmatte mit einer Kakaofrucht.

P.S. «Agbalumo» heisst in der Sprache der Yoruba eine afrikanische apfelförmige Frucht (Gambeya albida), der mannigfaltige Heilkräfte zugesprochen werden. Wie daraus Wein wird, ist uns nicht bekannt. Hingegen gibt es im Internet Rezepte für Mango-Wein (
https://fruchtweinkeller.de/rezepte/mangowein/).

Illustrationen von oben nach unten: Temitayo Ogunbiyi vor ihrer Installation «You will follow the Rhein and compose play» im Solitude Park, 2023. © Museum Tinguely, Foto: Matthias Willi; «Healing Verb», 2023. © Courtesy of the artist. Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi. «You will follow the Rhein and compose play (instrument), 2023. Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi.

«À bruit secret»: Der Hörsinn im Museum Tinguely

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Unter dem Titel «A bruit secret» lädt das Museum Tinguely in Basel vom 22. Februar bis 14. Mai 2023 zur Erkundung der künstlerischen Auseinandersetzung mit unserem Hörsinn ein. Die Ausstellung ist die vierte eines Zyklus, der den fünf menschlichen Sinnen gewidmet ist. Mit grosser Sorgfalt kuratiert von Annja Müller-Alsbach, demonstriert die Schau mit Arbeiten von 25 Künstlerinnen und Künstlern die ganze Breite unserer auditiven Erfahrungen. Zu sehen sind Skulpturen, multimediale Installationen, Fotografien, Papierarbeiten und Gemälde vom Barock bis in die Gegenwart. Besonders interessant sind die Überschneidungen von bildender Kunst und musikalischer Kreation. Der kanadische Musiker und Komponist Raymond Murray Schafer (1933-2021) unterschied drei verschiedene «Soundscapes» (Klanglandschaften): natürliche, technische und menschliche. «R. Murray Schafer», heisst es in der Einführung zur Ausstellung, «forderte eine Sensibilisierung unseres Hörsinns und legte auch wichtige Grundlagen für die sogenannte Ökoakustik, das Festhalten und Erforschen der sonoren Veränderungen unserer Ökosysteme durch Umwelteinflüsse und menschliche Eingriffe.» Diese akustische Sensibilisierung soll auch das Publikum im Museum Tinguely erleben. Zunächst durch Arbeiten mit Naturgeräuschen, aber auch anhand von Schlüsselwerken der Moderne, darunter das titelgebende Readymade «À
Duchamp
bruit secret (With Hidden Noise)» von Marcel Duchamp (1887-1968) aus dem Jahr 1916 oder die Werke italienischer Futuristen, die für ihre Arbeiten Verkehrsgeräusche verwendeten und – Vorbote ihrer späteren faschistischen Verirrung – den Schlachtenlärm des Ersten Weltkriegs bewunderten. Praktisch gleichzeitig erforschten die Dadaisten, mit ihnen auch Kurt Schwitters (1887-1948), die Möglichkeiten von Lautgedichten. Andere wie Robert Rauschenberg (1925-2008) oder Jean Tinguely (1925-1991) verwendeten in ihren Schrott-Installationen Töne als bildhauerisches Material, indem sie Maschinen konstruierten, die, animiert durch das anwesende Publikum, Musik oder wenigstens Geräusche erzeugten.

Für seine raumgreifende (und zum ersten Mal in der Schweiz ausgestellte) Installation «Oracle» von 1962/1965 liess Rauschenberg zum Beispiel von Billy Klüver (der 1960 Jean Tinguely geholfen hatte, die sich selbst zerstörende Skulptur «Homage to New York» zu bauen) und seinem Ingenieurkollegen Harold Hodges in jedes der fünf Elemente
Rauschenberg
Transistorradios, Verstärker und Lautsprecher einbauen, die einen undefinierbare Klangteppich aus Radiopprogramm-Fetzen erzeugten. Auch hier kam dem Publikum eine mitwirkende Rolle zu. Dasselbe gilt für das «Fernquartett» von Dieter Roth (1930-1998), eine Art Jukebox, mit der einzelne, von Roth selbst (Klavier) und seinen Kindern Vera (Violine), Karl (Viola) und Björn (Cello) auf Tonband festgehaltene Musikstücke abgespielt werden können. Von einem harmonischen Quartett kann dabei nie die Rede sein, vielmehr erzeugt die Maschine eine dissonante Melange aus Tonfolgen dilettantisch gespielter Instrumente.

Sind in den ersten Räumen der Ausstellung, die sich über ein Dutzend Stationen auf drei Stockwerken des Museums erstreckt, grosso modo die erwartbaren Artefakte zu sehen, so wartet die Kuratorin im weiteren Verlauf des Parcours mit zahlreichen Überraschungen auf. Sie zeigt, wie in den zahlreichen jüngeren Arbeiten die Kunst mit einer
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wissenschaftlichen Fundierung auftritt. Der Zürcher Marcus Maeder (geb. 1971 in Zürich), der zunächst Kunst und Philosophie studierte, sich für elektronische Musik engagierte und derzeit in Umweltwissenschaften doktoriert, gestaltet aus Schallemissionen eines Urwaldbaumes und seiner Regenwald-Umgebung eine eigene Komposition, die in einem kegelförmigen Gehäuse zu hören und in einer Videoprojektion zu sehen ist. Die Tonaufnahmen, die während drei Tagen im Zehnminuten-Intervallen aufgenommen wurden, kombiniert Maeder mit einem flötenartigen Sound, in den er die Messdaten über die Kohlendioxid-Konzentration auf drei verschiedenen Höhen des Baumes übersetzt hat.

Auch Dominique Koch (geb. 1983 in Luzern) nutzt naturwissenschaftliche Forschung für ihre künstlerische Arbeit. Zusammen mit ihrem Bruder, dem Musiker und Komponisten Tobias Koch, machte sie im Erdreich von La Becque am Genfersee mit Spezialmikrofonen Aufnahmen von gewöhnlich unhörbaren Geräuschen. Anschliessend materialisierte sie das bioakustische Material in einer Glaswerkstatt zu zufällig geformten Artefakten, indem sie den durch die Schallwellen erzeugten Luftdruck zum Glasblasen verwendete. So erstarrten flüchtige Töne und Geräusche zu festen, dauerhaften «Sound Fossils».

Biemann
Der Forschung verpflichtet fühlt sich auch Ursula Biemann (geb. 1955 in Luzern), die sich für ihre künstlerischen Projekte in abgelegene Gegenden begibt. Ihre Video-Arbeit «Acoustic Ocean», welche den Sound des Ozeans erlebbar machen will, spielt auf den Lofoten. Ihre Protagonistin, eine fiktive Meeresforscherin gespielt von der schwedisch-samischen Sängerin Sofia Jannock, bereitet zu Beginn des Films die technischen Geräte für die Tonaufnahmen vor. Wir hören sie singen, und in der Folge ist die ozeanische Tonlandschaft mit ihr zu hören.

Zwei weitere Arbeiten, die wässerige Klanglandschaften erlebbar machen, haben uns besonders beeindruckt: Christina Kubisch (geb. 1948 in Bremen), auch sie musikalisch und künstlerisch ausgebildet, installierte eigens für die Ausstellung ihre Arbeit «Il reno», eine 12-Kanal-Komposition mit Tonaufnahmen, die sie in Basel mit Unterwassermikrofonen an verschiedenen Orten im Rhein gemacht hat. Gleich zu Beginn der Ausstellung erhält das Publikum Gelegenheit, per Induktionskopfhörer diese
Kubisch
Wassermusik zu hören, indem es auf der Barca, der verglasten Passerelle zum Rhein hin, den am Boden verlegten blauen Kabeln folgt.

Das zweite besonders eindrückliche Werk ist das letzte der Ausstellung: Auf einem Tisch liegt ein Buch mit Anweisungen des Künstlers Cevdet Erek (geb. 1974 in Istanbul), so mit kreisenden Handbewegungen über den an der Wand hängenden Teppich zu streichen, dass dabei das Geräusch von Meereswellen evoziert wird. Die ganz einfache, auf den ersten Blick irritierende Installation ist ein Musterbeispiel für die Fähigkeit, mit einem Kunstwerk ein subjektives künstlerisches Erlebnis zu schaffen, das ohne Mitwirkung des Publikums nicht zustande käme.

Die Fülle der Eindrücke, welche die Ausstellung «À bruit secret» für die Besucherinnen und Besucher bereit hält, ist mit diesen wenigen Beschreibungen nicht erschöpft. Es gibt sehr viel zu sehen und zu hören. Die Künstlerinnen und Künstler stellen mit ihren Werken viele Fragen. Es lohnt sich, sich für sie Zeit zu nehmen, auch wenn viele nicht gültig zu beantworten sind. Hilfreich sind die ausführlichen Saaltexte,
die hier auch als PDF zur Verfügung stehen.

Illustrationen: Ausstellungsbanner (Website des Museums). Marcel Duchamp: «À bruit secret» ©Association Marcel Duchamp/2023 ProLitteris, Zürich. Robert Rauschenberg: «Oracle». Robert Rauschenberg Foundation/2023 ProLitteris, Zürich. Marcus Maeder:«Espirito da floresta/Forest spirit Florest» Courtesy of the artist/2023 ProLitteris, Zürich. Ursula Biemann: «Acoustic Ocean» Installationsansicht (Ausschnitt) ©Ursula Biemann; Foto: Margot Montigny. Christina Kubisch: «Il reno». Installationsansicht Museum Tinguely. ©Museum Tinguely, Basel; Foto: Daniel Spehr.

Museum Tinguely: Die Sammlung

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Das Museum Tinguely in Basel präsentiert vom 8. Februar 2023 bis zum Frühjahr 2025 den Grossteil seiner Sammlung in ihrer ganzen Pracht und erfinderischen Vielfalt unter dem Titel «La roue = c’est tout» («Das Rad ist alles») als Dauerausstellung. Kuratiert von Direktor Roland Wetzel, assistiert von Tabea Panizzi, führt der Parcours durch vier Jahrzehnte von Jean Tinguelys (1925-1991) künstlerischem Schaffen – von seinen Anfängen zu Beginn der 1950er-Jahre, als er den Kunstbetrieb mit filigranen Drahtplastiken und feinen motorisierten Reliefs (im Wortsinn) in Bewegung setzte, bis zu den monumentalen Maschinen der späteren Schaffensperioden. Den Auftakt zum Rundgang bildet das witzige, vor kurzem erworbene Bühnenbild zum Ballett «Eloge de la Folie» des Pariser Choreografen Roland Petit aus dem Jahr 1966. Das Werk ist beispielhaft für den Erfindungsreichtum des Künstlers, seine Offenheit zur Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen sowie seine Überzeugung, dass gute Kunst nur entsteht, wenn das Publikum einbezogen wird. Auf die kleinformatigen Arbeiten seiner frühen Jahre – die als Echo auf seine Ausbildung zum und seine Tätigkeit als Schaufensterdekorateur interpretiert werden darf – folgen die innovativen Schrott-Skulpturen der 1960er-Jahre. Die Maschinen werden in dieser Zeit erstmals richtig gross – man denke an «Heureka» für die Schweizerische Landesausstellung 1964 in Lausanne – und entfalten ihre Wirkung im
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öffentlichen Raum. Im neu eingebauten Obergeschoss ist die melancholische Seite von Tinguelys Kunst zu sehen – Erinnerungsstücke an zu Tode gekommene Autorennfahrer-Freunde, seine Faszination für die Basler Fasnacht. Es ist eine sehr gute Idee, dabei auch an den Einfluss zu erinnern, den seine erste Frau, Eva Aeppli (1925-2015), auf seine künstlerische Entwicklung hatte. Sie ist mit ihren grauen, ausgemergelten «Fünf Witwen» und mit ihren «Zehn Planeten» präsent, die zum Sammlungsbestand des Museums gehören. Zurück im Erdgeschoss werden – als eigentliches Herzstück der Ausstellung – in einer Reihe von Kabinett-Präsentationen die verschiedenen Facetten von Tinguelys Werk dokumentiert. Zeichnungen, Fotos und insgesamt 20 Stunden Film belegen die einzigartige künstlerische Zeitgenossenschaft Tinguelys. Es ist klar, dass die Fülle des Materials in den Kabinetten, das durch eine multimedial gestalteten Biografie an einer Wand der grossen Ausstellungshalle ergänzt wird, kaum bei einem einzigen Ausstellungsbesuch zu bewältigen ist. Die lange Dauer der Sammlungspräsentation schafft die Möglichkeit, immer wieder Neues zu entdecken. Da die Maschinenskulpturen aus konservatorischen Gründen nur in Abständen eingeschaltet werden können, hält das Museum Videos der Installationen bereit, sodass sie ohne Wartezeit über einen QR-Code auf dem Smartphone betrachtet werden können. Wenn es für eine Ausstellung einen bis fünf Sterne zu vergeben gäbe, verdiente diese Sammlungspräsentation ohne Zweifel fünf davon: Sie schöpft aus einem weltweit einmalig reichen, beispielhaft dokumentierten Sammlungsbestand, sie ist kenntnisreich und sorgfältig multimedial inszeniert, und sie lädt zu mehr als einem Besuch und immer neuen Entdeckungen ein.
Illustrationen: Jean Tinguely bei Materialsuche, Paris 1960 (Ausschnitt, Fotograf unbekannt); Jean Tinguely «Èloge de la Folie», 1966 (© Museum Tinguely, Basel, Foto: Daniel Spehr, Ausschnitt)

Lavanchy-Clarke: Schweizer Filmpionier im Museum Tinguely

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Unter dem Titel «Kino vor dem Kino: Lavanchy-Clarke, Schweizer Filmpionier» fokussiert das Museum Tinguely in Basel vom 19. Oktober 2022 bis zum 29. Januar 2023 auf das bewegte Leben und die vielfältigen Errungenschaften des in Vergessenheit geratenen grandiosen Medienunternehmers François-Henri Lavanchy-Clarke (1848 in Morges - 1922 in Cannes), der – unter anderem – als Erster in der Schweiz farbig fotografierte und 1896, am Rande der Landesausstellung in Genf, in einem eigenen Pavillon vom Mai bis Oktober ein Lichtspieltheater betrieb. In diesem mutmasslich weltweit ersten Kino zeigte er seine zahlreichen kurzen Filme, die er mit seinem «Cinématographe» der Brüder Lumière gedreht hatte. Der Apparat, der gleichzeitig Kamera, Kopiermaschine und Projektor war, ermöglichte es, einen Film kurz nach der Aufnahme vorzuführen. Die Ausstellung, die vom Basler Medienwissenschaftler Hansmartin Siegrist und seinen Mitarbeitenden David Bucheli, Gianna Heim, Reinhard Manz und Andreas Weber sowie Andres Pardey, Vizedirektor des Museums, mit grosser Sorgfalt eingerichtet wurde, zeigt zunächst die Lebensstationen des Protagonisten, der von grosser Frömmigkeit geprägt war. Lavanchy liess sich bei der 1840 gegründeten Pilgermission auf St. Chrischona in Bettingen bei Basel zum Missionar ausbilden und arbeitete im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 im Auftrag des Schweizerischen Roten Kreuzes in Strassburg und Orléans als Sanitätsfahrer und Seelsorger. Um die im Krieg erworbene Tuberkulose zu kurieren, ging er anschliessend für die Basler Mission nach Kairo. Die dort grassierende Augenkrankheit Trachom (auch «Ägyptische Augenentzündung» genannt), die bis zu zehn Prozent der Bevölkerung erblinden liess, war für Lavanchys weiteres Leben prägend. Sein wohltätiges Engagement, für das er in Ägypten mit einem Orden geehrt wurde, hinderte ihn nicht daran, überall tüchtig Geschäfte zu machen. Hansmartin Siegrist vermutet, dass der begnadete Netzwerker, der beste Beziehungen zur pietistisch geprägten Basler Bankenwelt pflegte, bei der Umschuldung der Suezkanal-Gesellschaft selbst als Bankier tätig war und kräftig mitverdiente. 1873 nahm Lavanchy in Wien als Mitglied der ägyptischen Delegation am ersten Blindenlehrerkongress teil. Und fünf Jahre später, im Rahmen der Pariser Weltausstellung von 1878, organisierte er selbst einen «Congrès universel pour l’amélioration du sort des aveugles et des sourds-muets», wie der Kulturjournalist Christoph Heim in einem kenntnisreichen Porträt (Das Magazin, 15.10.2022) berichtete. Lavanchy setzte sich dort für die Vereinheitlichung einer Blindenschrift ein und verhalf mit seinem Einfluss der Braille-Schrift zum Durchbruch. 1879 heiratete Lavanchy die britische Industriellentochter Elisabeth Clarke. Die Familie lebte zunächst in Lausanne, später in Paris und dann in Cannes.

Für die Filmgeschichte von Interesse ist im Leben Lavanchy-Clarkes nur eine relativ kurze Zeitspanne von rund acht Jahren, von 1896 bis 1904. Fasziniert von der Fotografie und von den ersten Verkaufsautomaten, die er zum Vertrieb von Schokolade und Rauchwaren in Bahnhöfen und in den neu aufkommenden Warenhäusern nutzte, kam er mit der Firma der Brüder Lumière in Lyon in Kontakt und erhielt 1896 eine Exklusiv-Lizenz zum Gebrauch ihres neuartigen «Cinématographe» in der Schweiz.Davon machte er
Der Expo-Pavillon von Lavanchy-Clarke_email
sofort ausgiebig Gebrauch, indem er im ganzen Land kurze, sorgfältig inszenierte Szenen drehte. Die Ausstellung zeigt eine Fülle dieser kurzen Streifen, von denen das Team von Hansmartin Siegrist 50 im Nachlass und in den französischen Archives Nationales des Films CNC wieder entdeckte. Die Filme zeigen schwerpunktmässig sowohl seine Familie in den Sommerferien in Cannes als auch die Schönheiten der Schweizer Bergwelt und die Besonderheiten des helvetischen Brauchtums. Den Höhepunkt bildeten die Vorführungen an der Landesausstellung, die wegen der als unpatriotisch empfundenen kommerziellen Interessen des Filmpioniers auf dem angrenzenden Rummelplatz stattfinden mussten, auf dem auch eine Völkerschau mit einer Truppe von 200 «Eingeborenen» aus dem Senegal, gezeigt wurde. In einem prächtig ausgestatteten «Palais des Fées» erfreute Lavanchy-Clarke das staunende Publikum nicht nur mit seinem Film-Spektakel, sondern auch mit einem japanischen Café und andere exotischen Merkwürdigkeiten. Während die Brüder Lumière ihre Filmkunst zur Abbildung von ausgewählten Alltagsszenen nutzten, setzte Lavanchy-Clarke das neue Medium
Sunlight-Reklame
von Anfang für seine kommerziellen Interessen ein. Zu seinen wichtigsten Geschäftspartnern gehörten seit 1889 die ebenso frommen wie geschäftstüchtigen Lever Brothers, die Erfinder der «Sunlight»-Seife. Das neue Medium bot zahlreiche Möglichkeiten, die wohlriechende Seife, die aus Glyzerin und Palmöl – und nicht mehr aus stinkendem Talg – hergestellt wurde, zu bewerben. Lavanchy-Clarke inszenierte nicht nur eigentliche Werbefilme, sondern erfand auch das Product Placement, indem er den Sunlight-Schriftzug geschickt in Filme integrierte.

Auch wenn er nicht an Reklame dachte, war Lavanchy-Clarke ein Meister der sorgfältigen Inszenierung. Zu sehen ist das in der Ausstellung an einem Glanzstück der Schweizer Filmgeschichte: Am 16. Mai 1896 dirigierte er bei der Eröffnung der Landesausstellung die berühmtesten Schweizer Künstler vor seine Kamera. Ferdinand Hodler ist da, zusammen mit Albert Welti und Cuno Amiet. Auf weiteren Sequenzen spazieren die Chefs der Landesausstellung und andere Honoratioren im Folklore-Umzug mit. Der 50-Sekunden-Film mit dem Gewimmel des Publikums auf der Mittleren Rheinbrücke in Basel, der im September 1896 gedreht wurde, darf in der Ausstellung natürlich nicht fehlen. Er bildete den Ausgangspunkt der jahrelangen Forschungsarbeit von Hansmartin Siegrist und seinem Team, die schliesslich zur Wiederentdeckung des Belle-Epoche-Genies François-Henri Lavanchy-Clarke führte.

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Als der Boom des Lumière-«Cinématographe» durch neue technische Entwicklungen 1904 zu Ende ging, wandte sich Lavanchy-Clarke wieder vermehrt seinen philantropischen Interessen zu. Er zog sich mit seiner Familie nach Cannes zurück und brachte dank seinem einzigartigen Charisma Weltstars wie Sarah Bernhardt dazu, für seine Hilfsorganisationen auf Benefizkonzerten aufzutreten. Mit den Brüdern Lumière blieb er in Kontakt. Als sie das Farbdia-Verfahren Autochrome entwickelten, war er einer der ersten, die davon Gebrauch machen konnten. So wurde er zum ersten Farbfotografen der Schweiz.

Zur Ausstellung erschien von Hansmartin Siegrist der dokumentarische Kinofilm «Lichtspieler. Wie der geniale Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte».

Als Ausgangspunkt der Forschung über François-Henry Lavanchy-Clarke erhält Hansmartin Siegrists Buch «Auf der Brücke zur Moderne: Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque» (Basel 2019, Christoph Merian Verlag) durch die Ausstellung neue Aktualität.

Illustrationen von oben nach unten: François-Henri Lavanchy-Clark mit seinem «Cinématographe» (Ausschnitt) © Fondation Herzog, Basel. «Palais des Fées» an der Landesausstellung in Genf 1896, ©Cinémathèque Suisse, Lausanne. «Les Laveuses» (Filmstill aus der Ausstellung). Die Familie Lavanchy-Clarke, Cannes 1906 ©Fondation Herzog, Basel.

«Territories of Waste» im Museum Tinguely

Unter dem etwas sperrigen Titel «Territories of Waste. Über die Wiederkehr des Verdrängten» zeigt das Museum Tinguely in Basel vom 14. September 2022 bis zum 8. Januar 2023 wie sich Kunstschaffende weltweit mit dem umweltpolitisch wichtigen Thema des Abfalls auseinandersetzen. Die von Sandra Beate Reimann kuratierte Ausstellung zeigt Arbeiten von 27 Künstlerinnen, Künstlern und Kunstkollektiven. Auf eine Rangordnung oder eine andere Art von rotem Faden habe sie bewusst verzichtet, erläuterte die Kuratorin bei der Präsentation. Die Grösse der skulpturalen Objekte, die Länge der – zahlreichen – Video-Installationen oder die Zeit der Entstehung bieten keine Orientierung. Die Auswahl erscheint damit einigermassen zufällig. Aber Müllberge gibt es überall, Abfall ist allgegenwärtig, und alle Recyclingparks können nicht verhindern, dass die Relikte der menschlichen Zivilisation nicht einfach verschwinden. Einen eindrücklichen Beleg dafür bieten Anca Benera und Arnold Estefán mit ihrer multimedialen Arbeit «The Last Particles» von 2018. Die aus Rumänien stammenden Kunstschaffenden untersuchten
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den Sand auf dem Küstenabschnitt «Omaha Beach». Das Gelände, auf dem am 6. Juni 1944, bei der Invasion der Normandie, besonders hart gekämpft wurde, ist bis heute, dem blossen Auge nicht sichtbar, von Metallpartikeln durchsetzt. Neben naturwissenschaftlichen Werkzeugen gehört ein Video zur Installation, auf dem zu sehen ist, wie die Metallteile, magnetisch erregt, eine Art Tanz aufführen.

Einen ganz anderen Ansatz wählte, in der Ausstellung gleich daneben, Mierle Laderman Ukeles, als sie 1969 in einem Manifest Gedanken über Todestrieb und Lebensinstinkt nachdachte und dem Todestrieb den Willen zum eigenständigen, individuellen Lebensweg zuschrieb, der in der Kunst zur ständigen Erneuerung beiträgt. Im Gegensatz dazu sah sie als «Künstlerin, als Frau, als Ehefrau, als Mutter» den Lebensinstinkt als das ständige Bemühen, das Bestehende zu erhalten, indem das Neue bewahrt und der Fortschritt geschützt wird. Ihre, aus heutiger Sicht, etwas weit hergeholte Reflexion über ihr weibliches Künstlertum, führte sie dazu, den Fokus auf alle Formen der Pflege und der Reinigungsarbeiten zu richten, die gesellschaftlich zu wenig geachtet und geschätzt werden. So dokumentierte sie ihre häuslichen Routinen als Hausfrau und Mutter. Und 1973 fegte sie Eingangstreppe und Fussboden des schlossähnlichen «Wadsworth Atheneum»-Museums in Hartford (Connecticut). Seit 1977 war sie – unbezahlt – als Künstlerin bei
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der New Yorker Müllabfuhr, dem «New York City Department of Sanitation» (DSNY),tätig und entwickelte öffentliche Performances, Ausstellungen und Kunstwerke im Stil der Land Art. Zu den bekanntesten Manifestationen zählt ihre zweijährige, umfassend dokumentierte Performance, bei der sie allen 8500 Beschäftigten des DSNY per Handschlag dafür dankte, «dass Sie New York City am Leben erhalten».

Botschaften gegen die Vermüllung der Umwelt und die Vergeudung von natürlichen Ressourcen – beide Begriffe schwingen im Titel «Territories of Waste» mit – bestimmen einen grossen Teil der ausgestellten Arbeiten. Aber es gibt auch Künstlerinnen und Künstler, die Hoffnung vermitteln, indem sie die desaströsen Gegebenheiten ironisch brechen. Da befasste sich zum Beispiel der Architekt Bjarke Ingels 2011 mit dem Entwurf einer Müllverbrennungsanlage in Kopenhagen. Der Plan sah eine begrünte hohe Aufschüttung vor, die auch als Skihügel genutzt werden kann, während im Innern Abfall verbrannt und mit der Abwärme 160’000 Haushalte versorgt werden konnten. Jan und Tim Elder und ihre Berliner Künstlergruppe «realities:united», im Wissen, dass
Waste
bei der Müllverbrennung tausende Tonnen Kohlendioxid entstehen, erweiterten das Konzept mit dem Vorschlag, die Abgase so zu manipulieren, dass sie regelmässig in Form eines 30 Meter breiten Rauchrings in die Luft geblasen würde. Das heisst: Der ganze Spass ist nur möglich, weil so viel Müll produziert wird, der verbrannt werden muss. Schade, dass die Kopenhagener Behörden das Kunst-Stück, das auf faszinierende Weise eine Verbindung zwischen Schrecken und Schönheit herstellte, nicht realisieren wollten. In ähnlicher Weise bereicherte Otto Piene 1976 mit seiner Arbeit «Black Stacks Helium Sculpture» die Ausstellung «The River: Images of the Mississippi» und akzentuierte die vier Schlote
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der Southeast Steam Plant in Minneapolis. Zu sehen waren rote mit Helium gefüllte Polyethylenschläuche, die 90 Meter hoch senkrecht über den Kaminen schwebten. Klar, dass die Installation subtil auf die Luftverschmutzung des Kraftwerks hinwies. Umso erstaunlicher aus heutiger Sicht, dass die Betreiber der Dampfzentrale, die sich dessen voll bewusst waren, die Installation tolerierten!

Es ist ein grosses Verdienst der Kuratorin, dass die deutsch/englische Begleitpublikation – 27 Franken in gedruckter Form, gratis als Download auf der Website des Museums – jedes einzelne der ausgestellten Kunstwerke ausführlich vorstellt. Sandra Beate Reimann verortet zudem in einem einleitenden, kenntnisreichen Essay die ausgestellten Werke in der Geschichte der zeitgenössischen Kunst. Gerade die Arbeiten Jean Tinguelys und mancher seiner Künstlerkolleginnen und -kollegen zeugen von einer scharfen Kritik am hemmungslosen Konsumismus der europäischen Wirtschaftswunderjahre und der amerikanischen Überflussgesellschaft. Tinguelys Rotozazas – Rotozaza II zertrümmerte 1967 im Loeb Student Center der New York University am laufenden Band (volle) Bierflaschen und Rotozaza III zertrümmerte 1969 12’000 Teller in einem Schaufenster des Kaufhauses Loeb in Bern – sind ein gutes Beispiel für die Art, wie Künstler am Ende der aufwühlenden 1960er-Jahre Gesellschaftskritik übten. Dass sie seit den 1950er-Jahren vielfach Schrott und Müll verarbeiteten, ist allerdings weniger als Statement für den Ressourcenkreislauf zu verstehen, vielmehr war die Zweitverwertung ihren prekären finanziellen Verhältnissen geschuldet: Sie hatten schlicht kein Geld, um ungebrauchtes Material zu kaufen.

Das Museum bietet während der Ausstellung ein umfangreiches Begleitprogramm, darunter die Neuerung des langen Donnerstag mit freiem Eintritt ab 18 Uhr. Details gibt es auf einem Flyer und auf der Website des Museums https://www.tinguely.ch/de/veranstaltungen.html.

Illustrationen: Oben: Anca Benera und Arnold Estefán: The Last Particles(Foto ©FRAC, courtesy Frac des Pays de la la Loire; Fanny Trichet. Mitte: Mierle Laderman Ukeles: Touch Sanitation Performance 1979-1980/2017. © Mierle Laderman Ukeles, Foto: Vincent Russo, courtesy the artist and Ronald Feldman Gallery, New York. Unten: Jan und Tim Elder,«realities:united», «BIG Vortex» 2011. Scan aus der Publikation zur Ausstellung. Ganz unten: Otto Piene: Black Stacks Helium Sculpture. 1978. ©2022 Pro Litteris, Zürich. Foto: courtesy Walker Art Center, Minneapolis.

Jean-Jacques Lebel im Museum Tinguely

Porträt Jean-Jacques Lebel
Vom 13. April bis 18. September 2022 präsentiert das Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «‹La Chose› de Tinguely, quelques philosophes et ‹Les Avatares de Vénus›» Arbeiten des französischen Happening-Erfinders Jean-Jacques Lebel. Die Intervention «L’enterrement de ‹la Chose›» fand am 14. Juli 1960, dem französischen Nationalfeiertag, in Venedig zu Ehren der 22-jährigen Nina Thoeren, statt. Die junge Frau, Stieftochter von Lebels Kollegen, des Dichters und Kunstkritikers Alain Jouffroy (1928-2015), war in Los Angeles von einem Bibelverkäufer vergewaltigt und ermordet worden. Der Künstlerkreis um Lebel und Jouffroy inszenierte das Gedenken als Bestattungszeremonie mit der rituellen Ermordung der Skulptur «La Chose» von Jean Tinguely, mit laut trauernden Klageweibern. Die Zeremonie nahm im Palazzo Contarini-Corfù am Canal Grande mit der feierlichen Verladung der Skulptur auf eine Gondel ihren Anfang. Die zahlreichen Gäste, darunter Peggy Guggenheim, welche ihre Gondeln zur Verfügung stellte, nahmen nach einem Korso auf dem Canal Grande Kurs auf den Canale della Giudecca, wo die Skulptur versenkt wurde.

Die aufwändig zelebrierte Aktion war Teil der von Lebel, Jouffroy und Sergio Rusconi in der Galleria d’Arte Il Canale organisierten Ausstellung «L’anti-procès II», die als Gegenstück zur gleichzeitig stattfindenden Biennale verstanden werden wollte. Die Ausstellungsreihe hatte im Jahr zuvor mit «L’anti-procès I» in Paris als Protest gegen den mit grösster Grausamkeit geführten Algerienkrieg und den französischen Kolonialismus begonnen. In Venedig weitete sich der Blick: Nicht die Leistung nationaler Kunstszenen sollte gefeiert werden, wie sie die Biennale zelebrierte, sondern die Kunst als kulturelle Leistung der ganzen Menschheit. Jean-Jacques Lebel, 1936 im Pariser Vorort Neuilly geboren und in New York aufgewachsen, verstand sich
L’Enterrement
seit seiner Jugend als Kunst-Revoluzzer. Wie er in seiner aktuellen Ausstellung im Museum Tinguely demonstriert, sind seine Vorbilder immer noch Rebellen der Philosophie (Bakunin, Nietzsche, Spinoza), der Kunst (Marcel Duchamp) und der Literatur (Dostojewski). Mit Begeisterung führte er den Medienleuten seine witzigen Porträt-Skulpturen vor und zeigte am Beispiel der zur Interaktion einladenden Assemblage «Portrait de Nietzsche» (1961), was die Avantgardekünstler jener Zeit, unter anderen auch Jean Tinguely, antrieb: Die Kunst geht alle an, sie ist für alle da, und alle sollen dazu beitragen. Deshalb gibt es in Lebels Nietzsche-Kiste einen Briefkasten, der dem Meinungsaustausch dienen sollte, und zahlreiche Musik- und Lärminstrumente, mit denen man ein spontanes Konzert veranstalten konnte. Natürlich fehlten auch die Belege für Nietzsches verkorkstes Verhältnisse zu den Frauen nicht, darunter die Foto-Inszenierung von 1882 aus dem Atelier Bonnet in Luzern, auf der Friedrich Nietzsche mit seinem Freund, der Philosoph und spätere Arzt Paul Rée (1849-1901) als Zugrösslein vor einen Leiterwagen gespannt sind, der von der peitschenschwingenden Lou Salomé (1861-1937), die mehrfach Heiratsanträge der beiden verliebten Narren abgewiesen hatte. (Die Szene wird oft als Illustration zum – verballhornten – Zitat aus dem ersten, 1883 geschriebenen Teil von Nietzsches «Zarathustra»-Zyklus «Gehst Du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht!» verstanden.)

Den Porträts von Lebels Lieblingsdenkern stellte Kurator Andres Pardey logischerweise Jean Tinguelys Maschinen-Porträts von Henri Bergson und Pjotr Kropotkin aus dem Philosophen-Zyklus von 1988 gegenüber.

Mit dem Happening in Venedig – angeblich die erste derartige Intervention in Europa (wenn man Tinguelys spektakulären Umzug seiner fahrbar gemachten Skulpturen vom Pariser Atelier in der Impasse Ronsin in die Galerie des Quatre Saisons nicht mitzählt) – legte Lebel den Grundstein für seine Karriere als Künstler und als Kunsttheoretiker. Jean Tinguely, der in Venedig nicht dabei war, aber Lebel telefonisch sein Plazet zur Versenkung seiner Arbeit gab, hatte im März desselben Jahres bei der Selbstzerstörung seiner Plastik «Homage à New York» zusammen mit amerikanischen Künstlerfreunden den Weg gewiesen. Weder in New York noch in Venedig stiessen die Veranstaltungen auf Begeisterung. Nach den bis dahin geltenden Massstäben des bürgerlichen Kunstverständnisses konnte von Kunst nicht die Rede sein, wenn sich Künstler mit Kunstwerken Allotria trieben oder sie gar mutwillig zerstörten. «Wir waren damals alle Aussenseiter», sagte Jean-Jacques Lebel bei der Präsentation seiner Ausstellung. «Deshalb gab es einen grossen Zusammenhalt in der Kunstszene. Hierarchien und Eifersucht aufgrund des Erfolgs auf dem Kunstmarkt wie heute, existierten nicht», berichtete Lebel über den rebellischen Zeitgeist.

Um diesen Zeitgeist zu verstehen, ist es nützlich, sich nur schon die dichte Folge von erregenden Ereignissen zu vergegenwärtigen, die 1960 für Aufsehen sorgten: Am 13. Februar explodierte in der Sahara die erste französische Atombombe, zwei Wochen später, am 29. Februar, zerstörte ein Erdbeben in Marokko die Stadt Agadir; das Epizentrum lag direkt unter der Altstadt; 15’000 Menschen fanden den Tod. Am 1. Mai schoss die russische Luftwaffe ein amerikanisches U-2-Aufklärungsflugzeug ab – eine gewaltige Blamage für die US-Regierung, zumal der Pilot gefangen genommen und später als Spion verurteilt wurde. Erwartungsgemäss scheiterte kurz darauf ein Gipfeltreffen der Supermächte in Paris. Am 23. Mai kidnappte ein Kommando des israelischen Geheimdienstes in Argentinien den Nazi-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann und brachte ihn nach Jerusalem. Und ähnlich rasant folgten auch in der zweiten Jahreshälfte, nach dem «Enterrement» von Tinguelys Skulptur, weitere spektakuläre Ereignisse.

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Jean-Jacques Lebel folgte ein Leben lang seinen rebellischen Konzepten. Praktisch und theoretisch setzte er sich mit den revolutionären Möglichkeiten der künstlerischen Kreativität auseinander. In einem Manifest «Grundsätzliches zum Thema Happening», das Jean-Jacques Lebel als Erstunterzeichner signierte (und wohl auch formulierte), heisst es: «‹Produktion geht über Alles!› Dieser Ordnungsruf wird überall befolgt, sogar bei den ‹Künstlern›, ohne dass ihnen dabei bewusst ist, wie sie unversehens zu Kitschproduzenten werden. … Wenn die Kunst wirklich notwendig für das Leben des Geistes ist, muss das Gespräch über die sozialen Trennwände hinweg wiederaufgenommen werden, der Umwandlung der Kunst zu einem besonderen Zweig der Industrie zum Trotz. Unsere wichtigsten Bemühung liegt darin, das in Malerei und Dichtung, in Theater oder Film zu verwandeln, was die Ausbeuter-Gesellschaft mit ihrem Handel und ihrer Absurdität in Beschlag genommen hat.»

Es wäre angesichts des Enthusiasmus, mit dem er die Erfindungen seines jugendlichen Furors auch als 86-Jähriger vorführt, ungerecht zu behaupten, Jean-Jacques Lebel habe in seinem Alterswerk den Glauben an die aufklärerische Kraft der Kunst aufgegeben. Sein zweites grosses Werk, das er in seiner Schau präsentiert, die Video-Installation «Les Avatars de Vénus» von 2007, ist mit Abbildungen von gemeisselten, gemalten, fotografierten und gefilmten nackten Frauenkörpern heutzutage zwar nicht mehr geeignet, brave Bürger zu schockieren, wie es seinerzeit die Happenings garantierten. Indem die 7000 Bilder aus der gesamten Kunstgeschichte, von der fast 30’000 Jahre alten«Venus von Willendorf» bis zur zeitgenössischen Stripperin, durch die Technik des Morphing ineinander übergehen, ergibt sich aber ein Panorama das durchaus der Intention von Lebels Revoluzzer-Generation entspricht, die Kunst als kollektive Leistung der ganzen Menschheit zu verstehen.

Die Ausstellung, wiewohl etwas abseits des grossen Rummels im zweiten Stock platziert, ist ein formidables Ergänzungsstück zur umfassenden Retrospektive «Party for Öyvind» im Erdgeschoss, die derselben Epoche gewidmet ist. Sie dauert allerdings nur noch bis zum 1. Mai.

Zitat aus: Jean-Jacques Lebel und weitere sieben weitere Mitunterzeichner: «Grundsätzliches zum Thema Happening» In: Jürgen Becker, Wolf Vostell (Hrsg.): Happenings. Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation. Reinbek b. Hamburg 1965 (Rowohlt Verlag), S. 357ff.

Zur Ausstellung erschien eine Begleitbroschüre, die über die ausgestellten Objekte hinaus einen Einblick in die Kunstbewegung des Anti-Procès und ihre künstlerischen Vorläufer im Surrealismus und im Dadaismus ermöglicht: Museum Tinguely Basel (Hrsg.), Andres Pardey (Texte): Jean-Jacques Lebel – L’enterrement de la Chose de Tinguely, Anti-Procès 1, 2, 3, Begegnung in NYC bei Teeny und Marcel. Basel, 2022. 44 Seiten, CHF 10.00.

Illustrationen: Oben: Porträt Jean-Jacques Lebel © 2022 Jürg Bürgi, Basel. Mitte: Besteigen der Gondeln zum «Enterrement» am 14.7.1960 am Canal Grande (Scan aus der Begleitbroschüre). Unten: Installationsansicht «Les avatars de Vénus» (© 2022,Museum Tinguely/Daniel Spehr)

«Écrits d’Art Brut – Wilde Worte und Denkweisen» im Museum Tinguely

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Vom 20. Oktober 2021 bis 23. Januar 2022 zeigt das Museum Tinguely in Basel, kuratiert von Lucienne Peiry, unter dem Titel «Écrits d’Art Brut – Wilde Worte und Denkweisen» Werke von 13 Künstlerinnen und Künstlern aus Europa und Übersee, die ihre Kreativität frei vom Wunsch nach Öffentlichkeit und ausserhalb von Normen und Konventionen entfalteten. Die Exponate – Zeichnungen, Malereien auf Mauern und auf grobem Gewebe, kostümartige Kleidungsstücke –
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verbindet der Drang zum Schreiben und zur Beschriftung. Neben dem in der Schweiz besonders berühmten Adolf Wölfli (1864-1930), der den grössten Teil seines Lebens in der Berner Psychiatrischen Klinik Waldau verbrachte und seine Visionen nicht nur in Schrift und Bild, sondern auch in Kompositionen festhielt, konzentrierten sich der Brasilianer Arthur Bispo de Rosario, dessen Werke erstmals in der Schweiz zu sehen sind, und auch Giovanni Battista Podestà auf Bild und Schrift. Gemeinsam war den drei die Faszination für sprachliche Neuschöpfungen und die Anordnung von Wörtern und Sätzen in labyrinthischen Figurationen. Jean Tinguely fühlte sich besonders dem Werk von Giovanni Battista Podestà angezogen.
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Es ist deshalb keine Überraschung, wenn man sich beim Betrachten des verkleideten Podestà an eines von Tinguelys Kuttlebutzer-Kostüme erinnert. Der Schweizer Pascal Vonlanthen ist der einzige noch lebende Künstler, von dem Werke in der Ausstellung zu sehen sind. Vonlanthen, 1957 in Fribourg geboren, macht sich aus Schriftlichem, das ihm, dem Analphabeten, als Schrift-Bild entgegen tritt, ein eigenes Bild.
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Als Vorlagen wählt er oft Zeitungen und andere frei zugängliche Druckerzeugnisse und gibt ihnen beim Abschreiben mit Filzstift, Bleistift oder Farbstift eine eigene, neue Form. Ein Film, der bei den Vorbereitungen zur Ausstellung entstand, gibt Einblick in Vonlanthens Schaffen. Auch von ihm präsentiert die Kuratorin einige Zeichnungen erstmals in der Schweiz. Speziell für die aktuelle Ausstellung rekonstruierte die Künstlerin Mali Genest aufgrund von zwei Fotografien aus dem Jahr 1894 ein seither zerstörtes Werk von Marie Lieb (1844-1917). Weitere Exponate stammen von Fernando Nannetti, Giovanni Bosco, Laure Pigeon, Armand Schulthess,
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Constance Schwartzlin-Berberat, Charles Steffen und Carlo Zinelli. Überdies dokumentieren kurze Filme die Lebensumstände, in denen die verstorbenen Künstlerinnen und Künstler ihre Werke schufen: Die psychiatrischen Kliniken und ihr Personal, in denen die meisten ihr Leben fristeten, waren nur in Ausnahmefällen in der Lage, das kreative Potenzial ihrer Patientinnen und Patienten zu ermessen und sie über das Allernotwendigste hinaus zu unterstützen. In der Kunstwelt war es Jean Dubuffet, der 1945 anlässlich der Begegnung mit Werken von Wölfli und Müller den Begriff des Art Brut, der «rohen Kunst» prägte und den Wert dieser ungezügelten kreativen Kraft erkannte. Besonders die im Museum Tinguely die versammelten Werke, die formal und inhaltlich dem Schriftlichen verpflichtet sind, belegen die – im surrealistischen Sinn «automatische» – Gestaltungsmacht der von keinen Konventionen eingeschränkten menschlichen Phantasie.

Zur Ausstellung erscheint eine Publikation in französischer Sprache.
Peiry, Lucienne: Écrits d’art brut. Graphomanes extravagants. Paris 2020 (Le Seuil), 288 Seiten, € 31.00.

Illustrationen von oben: Giovanni Bosco (Wandmalerei in Casellamare del Golfo (Sizilien), 2008., Arthur Bispo Rosário (Manto de apresentação, Ausschnitt, Bild aus der Ausstellung © Jürg Bürgi 2021); Pascal Vonlanthen (SWISSClou, 2019); Giovanni Battista Podestà (Der Künstler im Kostüm, Bild aus der Ausstellung © Jürg Bürgi 2021); Adolf Wölfli (Santta-Maria-Burg= Riesen-Traube: 100 Unitif Zohrn Tonnen schwer,1916).

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung unter Berücksichtigung des Katalogs ist geplant.

Neun Filme von Bruce Conner im Museum Tinguely

Bruce Conner
«Light out of Darkness» ist der Titel einer Ausstellung des als «Vater des Videoclips» berühmten amerikanischen Multimedia-Künstlers Bruce Conner (1933-2008) im Museum Tinguely in Basel. Vom 5. Mai bis 28. November 2021 sind, kuratiert von Roland Wetzel, neun, meist kurze Filme zu sehen. Den nachhaltigsten Eindruck vermittelt zweifellos die halbstündige Dokumentation «Crossroads» von 1976, welche einen amerikanischen Atomwaffen-Versuch im Pazifik in der Nähe des Bikini-Atolls im nördlichen Teil der Marshall-Inseln dokumentiert. Dort detonierten im Sommer 1946 zwei 23-Kilotonnen-Plutoniumbomben, am 30. Juni die Bombe «Gilda», die aus einem Flugzeug abgeworfen wurde, und am 24. Juli die Bombe «Helen of Bikini», die 27 Meter unter dem Meeresspiegel gezündet wurde. Bruce Conner beschaffte sich für seinen Film die Aufzeichnungen über die Unterwasser-Detonation. Die US-Army wollte damals herausfinden, was mit Schiffen geschieht, die sich in der Nähe eines nuklearen Explosionsherds befinden. Dafür wurden 95 ausrangierte Boote verschiedener Bauart – darunter zwei Flugzeugträger, zwei Kreuzer, 13 Zerstörer, acht U-Boote – und auch drei von Japan und Deutschland erbeutete Kriegsschiffe in verschiedenen Abständen zum Explosionsherd verankert.
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Sie waren beladen mit Munition und Treibstoff, aber auch mit Versuchstieren – 200 Schweine, 204 Ziegen, 5000 Ratten sowie Meerschweine, Mäuse und Insekten. Die Unterstützungsflotte umfasste 150 weitere Schiffe. Vorbereitung und Durchführung des Versuchs, dem, angeblich in sicherem Abstand, ein zahlreiches Publikum beiwohnte, erforderten die Mitarbeit von nicht weniger als 42’000 Marinesoldaten. Der langjährige Vorsitzende der amerikanischen Atomenergie-Kommission, der Chemiker Glenn T. Seaborg, nannte den Versuch mit der Unterwasser-Bombe «die weltweit erste Nuklearkatastrophe».

Ausser den ausrangierten Kähnen ist von all dem auf den von unzähligen an Land, auf See und in der Luft positionierten Kameras aufgenommenen Bildern nichts zu sehen. Sie zeigen die unvorstellbare Wucht der Atombomben-Explosion, welche die ganze Umgebung mit radioaktivem Sprühregen verseuchte, aber auch die makaber-faszinierende Schönheit des Gewaltaktes. Musikalisch begleitet wird der 35mm-Tonfilm im ersten Teil von atmosphärisch auf das Gezeigte abgestimmten Synthesizer-Klängen von Patrick Gleeson; der zweite Teil, der die irritierende Ästhetik des zerstörerischen Menschenwerks zelebriert, wird von hypnotischen elektronischen Tonfolgen untermalt, die Terry Ripley komponierte. Der eindrückliche 37 Minuten lange Zusammenschnitt der Archivaufnahmen läuft im Museum gleich neben dem offen zugänglichen Raum mit Jean Tinguelys Mengele-Totentanz. «Die Nachbarschaft …», heisst es im Begleittext, «will einen Dialog eröffnen über die politischen Gefahren von Militarismus und Totalitarismus».

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Menschliche Zerstörungswut steht auch im Zentrum von Bruce Conners erstem Film. Unter dem Titel «A MOVIE» – die Grossbuchstaben finden als Stilelement auch bei den in absurder Folge eingesetzten Zwischentiteln Verwendung – schnitt er 1958 Szenen aus Nachrichtensendungen, B-Movies und filmtechnischer Grafik zusammen. Als Begleitmusik wählte er drei von vier Sätzen der symphonischen Dichtung «Pini di Roma» von Ottorino Respighi (1879-1936). Die Rasanz des Schnitts und die Fülle der Motive gehen an die Grenzen dessen, was der menschlichen Aufnahmefähigkeit zuzumuten ist – und manchmal überschreiten sie sie auch. Wir sehen, wie Indianerhorden im Wilden Westen Siedler mit Planwagen jagen, dazwischen sind Verfolgungsrennen mit Elefanten, Dampfloks und Autos geschnitten, die sich zu allerlei gewaltigen Unfällen und Katastrophen steigern. Ein U-Boot-Kapitän ortet durch das Periskop ein Pin-up-Girl und schiesst ein Torpedo ab, das eine Atomexplosion auslöst, die zu einen Tsunami führt, der Schiffe zum Kentern bringt und ein Rudel Wasserskifahrer aus der Bahn wirft. Die Abfolge der Szenen erscheint willkürlich. Ein roter Faden ist nicht auszumachen. Gleich zu Beginn sorgt Conner für Verwirrung, indem er den Leader-Countdown (der dem Filmvorführer den Beginn des Films anzeigt und ihm ermöglicht, die Optik scharf zu stellen) durch die Sequenz einer fast nackten Frau unterbricht, die dabei ist, ihre Strümpfe auszuziehen.

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Gewalt und die Macht amerikanischer Sehgewohnheiten dominiert auch Conners Film über die Rezeption der Ermordung von Präsident John F. Kennedy am 22. November 1963 in der texanischen Metropole Dallas. Dieser 1963 bis 1967 in mehreren Schritten entstandene, 13 Minuten lange Streifen spielt mit Wiederholungen der immer gleichen Szenen. Wir sehen Kennedys offene Limousine auf der Fahrt durch Dallas, wobei Conner die ikonisch gewordenen Filmsequenzen des Augenzeugen Abraham Zapruder, welche das Magazin «Life» seinerzeit für 150’000 Dollar erwarb, nicht zur Verfügung standen. Auch weiteres Bild- und Tonmaterial war ihm nicht zugänglich, so dass er den ursprünglichen Plan aufgeben musste, das historische Medienereignis in die seiner Ansicht nach manipulativ geprägte Bilderwelt des amerikanischen Alltags einzubetten. Bemerkenswert ist die Verwendung der live gesendeten Radioreportage von Reid Collins des Senders «WNEW Radio News». Die später für eine Schallplatte des Labels Colpix Records verwendete Tonspur läuft unabhängig von den Bildsequenzen, teilweise auch ganz ohne Bilder weiter. Auch hier bedient sich Conner des filmtechnischen Countdowns, diesmal begleitet von der Reporterstimme, die Kennedys Tod verkündet. Dazwischen sind Stierkampfszenen und mehrfach Zeitlupen-Aufnahmen von durchschossenen Glühbirnen – das Sprichwort «jemandem das Licht ausblasen» gibt es auch auf Englisch – zu sehen. «Mit einem Stakkato von Bildern massenmedialer Werbung, präsidentieller Paraden, glorifizierender Kriegsszenen und Flashbacks vom Tatort Dallas», heisst es im Begleittext, «führt uns Conner vor, in welchem Ausmass Medienbilder des Spektakels unsere Wahrnehmungen und Einstellungen prägen.»

In einem Interview gefragt, wie er eigentlich dazu kam, Filme zu machen, antwortete Conner, das sei ihm auch nicht ganz klar. Er sei häufig ins Kino gegangen und habe Ideen zu einem eigenen Film entwickelt. Und weil niemand ihn habe machen wollen, sei er gezwungen gewesen, es selbst zu versuchen. Die Äusserung ist typisch für Conners öffentliche Auftritte. Man weiss nie, ob er sich über die Fragerei lustig macht, oder ob er es ernst meint. Den ganzen Kunstbetrieb betrachtete er mit ironischer Distanz, manchmal auch mit Verachtung. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er auf den Rummel und seine Zumutungen angewiesen war, wenn er sein fast schrankenloses kreatives Potenzial ausschöpfen wollte. Denn auf die Filmmontage und die Erfindung von zum Teil surrealistischen Bildsequenzen (wie zum Beispiel in dem psychedelisch-experimentellen Farbfilm «Looking for Mushrooms») war Conners Begabung bei weitem nicht beschränkt: Er erregte mit erotischen Gemälden Aufsehen, er zeichnete, fotografierte, schuf Tapisserien, Collagen und Assemblagen, die an Arbeiten von Dieter Roth oder Daniel Spoerri erinnern. Und in vielen Fällen wollte Conner seine Werke als Kommentar zu aktuellen Ereignissen verstanden wissen. (Zum Beispiel die hier abgebildete Skulptur CHILD von 1959/60, die als Beitrag zur damals heftigen Auseinandersetzung um die Hinrichtung von Caryl Chessman, der in der Haft mehrere Bücher schrieb und bis zuletzt seine Unschuld beteuerte, verstanden wurde. Dass sich die aktuelle Ausstellung im Museum Tinguely ganz auf den Filmemacher Conner
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beschränkt, hat nicht nur Platzgründe, begründet Kurator und Museumsdirektor Roland Wetzel. Viele von Conners übrigen Werken seien so fragil, dass sie kaum transportfähig seien. Das ist sicher zu respektieren. Allerdings darf auch daran erinnert werden, dass es der Kunsthalle Zürich 2011 gelang, wenigstens einen Monat lang eine kleine Retrospektive auf Bruce Conners Arbeiten aus den 1970er-Jahren zu zeigen, die auch Fotogramme und Zeichnungen umfasste, wie dem Begleittext zu entnehmen ist, der nach wie vor auf der Website der Kunsthalle abgerufen werden kann.

Die letzte Retrospektive auf Conners Schaffen fand im Juli 2016 unter dem Titel «It’s All True» als Kooperation des San Francisco Museum of Modern Art und des New Yorker Museum of Modern Art statt. Die New York Times nannte die Schau, auf der nicht weniger als 250 Werke in rund zehn verschiedenen Kunst-Techniken zu sehen waren, eine «Extravaganz» und einen Beweis «grösster Wertschätzung». Auch andere Kritiken enthielten nur höchstes Lob. Es wäre dringend zu wünschen, dass sich auch in Europa einmal Museen zusammenfänden, um dem grossen Anreger Bruce Conner, allen Schwierigkeiten zum Trotz, mit einer umfassenden Schau den verdienten Tribut zu zollen. Bis dann begnügen wir uns, nolens volens, mit den neun Filmen im Museum Tinguely. Und das ist immerhin schon sehr viel.

Illustrationen von oben nach unten: Porträt © NYT Bruce Conner in 2000. Peter DaSilva (Ausschnitt); Filmstills aus «Crossroads», «A Movie» und «Report» Courtesy Kahn Gallery und Conner Family Trust (© Conner Family Trust); CHILD (959/60). © Museum of Modern Art, New York.

«Impasse Ronsin» im Museum Tinguely

Impasse Ronsin
Die überaus sehenswerte Ausstellung «Impasse Ronsin. Mord, Liebe und Kunst im Herzen von Paris» erweist im Museum Tinguely vom 16. Dezember 2020 bis 29. August 2021 jener Künstlersiedlung im Stadtteil Montparnasse die Reverenz, wo der junge Jean Tinguely Mitte der 1950er Jahre sein erstes Atelier bezog und die Grundlage für sein vielgestaltiges Œuvre schuf. Ähnlich wie ein halbes Jahrhundert früher das Bateau-Lavoir auf dem Montmartre, wo der junge Picasso seine ersten Pariser Jahre zubrachte, bildeten die als schäbig und heruntergekommen beschriebenen Ateliers in der Impasse Ronsin einen Brennpunkt des künstlerischen Austauschs und der Kreativität. Den Kuratoren Andres Pardey und Adrian Dannatt gelang es mit ihrer Ausstellung und dem inhaltsreichen Katalog – nicht zuletzt dank der kenntnisreichen Unterstützung von Christophe-Emmanuel del Debbio, dem Sohn des Künstlers, der bis zuletzt in der Impasse arbeitete – das Leben und Treiben in der Sackgasse zu dokumentieren.
Le Petit Parisien
Besonders berühmt wurde die Impasse durch den Doppelmord, dem Ende Mai 1908 im Haus Nummer 6 der akademische Maler Adolphe Steinheil und seine Schwiegermutter zum Opfer fielen. Die Architektur der Schau erinnert an die verwinkelte Bebauung des 125 Meter langen und acht Meter breiten Strassenstummels, wie sie bis zum Abriss des Komplexes 1971 bestand. Zu sehen sind rund 200 Werke von über 50 Künstlerinnen und Künstlern, darunter Klassiker der Moderne wie Constantin Brâncuși, Max Ernst oder Marcel Duchamp, Avantgardisten wie Arman, Jasper Johns und die jungen Wilden Yves Klein, Jean Tinguely, Daniel Spoerri, Eva Aeppli oder Niki de Saint Phalle, die zeitweise die primitiven Atelierwohnungen bevölkerten. «Die Impasse Ronsin war wirklich eine dystopische Gemeinschaft», erinnert sich Harry Mathews, der erste Ehemann von Niki de Saint Phalle. «Es war nicht wie Le Bateau-Lavoir, es war einfach nur ein verlassener Teil der Stadt. … Schlimmer als ein Elendsviertel, ein übermässig ungesunder Ort, der schmutzigste in Paris.» Aus heutiger Sicht umso erstaunlicher: Die Sackgasse war für Viele, die dort ihre künstlerischen Ambitionen entwickelten, ein kreativer
Niki und Jean 1961
Kraftort, der ihnen den Weg zum Erfolg eröffnete.

Zur Ausstellung erschien ein umfangreicher Katalog, der das Leben in der Sackgasse in seiner ganzen Fülle mit Bildern, Erinnerungen und Anekdoten abbildet. Er ist in einer deutschen und englischen Version erhältlich.
Museum Tinguely (Hrsg.): Impasse Ronsin. Mord Liebe und Kunst im Herzen von Paris. Basel/Heidelberg 2020 (Museum Tinguely/Kehrer Verlag). 252 Seiten. CHF 42.00/€ 38.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist hier zu finden.

Illustrationen von oben nach unten: Die Impasse Ronsin am Ende des 19. Jahrhunderts und heue (Postkarte/Google Streetview), Titelseite des Petit Parisien zum Mordfall Steinheil, 14. Juni 1908, Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely 11.4.1961 (Foto Shunk-Kender).

Das Museum Tinguely zelebriert «Amuse-Bouche, den Geschmack der Kunst»

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Nach «Belle Haleine – Der Duft der Kunst» (2015) und «Prière de toucher. Der Tastsinn der Kunst» (2016) zelebriert Annja Müller-Alsbach vom 19. Februar bis zum 17. Mai 2020 im Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «Amuse-Bouche. Der Geschmack der Kunst» den dritten menschlichen Sinn. Die Kuratorin möchte dem Publikum mehr als Anschauungsmaterial zum Thema bieten, indem sie mittwochs, samstags und sonntags einstündige interaktive Führungen mit Geschmackserlebnissen organisiert. Zudem gibt es zahlreiche Workshops mit Live-Performances teilnehmender Künstlerinnen und Künstler. (Mehr darüber: https://www.tinguely.ch/de/veranstaltungen.html). Klar ist aber, dass sich die Ausstellung bei der Mehrheit der Besucherinnen und Besucher bewähren muss, die keine Zeit oder keine Lust haben, sich Zeit für museale Geschmackserlebnisse zu reservieren. Und diese Probe besteht sie mit Bravour. Die Exponate, welche die Kuratorin aus den entlegensten Winkeln der Kunstwelt zusammengetragen hat, sind nicht chronologisch geordnet, sondern folgen den Geschmacksrichtungen – bitter, sauer, salzig, süss und «unami» (jap. für herzhaft-würzig oder schmackhaft) – und erweitern das Spektrum sogar noch. Gleich am Anfang wird uns der «Geschmack der Begierde» vorgeführt. Da schnellt aus einem Loch in der Wand eine lange Zunge aus einem Loch in der Wand (Urs Fischer, «Noisette», 2009) und auf dem Bildschirm eines Tablet-Computers flimmert
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eine Darstellung des «Caritas-Romana-Motivs» von Caspar de Crayer (1584-1669). (Die von Valerius Maximus um 30 n. Chr. aufgezeichnete Sage beschreibt, wie Pero ihrem zum Tod durch Verhungern verurteilten Vater Cimon die Brust reicht.) In Alexandra Meyer Inszeniert die Laktationsszene mit lauten Sauggeräuschen und begleitet sie mit einem kleinen Butterberg aus tierischem Milchfett.

Gleich daneben ist ein Raum der Eat-Art gewidmet, die von Daniel Spoerri (geb. 1930) bis heute mit Gusto angeführt wird. Seine «Fallenbilder», auf denen er die Überbleibsel von Mahlzeiten von Freunden und Freundinnen auf der Tischplatte festklebte und an die Wand hängte, gehören zum eisernen Bestand der Objektkunst des Nouveau Réalisme. Nicht fehlen darf in der Ausstellung auch Spoerris und Tony Morgans unvergesslich-witziger Kurzfilm «Resurrection», der – so Spoerri in seinen Erinnerungen – «zu Beginn einen frischen Kackhaufen in Grossaufnahme» zeigt, «der durch die Därme (Röntgenbild) in den Magen zurückkehrt, wo sich die gekauten Fleischstücke sammeln, die aus dem Mund als Steak herauskommen, das man rückwärtsgehend zum Metzger bringt, der es im Schlachthof wieder dem Ochsen anheftet, der am Schluss des Films, zu neuem Leben erweckt, auf einer sonnigen und blühenden Wiese grast und dabei natürlich einen grossen Fladen fallen lässt.»
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Auch Meret Oppenheim machte sich mehrfach in der Küche zu schaffen. «Bon appétit, Marcel!» nannte die Baslerin 1966 ihr Menü für den leidenschaftlichen Schachspieler Marcel Duchamp: Auf einem Wachstuch-Schachbrett servierte sie ihm, sorgfältig auf einem weissen, achteckigen Teller mit, Serviette, Messer und Gabel arrangiert, die vorn bis auf die Wirbelsäule (eines Rebhuhns) aufgeschlitzte gebackene Teig-Königin.

Sieben Jahre zuvor hatte die Künstlerin in Bern für einen Freundeskreis – «zwei Frauen und drei Männer essen von einer nackten Frau» ein «Frühlingsfest» ausgerichtet. Die Künstlerin vergoldete Gesicht und Hals des mit einem Beruhigungsmittel in Schlaf versetzten Modells. Sie arrangierte, wie Ralf Beil in seinem Katalogbeitrag schreibt, allerlei Leckereien auf dem Körper – «beginnend mit dem Hors d’oeuvre auf Schenkeln und Unterleib, endend mit Himbeer- und Schokoladenschlagsahne auf den Brüsten.» Als er davon hörte, soll André Breton die befreundete Künstlerin um Erlaubnis gebeten haben, das Festessen im gleichen Jahr anlässlich der Ausstellung der EROS («Exposition InteRnatioOnale du Surréalisme») in der Galerie Cordier nachzustellen. Wie zahlreiche Bilder zeigen, fand der Event in der französischen Hauptstadt als Schickeria-Gaudi statt. Das üppig mit Speisen belegte Modell war mit einem Gazeanzug bedeckt, man bediente sich wie von einem kalten Buffet und ass mit Gabel und Messer von Tellern. Vom Frühlingskult, den Meret Oppenheim im Sinn gehabt hatte, war nichts zu spüren. Und glaubt man ihren Briefen, war ihr die auf die Zeit der Samurai zurück gehende japanische Tradition des Sushi-Essens von einem nackten Frauenkörper, Nyotaimori genannt, nicht bekannt. (Im Rahmen der Ausstellung soll das Frühlingsfest nun unter Mitwirkung von Chocolatier Fabian Rimann, Sensoriker Patrick Zbinden und Schauspielerin Sibylle Mumenthaler am 21. März 2020 im Museum Tinguely
eine Neuauflage erleben.)

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Ganz neu ist dagegen Daniel Spoerris Eat Art-Experiment «Nur Geschmack anstatt Essen». Am Interdisziplinären Symposium zu Geschmack und Esskultur, das der Vorbereitung der Ausstellung diente, erstmals durchgeführt, wird der Versuch nun sechs Mal wiederholt. «Wir fangen als Vorspeise mit einem Hühnerbrühwürfel an», schreibt Speorri in seiner Ankündigung. «Als erster Gang werden ein Fischwürfel, ein Spinat- und ein Tomatenwürfel gemeinsam serviert.» Die Würfel enthalten in Gelatine aufgelöste Essenzen. Und um die Fokussierung auf den Geschmack zu erreichen, sind die Würfel alle schwarz gefärbt. «Die Erfahrung wird zeigen, wie viele dieser Geschmäcke sofort und eindeutig erraten werden.»

In der Fülle der Exponate ist uns, unter vielen anderen, die Arbeit des nigerianischen Künstlers Emeka Ogboh aufgefallen. Wo immer ausserhalb Afrikas eingeladen wird, braut er vor Ort nach Kontakten mit Menschen aus Afrika ein Schwarzbier, das «Sufferhead Original». Begleitet wird die «Basel Edition» von einem witzigen Kurzfilm, der geschickt mit Klischee-Vorstellungen spielt: Zwei Alphornbläser in Trachten musizieren vor einem eindrücklichen Bergpanorama und begeben sich in der Abenddämmerung zu einer Berghütte, wo sie zu ihrer grossen Überraschung auf eine fröhlich Schar dunkelhäutiger Menschen beim Fondue-Essen und Schwarzbier-Trinken treffen, die sie ohne Umstände zum mitmachen einladen, während draussen eine Herde brauner und weisser Schafe grasen.
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Während Ogbohs Arbeit so viel Hoffnung formuliert, dass die Betrachtenden nicht umhin kommen, sie als Utopie zu hinterfragen, hält sich Sam Taylor-Johnson in «Still Life» von 2001 knallhart an die Realität: Sein Film zeigt eine Schale voll mit Früchten – Äpfel, Birnen, Trauben, Pfirsiche. Wir sehen zu, wie das Obst langsam verfault und vom Schimmel pelzig überwältigt wird und ihm allerlei Ungeziefer zum Schluss den Rest gibt.

Ja, es gibt sehr viel zu entdecken in dieser rundum anregenden und sorgfältig gestalteten Ausstellung. Wer tiefer in die Wissenschaft des Geschmacks und in den Geschmack der Kunst eindringen möchte, erhält mit der zur Ausstellung erschienenen Publikation, die nach einem einleitenden Aufsatz der Kuratorin das vorbereitende Symposium dokumentiert, einen weit gefassten Überblick über das Thema. (Das Taschenbuch ist in einer deutschen und einer englischen Version erhältlich.) Wer nicht so viel Aufwand treiben möchte, ist mit dem zweisprachigen Saaltext-Heft umfassend orientiert.

Museum Tinguely, Basel (Hrsg.): Amuse-bouche. Der Geschmack der Kunst. Mit Beiträgen von Antje Baecker, Ralf Beil, Marisa Benjamim, Felix Bröcker, Elisabeth Bronfen, Karin Leonhard, Thomas Macho, Wolfgang Meyerhof, Annja Müller-Alsbach, Jeannette Nuessli Guth, Maren Runte, Charles Spence, Daniel Spoerri, Paul Stoller, Roland Wetzel, Stefan Wiesner. Redaktion: Lisa Anette Ahlers. Berlin 2020 (Hatje Cantz Verlag), 144 Seiten, EUR 28.00.

Illustrationen: Caspar de Crayer: Caritas Romana (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gaspar_de_Crayer_-_Caritas_Romana_(Prado).jpg), Meret Oppenheim: Bon appétit, Marcel! © Pro Litteris, Zürich. Foto: Chris Puttere. Daniel Spoerri: Nur Geschmack anstatt Essen. Bild von der Verköstigung am Symposium Amuse-Bouche, 9. April 2019, Museum Tinguely (Scan aus der Publikation). Sam Taylor-Johnson: Still Life, 1991 (Filmstill), © Sam Taylor-Johnson, All Rights Reserved 2020 ProLitteris, Zürich.

Len Lye, der «Mouvemnet Composer», im Musem Tinguely

Das Museum Tinguely in Basel wird einmal mehr seinem Ruf gerecht, den Horizont seines Publikums mit sorgfältig präparierten Überraschungen zu erweitern: Vom 23. Oktober bis zum 26. Januar 2020 präsentiert das Haus eine umfassende Schau auf das in Europa kaum bekannte Werk des aus Neuseeland stammenden Multimedia-Avantgardisten Len Lye (1901-1980). Unter dem Titel «Len Lye – Motion Composer» sind, chronologisch geordnet, im Erdgeschoss des Mario-Botta-Baus über 150 Werke des Trickfilm-Pioniers und Kinetikers zu sehen. Schon im Vorraum steckt Kurator Andres Pardey den Rahmen zwischen Film und kinetischer Skulptur ab. Das grazil schwingende Bündel feiner Stahlstäbe von «Fountain» steht im Vordergrund und dahinter läuft der 1959 im Auftrag der UNO gedrehte Film «Fountain of Hope». Die Skulptur gehört zu Len Lyes bekanntesten Werken – nicht zuletzt, weil es davon mehrere Varianten gibt. Sie wurde im Frühling 1961 im Amsterdamer Stedelijk Museum in der epochemachenden Ausstellung «Bewogen Beweging» von Pontus Hultén gezeigt, die der kinetischen Kunst zum Durchbruch verhalf. Jean Tinguely war in der
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Schau, die noch im gleichen Jahr nach Stockholm und später ins dänische Humlebæk weiter zog, mit nicht weniger als 28 Werken präsent. Die gemeinsamen Interessen von Lye und Tinguely für die kinetische Kunst, die Breite ihres Werks von feingliedrigen Konstruktionen bis zu monumentalen Formaten, ihr Interesse für performative Elemente, Theater und Film seien für ihn der Ausgangspunkt der Arbeit an der Ausstellung gewesen, wird Andres Pardey in einem Pressetext zitiert. Und Evan Webb, Direktor der Len Lye Foundation meinte: Tinguely und Lye repräsentierten «die entgegengesetzten Enden der kinetischen Kunst». Es sei deshalb von grossem Wert, die beiden wichtigen Künstler zusammen zu zeigen.

Dass Lye eine seiner Skulpturen in einem Film auftreten liess, war allerdings eine Ausnahme. Der vielfältig künstlerisch begabte Neuseeländer, der in einfachen Verhältnissen aufwuchs, zeichnete viel und stellte sich dabei vor, dass man nicht nur Musik, sondern auch Bewegungen komponieren könnte. Seine erste künstlerische Ausbildung erhielt er in der Heimat. Später brachte ein Aufenthalt in Samoa den wenig mehr als Zwanzigjährigen in Kontakt mit der Kunst von Ureinwohnern, was ihn tief beeindruckte. In Sydney, wo er 1922 bis 1926 lebte, entstand das Totem und Tabu-Skizzenbuch, das als Faksimile einen der drei Teile des Katalogs darstellt. «Totem und Tabu», Sigmund Freuds Auseinandersetzung mit dem «Seelenleben der Wilden und der Neurotiker» aus dem Jahr 1913 half Lye den Zugang zur indigenen Kunst der Maori, der Samoaer, der Aborigines, aber auch afrikanischer Völker zu finden. In der Ausstellung hängen gross- und kleinformatige Gemälde mit Motiven aus diesem Fundus, und der Zeichentrickfilm «Tusalava» veranschaulicht eindrücklich die inspirierende Kraft dieser Zeichnungen.

1926 zog Lye von Sydney nach London. Die Überfahrt finanzierte er, indem er einem Seemann für fünf Pfund die Papiere abkaufte und als Heizer auf dem Dampfer Euripides anheuerte. In der britischen Hauptstadt begann er als Bühnenarbeiter, und im Jahr darauf ist er bei einer Produktionsfirma für Werbe-Trickfilme beschäftigt und lernt das die Grundlagen des Animationsfilms. 1928 gehörte er zur Künstlergruppe «Seven and Five Society». Mitglieder der 1919 gegründeten Vereinigung waren sieben Maler und fünf Bildhauer, darunter ab 1924, als sie sich avantgardistisch ausrichtete, Ben Nicholson (1894-1982), Henry Moore (1898-1986) und Barbara Hepworth (1903-1975). Als Mitglied des exklusiven Klubs etablierte sich der Neuseeländer in der Avantgarde, die enge Beziehungen zu den europäischen Modernisten pflegte. Seinen Ruf als feste Grösse festigte er durch seine vielseitigen künstlerischen Interessen: er zeichnete und skizzierte «Doodles», er malte abstrakte Bilder nach Motiven der Stammeskunst, er entwarf Buchumschläge und befasste sich intensiv mit den handwerklichen Erfordernissen der Buchgestaltung, und er erfand – 1932 – die neue Technik der «Drawn-on-film animation».


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Die Ausstellung präsentiert mehrere dieser innovativen Werke, die alle durch ihre fröhliche Farbigkeit und ihren mit der Begleitmusik koordinierten Rhythmus brillieren. Für uns Heutige ist es erstaunlich, dass grosse Konzerne, darunter der Ölmulti Shell und Regierungsstellen wie die Britische Postverwaltung diese Experimente finanzierten. Sie erhielten dafür ganz ungewöhnliche Werbefilme, die in den Vorprogrammen der Kinos ein Millionenpublikum erreichten. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs produzierte Lye Propagandafilme für die britische Regierung und schrieb sein Kunst-Manifest «A Definition of Common Purpose».

1944 reiste Lye auf Einladung des Dokumentarfilmers Richard de Rochemont in die USA, um einige Kurzfilme zu machen. Fortan lebte und arbeitete er in den USA, vor allem in New York, wo er Trickfilme produzierte und an mehreren Universitäten als Dozent wirkte. 1947 übertrug er die Idee des kameralosen Films auf die Fotografie und schuf eine Serie von Fotogrammen, mit denen er seine Freundinnen und Freunde aus der Kunstszene in Szene setzte. Mit dem preisgekrönten, in schwarzen Vorspannstreifen gekratzten «Free Radicals» beendete Lye seine Karriere als Experimentalfilmer. Fortan fokussierte er auf die Gestaltung von «Tangible Motion Sculptures» oder kurz «Tangibles», wie er seine kinetischen Skulpturen nannte. Sie bilden den zweiten Schwerpunkt der Ausstellung im Museum Tinguely. Die faszinierenden, von Elektromotoren angetriebenen programmierte Bewegungsabläufe zeigenden Maschinen, von denen er in kurzer Zeit etwa 20 verschiedene Modell skizzierte, erfüllten für ihn den Traum vom «Malen mit Bewegung». Ihre sorgfältig, mit Unterstützung von Ingenieuren gestalteten Bewegungsabläufe erinnern mit schnellen und ruhigen Phasen an musikalischen Kompositionen oder ein Ballett auf einer Bühne. Lye veränderte seine ersten Entwürfe und verfeinerte die Abläufe und vor allem das Format, das er sich meist sehr gross vorstellte. Zu Lebzeiten – Len Lye starb 1980 an Leukämie – blieben diese Ideen aus Mangel an technischem Know-how und an finanziellen Mitteln liegen. Später begannen Ingenieure im Auftrag der Lye-Foundation in Neuseeland damit, die Visionen des Künstlers umzusetzen.

Alles in allem ist die Ausstellung «Len Lye – Motion Composer» ein grossartiges Highlight des Basler Kunst-Herbsts und -Winters. Es lohnt sich, genügend Zeit einzuplanen, um die Filme und die Maschinen-Skulpturen anzusehen und auch die zahlreichen andern Werke zu würdigen.

Zur Ausstellung erschien, in einer deutschen und einer englischen Version eine Publikation in drei Bänden. Der erste ist als Faksimile des «Totem & Taboo Sketchbook» gestaltet, der zweite ist als Werkkatalog konzipiert und im dritten Teil sind Texte über die Ausstellung und über das Werk von Len Lye versammelt. Pardey, A. (Hrsg. für das Museum Tinguely): Len Lye – Motion Composer. Heidelberg 2019 (Kehrer Verlag). CHF 58.00 (im Museumsshop und online.

Illustrationen: Oben Len Lye 1979, © Robert Del Tredici, Copyright Visual Arts-Cova-Daav, 2019. Unten: Filmstill aus «A Colour Box»1935 © Courtesy Len Lye Foundation.

Lois Weinbergers «Debris Field» im Museum Tinguely

Porträt Lois Weinberger
Im Vorraum zum «Mengele-Totentanz» präsentiert das Museum Tinguely zum dritten Mal eine Auseinandersetzung mit Jean Tinguelys beklemmendem Alterswerk. Eingeladen von Roland Wetzel, dem Direktor des Hauses, zeigt der Tiroler Lois Weinberger, geb. 1947, Fundstücke aus dem Bauernhaus in Stams, das seit vielen Generationen von seiner Familie im Auftrag des benachbarten Zisterzienser-Klosters bewirtschaftet wird. In Zwischenböden und unter dem Dach hat Weinberger jahrelang als volkskundlich-künstlerischer Archäologe nach Relikten früherer Bewohner gesucht. Ein Teil der Fundstücke, die er in den isolierenden Unterböden in jahrelanger Kleinarbeit zutage förderte, ist nun vom 17. April bis zum 1. September 2019 in elf Glaskästen unter dem Titel «Debris Field» zu besichtigen. Den Besucherinnen und Besuchern
Kruzifixe etc.
gibt die Schau Einblick in eine von Aberglauben und religiösem Eifer, von Angst und Unterdrückung geprägte Lebenswelt, die sich in dem Tiroler Dorf viele Jahrhunderte lang erhalten hat und nun «Erkundungen im Abgelebten» (Untertitel) möglich macht. Die konservierenden Eigenheiten der verwendeten Dämmstoffe –  gewöhnlich Kleie, Moos und Holzkohle – machten es möglich, dass sich die Zivilisationstrümmer gut erhalten haben. Darunter befinden sich Stücke aus Papier ebenso wie Textilien, die der Verrottung entgingen. Auch Mumien von Katzen, die zur Abwehr des Teufels lebendig verscharrt wurden, und Knochen von heimlich im Haus geschlachteten Tieren förderte Weinberger zutage. Viele eigentlich wertlose Fundstücke, erläutert der Künstler, wurden verborgen statt weggeworfen, um das Andenken an Verstorbene irgendwie zu bewahren. Eine besondere Bewandtnis hat es mit den Schuhen, vonToten, von denen jeweils nur einer unter dem Dach versteckt wurde: So sollten Wiedergänger, vor denen sich die Menschen besonders fürchteten, an der Rückkehr gehindert werden. Das Schuhwerk berichtet aber nicht nur über den Aberglauben. Wir erfahren auch, dass sich die Stamser Bauern kaum eigene Schuhe leisten konnten. Vielmehr reparierten sie die von den Mönchen ausgelatschten Schuhe notdürftig und trugen sie so lange, bis sie endgültig auseinander fielen. «Je mehr die Funde ans Licht gebracht wurden/» schreibt Weinberger in einem poetischen Text für die erste Präsentation seines «Debris Field» an der Documenta 14 in Athen, »desto mehr glaubte ich den menschen / die vor hunderten jahren am dachboden hantierten und rumorten nahe zu sein. der wunsch besonders
Schuhe klein
aufregende funde zu machen wurde bedeutungslos wie das bewusstsein sich mit etwas vergangenem zu beschäftigen / alles war nichts als gegenwärtig und doch so unwirklich…» Angesichts der Fülle des Materials, die Weinberger zusammengetragen hat, und angesichts der unzähligen Einsichten, die in diesem «Archiv des Lebens» zu gewinnen sind, ist zu hoffen, dass das Museum die Zahl der öffentlichen Führungen erhöht und den Interessierten so die Möglichkeit gibt, sich über die Exponate intensiv informieren zu lassen. Denn Weinbergers Arbeit führt über das Offensichtliche im Dialog mit dem «Mengele-Totentanz» weit hinaus. Sie verdient, in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen zu werden.

Auf Einladung des Museums Tinguely realisierte die in Riehen lebende Künstlerin Nadine Cueni, geb. 1976, unter dem Titel «des hirondelles» einen filmischen Essai über den am 23. August 1986 durch einen Blitzschlag und die folgende Feuersbrunst vollständig zerstörten Bauernhof der Familie Dafflon in Neyruz. Jean Tinguely, der als Nachbar die Katastrophe miterlebte, baute aus den Trümmern von Landmaschinen der Familie Dafflon seinen «Mengele-Totentanz». Cueni hat in Neyruz mit Bauernsohn Benoît Dafflon und anderen Zeitzeugen gesprochen und sie über das Feuer und den Nachbar Tinguely sprechen lassen. Nicht überraschend ist auch hier in Erinnerungen und Anekdoten der überlieferte Aberglaube gegenwärtig. Der knapp einstündige Film, französisch mit deutschen Untertiteln, läuft im Vorraum von «Debris Field».

Zur Ausstellung von Lois Weinberger erschien ein schön illustrierter Katalog (Englisch und Deutsch), der sich an die anlässlich der documenta 14 erschienene, inzwischen vergriffene Publikation «Debris Field – Erkundungen im Abgelebten, 2010-2016» anlehnt. Er enthält einen poetischen Text von Lois Weinberger und Beiträge von Roland Wetzel und Adam Szmyczyk. Wetzel, R. (Hrsg.): Lois Weinberger. Debris Field. Erkundungen im Abgelebten. 36 Seiten CHF 14.00 im Museumsshop.

Illustrationen: Porträt Lois Weinberger © Jürg Bürgi, 2019. Lois Weinberger: Debris Field, 2010-2016, Dachbodenfunde. Elternhaus Stams in Tirol, 14. bis 20. Jahrhundert. Foto Paris Tsitsos © Studio Weinberger

Das Museum Tinguely präsentiert seine Sammlung neu

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Mit einer von Sandra Beate Reimann kenntnisreich und mit grosser Sorgfalt eingerichteten Präsentation hat das Museum Tinguely auf 1200 Quadratmetern den Parcours durch die eigene Sammlung von Grund auf neu gestaltet. Beginnend auf der Galerie im ersten Stock ist Jean Tinguelys Werk in thematischen Gruppen zusammengefasst und, grosso modo, chronologisch geordnet. Die Ausstellung der rund 60 Arbeiten aus eigenen Beständen und zusätzlich 16 Leihgaben beginnt mit den filigranen Reliefs in schwarz und weiss, die zwischen 1954 und 1960 entstanden sind. Die Präsentation in einer engen Hängung sollen an die prekären Platzverhältnisse in Tinguelys Atelier an der Impasse Ronsin in Paris erinnern, wo die fertigen Arbeiten auf einem Zwischenboden gelagert wurden. Eines der Reliefs.– «Horizontal I, Relief méta-mécanique» - ist jetzt wieder, wie damals im Atelier, vertikal aufgehängt. In einem zweiten Raum sind die Klangmaschinen zu sehen. Besonders interessant ist die Arbeit «Mes étoiles – Concert pour sept peintures», die 1957 bis 1959 entstand und jetzt vor einer schwarzen Wand ausgestellt ist, wie seinerzeit in den Galerien von Iris Clert in Paris und Alfred Schmela in Düsseldorf. Auch die ersten Zeichenmaschinen und das erste Multiple – ein Relief zum Selbstbau – stammen aus dem ersten Jahrzehnt. Der Zeit nach 1960 sind im zweiten Obergeschoss drei Räume gewidmet: Im ersten sind auf hängenden Leinwänden die Filme von drei Zerstörungsaktionen – die «Homage à New York» (1960), die «Étude pour une fin du monde I», 1961 im Park des Louisiana Museum of Modern Art in Humblebæk (DK) mit grossem Getöse explodiert, sowie, ein Jahr später, die gross fürs Fernsehen inszenierte «Study for an End of the World No. 2», die bei Las Vegas ein Stück Wüste in bedrohliche Rauchschwaden hüllte. Daneben sind die ersten aus Schrott und objets trouvés hergestellten Skulpturen platziert, gefolgt von streng schwarz bemalten Maschinen, teils martialisch bewegt wie «Hannibal II» von 1968, teils sich elegant und leicht drehend. Das grosse, den dritten Raum füllende «Plateau agriculturel», das 1978, ein Jahr nach dem Fasnachtsbrunnen entstand, gehört zu einer Gruppe von Werke, die zum Bestand der Sammlung gehören, aber seit langem im Museum nicht mehr ausgestellt waren. Dasselbe gilt für das «Relief méta-mécanique sonore II» von 1955, das «Ballet des Pauvres» von 1961 und das farbenfroh beleuchtete «Café Kyoto» von 1987. Im Untergeschoss sind Arbeiten aus den 1970er-Jahren bis 1990, der letzten Schaffensperiode des Künstlers, zu sehen. Neben dem monumentalen «Pit-Stop» von 1984, der im Auftrag und mit Material von Renault gebaut wurde, gibt es hier eine witzige Sammlung von Bohrmaschinen-Arbeiten, die sich über die Do-it-yourself-
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Welle lustig machen. Ein Highlight der Ausstellung bilden sodann die Dokumente und Modelle, die Tinguely – mit Bernhard Luginbühl und seinen Söhnen in der eigens gegründeten «Bildhauer Union 90» verbunden – für eine neue Wettsteinbrücke entwarf. Da sich die Künstler nicht um den längst abgeschlossenen politischen Entscheidungsprozess kümmerten und erst zwei Wochen vor der Volksabstimmung an die Öffentlichkeit traten, fielen ihre erst skizzenhaften Ideen damals leider diskussionslos aus Abschied und Traktanden.

Aus Anlass der neuen Sammlungspräsentation führt das Museum auch den digitalen Ausstellungsguide Meta-Tinguely ein, der anhand der Biografie des Künstlers und von neun ausgewählten Werken durch Jean Tinguelys Œuvre führt und sein künstlerisches Schaffen erläutert. Der ebenso übersichtlich wie unterhaltsam gestaltete Guide kann entweder über die Website oder – in der Ausstellung – über das Gratis-WLAN des Museums aufgerufen werden. Er bietet in Wort, Bild und Ton eine Fülle von Informationen, die entweder mit Hilfe der Suchfunktionen oder als Antworten auf einfache Fragen auf Smartphones und Tablets zur Verfügung stehen.

Illustrationen: © Jürg Bürgi 2018. Oben: Kinetische Reliefs aus der ersten Schaffensperiode. Unten: Ideen für den Neubau der Wettsteinbrücke in Basel.

Gauri Gill zeigt Geburt und Tod in Rjasthan

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Mit 17 grossformatigen Bildern der indischen Fotokünstlerin Gauri Gill setzt das Museum Tinguely in Basel vom 13. Juni bis 1. November 2018 die Reihe von Ausstellungen im Vorraum des 2017 neu installierten «Mengele-Totentanzes» fort. Gauri Gill, 1970 in Chandigarh geboren und in New Dehli sowie in den USA ausgebildet, begann 1999 den indischen Bundesstaat Rajasthan im Nordwesten des Subkontinents zu bereisen. Das Gebiet, das fast so gross ist wie die Bundesrepublik Deutschland, wird von rund 67 Millionen Menschen bewohnt. Besonders der an Pakistan grenzende, von der Thar-Wüste geprägte Landstrich ist nach offiziellen Angaben «relativ unfruchtbar und trocken». Die Bewohner betreiben Landwirtschaft so gut es der karge Boden zulässt. Die Zahl der Analphabeten ist überdurchschnittlich hoch; im ganzen Gliedstaat kann ein Drittel der Erwachsenen nicht lesen und schreiben. Gauri Gill ärgerte sich auf ihrer ersten Reise zwar über die Rückständigkeit der Gesellschaft, wo sie Lehrer beim Prügeln ihrer Schüler zusehen musste, aber sie war auch fasziniert vom Stolz und von der Stärke der einfachen Menschen, vor allem der Frauen, unter denen sie bald Freundinnen gewann. Indem sie mit und bei den Bewohnern lebte, lernte sie das harte Leben aus eigener Anschauung kennen. Und schon bei ihrem zweiten Besuch begann sie, den Existenzkampf dieser teils sesshaften, teils nomadisierenden Bauernfamilien zu dokumentieren. Aus den «Notes from the Desert», wie sie das Archiv von mittlerweile 40’000 Fotos nennt, stellt die Künstlerin thematische Portfolios zusammen. Die 17 jetzt im Vorraum zu Tinguelys «Mengele Totentanz» von 1986 ausgestellten Werke gehören zur Serie «Traces». Sie dokumentieren individuelle, mit den ganz bescheidenen, in der Natur vorhandenen Mitteln gestaltete Grabstätten in der Wüste, welche die Fotografin mit Verwandten Freunden der Verstorbenen besuchen durfte. Nur wenige – muslimische – Gräber sind mit einem Grabstein und einer Inschrift versehen. Die Mehrheit sind simple – oft in runder Form angelegte – Erinnerungsorte an junge und alte Menschen. Viele der Gräber sind nur den Angehörigen vertraut, weil sie dort Gegenstände deponierten,
Installationsansicht schmal
die an die Toten erinnern – sei es, weil sie ihnen besonders lieb, oder sei es, weil sie ihnen ein Leben lang von Nutzen waren. Es ist absehbar, dass die Gedenkstätten, die Wind und Wetter ausgesetzt sind, mit der Zeit verschwinden oder nicht mehr gefunden werden. Als Kontrapunkt zu diesem gänzlich unsentimentalen Totentanz setzt Gauri Gill acht Bilder aus der «Birth Series», Dokumente einer Hausgeburt in einer einfachen Lehmhütte. Die engagierte Feministin und erfahrene Hebamme Kasumbi Dai wollte der Fotografin zeigen, wie sie in dem abgelegenen Dorf Ghafan in der Provinz Motasar hygienisch fortschrittliche Methoden anwendet. Sie brachte eine Kunststoff-Plane und sterile Instrumente mit. Aber die Gebärende, die Enkelin der Geburtshelferin, lehnte das neumodische Zeug ab und gebar ihr Kind nach traditioneller Art, halb sitzend in eine zwischen ihren Beinen aus dem Lehmboden gebuddelte Kuhle, wo das Neugeborene auch abgenabelt wurde. Geburt und Tod, zeigt die Ausstellung auf eindrückliche Weise, gehören zusammen – nicht nur bei den armen Bauern im indischen Gliedstaat Rajasthan.

Illustrationen aus der Ausstellung: ©2018, Jürg Bürgi, Basel.

Stephen Cripps im Museum Tinguely

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Der Brite Stephen Cripps (1952-1982) gehört zu den Künstlern, die hierzulande bisher nur Spezialisten bekannt waren. Das hat zum einen damit zu tun, dass er sehr früh (an einer Überdosis Methadon) gestorben ist, und zum andern, dass seine weit gespannten Interessen – Performance, Musik, Film, bildende Kunst – vor allem in Konzepten, Zeichnungen und Collagen sowie in meist wenig ausführlich dokumentierten Happenings ihren Niederschlag fanden. So entwarf er einen mechanischen Garten, der unter anderem mit Gummi-Enten auf einem Fliessband und explodierenden Vogelscheuchen aufwarten sollte. Eine andere «Maschinen-Performance» bestand darin, dass ein Helikopterrotor einen Galerieraum attackierte und sich gleichzeitig selbst zerlegte. Und in dem Projekt «Shooting Gallery» wurde das Publikum angehalten, mit einer modifizierten Pistole auf Musikinstrumente – Becken, Xylophon – zu schiessen. In seinen pyrotechnischen Werken waren die Schalleffekte der Detonationen ebenso wichtig wie Feuer und Rauch. In der thematisch arrangierten Ausstellung im Museum Tinguely zeigt Kuratorin Sandra Beate Reimann vom 27. Januar bis 1. Mai 2017 in Zusammenarbeit mit dem Henry Moore Institute in Leeds erstmals auch, wie sich Cripps’ bisher unveröffentlichte Klangkompositionen anhören. Er setzte dabei quietschende Türen ein und liess sich von allerlei Lärmquellen – Düsentriebwerke, Rasenmähermotoren – inspirieren. Die über 200, zumeist aus dem Nachlass stammenden Arbeiten, die jetzt in Basel zum ersten Mal zu sehen und zu hören sind, belegen eine entfesselte künstlerische Fantasie, die schon zur Zeit ihrer Konzeption alle Grenzen sprengte, und heute aus Sicherheitsgründen keine Chance zur Realisierung erhielte. Jean Tinguelys Maschinenskulpturen und vor allem seine Zerstörungsaktionen entfalteten für Cripps eine starke, vorbildhafte Wirkung. Die überaus sehenswerte Retrospektive ist alles andere als eine im Schnellgang zu konsumierende Kunstschau. Sie verlangt von den Besuchenden vielmehr Geduld und Phantasie und vor allem die Bereitschaft, die Exponate aus der Nähe zu betrachten. Wer sich darauf einlässt, wird ein künstlerisches Universum ganz eigener Art kennen lernen.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
gibt es hier.

Zur Ausstellung erschien – in je einer deutschen und englischen Version – ein sehr ansprechend gestalteter Katalog mit Beiträgen der Kuratorin und weiterer sachkundiger Kenner von Cripps und der britischen Kunstszene der 1970er-Jahre. Als erste umfassende wissenschaftliche Veröffentlichung zum Werk des Künstlers ist die Publikation das Referenzwerk für die weitere Erforschung von Cripps’ Œuvre.
Sandra Beate Reimann (Hrsg. für das Museum Tinguely): Stephen Cripps – Performing Machines. Wien 2017 (VfmK Verlag für moderne Kunst GmbH), 192 Seiten, CHF 48.00, €38.00

Michael Landy im Museum Tinguely Basel

Michael Landy, 1963 in London geboren, aufgewachsen und ausgebildet, erhält vom 8. Juni bis zum 25. September 2016 Gelegenheit, sein ganzes bisheriges künstlerisches Schaffen im Museum Tinguely in Basel zu präsentieren. Sein sagenhafter Akt der Selbstentäusserung, mit dem er 2001 unter dem Titel «Break Down» seine 7227 damaligen Besitztümer mit Unterstützung von zehn Helfern zuerst inventarisierte und dann zerstörte – und dem wir 2010 anlässlich der Ausstellung «Under Destruction» am
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gleichen Ort den «Pokal im Wettbewerb um die radikalste Aktion im Kampf zwischen Sein und Haben» zuerkannten – ist in der aktuellen Schau zwar weiterhin zentral präsent, er bildet jedoch nur eine von zahlreichen wohl durchdachten Manifestationen, mit denen sich Landy gegen die existenziellen Herausforderungen einer ungerechten Welt auflehnt. «DerAusstellungstitel ‹Out of Oder› und seine unterschiedlichen Bedeutungen», schreibt Museumsdirektor Roger Wetzel in der Einleitung zum Katalog, «konterkarieren ein Grundprinzip westlicher Konsumgesellschaften. Innovation und Erneuerungen stehen (geplanter) Obsoleszenz und dem Verschleiss durch Gebrauch (und Nicht-Gebrauch) gegenüber.» Verschlissen werden längst nicht nur Gegenstände, obsolet werden auch Menschen – wie Landy es am Beispiel seines, durch einen Arbeitsunfall invalid gewordenen Vaters eindrücklich darstellt. 1995 erfand er mit der Aktion «Scrapheap Services» eine allgemein gültige Metapher für diese organisierte Missachtung der Menschenwürde, indem er eine Putzequipe tausende von Papierfigürchen zusammenkehren und einen Teil dieser Fetzenhaufen zur Erinnerung in einem Glaszylinder aufspiessen liess. Auch an zahlreichen anderen Stellen der Ausstellung zeigt sich, mit wie viel Witz der Künstler seine Botschaften vermittelt. Gewiss: Es ist immer ein bissiger Humor, der uns hier begegnet – und den man in Basel besonders zu schätzen weiss. Das führt auf direktem Weg zu Jean Tinguely, als dessen grosser Bewunderer sich Landy erweist. Als junger Mann faszinierte ihn 1982 die spontane Bereitschaft der Besucher, bei der One-Man-Show in der Tate-Gallery mit den Maschinen zu spielen. Und später befasste er sich intensiv mit Tinguelys legendärem Zerstörungsspektakel «Homage à New York»: Er suchte Überbleibsel der Aktion von 1960; er befragte Zeitzeugen, und er versuchte eine Rekonstruktion des Ereignisses. Wie sich auf dem als Gang zwischen leeren Marktständen inszenierten Parcours zeigt, interessierte sich Michael Landy in den letzten Jahren auch für Heilige und andere fromme Menschen, deren legendäres Leben durch ihr dramatisches Scheitern geprägt war. Anlass dazu gab ihm die Konfrontation mit Gemälden aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die er 2010 bis 2013 als «Artist in Residence» in der Londoner «National Gallery» täglich um sich hatte. Es entstanden zahlreiche Gemälde und überlebensgrosse, zum Teil motorisierte Skulpturen. Insgesamt beeindruckt die von Andres Pardey und Michael Landy gemeinsam kuratierte Ausstellung «Out of Order» als wohl durchdachte, mit Witz, Intelligenz und grosser Sorgfalt gestaltete Werkschau. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier zur verfügung.

Andres Pardey (Hrsg, für das Museum Tinguely, Basel): Michael Landy. Out of Order. Basel/Heidelberg 2016 (Museum Tinguely/Kehrer Verlag). 240 Seiten, CHF 48.00. Der Katalog erschien in einer deutschen und einer englischen Ausgabe.

Illustration © Jürg Bürgi 2016

Das Museum Tinguely zeigt eine Kunstgeschichte des Tastsinns

Wie schon vor einem Jahr, in der Ausstellung, die sich unter dem Titel «Belle Haleine» dem Geruchssinn widmete, ist Marcel Duchamp auch beim zweiten Versuch des Museums Tinguely in Basel, künstlerische Manifestationen eines der fünf menschlichen Sinne vorzuführen, der Titelgeber. «Prière de toucher» hiess 1947 der Katalog seiner grossen Pariser Surrealisten-Präsentation, der mit einer Schaumstoff-Brust dekoriert war, und «Prière de toucher» ist jetzt der Titel der von Roland Wetzel kuratierten Schau, die in 22 Räumen rund 220 Kunstwerke von 70 Künstlerinnen und Künstlern präsentiert.
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Der überaus abwechslungsreich angelegte Parcours hält ähnlich einer Wundertüte mehrfach Überraschungen bereit. Er beginnt und endet zum Beispiel mit zwei Filmen über die haptischen Erfahrungen von Blinden beim Berühren und «Begreifen» eines Elefanten und beim Malen mit den Händen. Thematisiert werden religiöse Berührungsrituale (Kuratorin: Eva Dietrich) ebenso wie die Darstellung des Tastsinns in allegorischen Darstellungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert (Kuratorin: Lisa Anette Ahlers). Auch wenn die Möglichkeit, Kunstwerke zu berühren, in einem Museum erwartungsgemäss beschränkt sind, erhalten die Besucher durchaus Gelegenheit, einzelne Objekte ausgiebig zu begreifen. In Zusammenarbeit mit der Skulpturhalle stehen Gipsabgüsse antiker Plastiken aus vier Jahrhunderten zum Anfassen mit verbundenen Augen bereit, um ihre Entwicklung von der schematisierten bis zur naturalistischen Darstellung zu erfahren. Selbstverständlich sind auch die aus der Kunstgeschichte der Moderne bekannten Objekte zum Thema zu sehen – von Yves Kleins «Anthropométrie sans titre» mit den Ganzkörperabdrücken von drei weiblichen Aktmodellen, die er 1960 mit seiner patentierten Farbe «International Klein Blue» bemalt hatte, bis zu Marinettis Tastrelief «Sudan-Paris» von 1920, das als praktische Anwendung seines futuristischen Manifests des Taktilismus zu verstehen ist. Insgesamt summiert sich die Schau zu einem eindrücklichen Panorama, das die Vielfalt künstlerischer Auseinandersetzung mit dem menschlichen Tastsinn mit grosser Intensität abbildet. Es ist deshalb ratsam, den Museumsbesuch als anspruchsvolles Entdeckungsabenteuer zu verstehen und sich dafür genügend Zeit zu nehmen.

An Stelle eines Katalogs erschien zur Ausstellung eine 24-seitige Broschüre als Sondernummer der «Weltkunst». Die Beiträge zu einem am 8. und 9. April geplanten Symposium werden später in einer separaten Publikation erscheinen.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung steht
hier.

Maria Netter: Augenzeugin der Moderne

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Die Journalistin Maria Netter (1917-1982) war in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine der einflussreichsten Kunstkritikerinnen der Schweiz. Dass sie auch eine ausgezeichnete Fotografin war, zeugt im Museum Tinguely vom 28. Oktober 2015 bis 7. Februar 2016 eine von Annja Müller-Alsbach sorgfältig gestaltete Ausstellung von über 100 Foto-Reproduktionen mit informativen Texttafeln. In Berlin geboren, kam Maria Netter 1936 zum Studium der Theologie und später der Kunstgeschichte nach Basel, wo sie, nicht nur in der Kunstszene eng vernetzt, ein Leben lang blieb. Nach der Promotion bei Joseph Gantner (Dissertation: «Die Postille des Nikolaus von Lyra in ihrer Wirkung auf die Bibelillustration des 15. und 16. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der ‹Icones› Hans Holbeins d.J.») arbeitete sie anderthalb Jahre als Assistentin des Kunstmuseum-Direktors Georg Schmidt und gleiste ihre Karriere als Kunstjournalistin auf. Sie schrieb zuerst für die «Basler Nachrichten», seit 1943 hauptsächlich für die «National-Zeitung», die «Luzerner Neusten Nachrichten», das «St. Galler Tagblatt» und «Die Tat». Später wurde sie als regelmässige Mitarbeiterin des Architekten- und Werkbund-Organs «Werk» beim Fachpublikum zu einer landesweit beachteten progressiven Stimme. Auch die Fachpublikationen «Graphis» und die «Schweizerische Finanzzeitung» boten ihr eine Plattform, ebenso wie die «Die Weltwoche» und die «Schweizerischen Monatshefte». Ihr sicheres und eigenständiges Urteil, ihr ungeheurer Fleiss und ihre Hartnäckigkeit machten es Maria Netter möglich, sich in der von Männern dominierten ersten Liga der helvetischen Kunstkritik einen der vordersten Plätze zu sichern. Das Fotografieren, das sie sich selbst beibrachte, integrierte sie schon früh in ihre Arbeit. Ihre Kleinbild-Leica M3 mit dem lichtstarken Objektiv, das auch Innenaufnahmen ohne Blitz möglich machte, war immer dabei. So wurde sie auch bildmässig zur Augenzeugin der Moderne. Sie dokumentierte Ausstellungen und Atelierbesuche und porträtierte viele der Künstler, über die sie schrieb. Mit dem Rückblick auf die Kunstjournalistin Maria Netter ergänzt das Museum Tinguely seine Reihe mit Arbeiten von Künstler-Fotografen und -Fotografinnen. Sie begann im Frühjahr 2012 mit den Bildern der Baslerin Vera Isler (1931-2015) und setzte sich ein Jahr später mit einer Präsentation der Werke des holländischen Kurators Ad Petersen fort. Von Maria Netter wurden die Exponate aus über 20’000 Aufnahmen ausgewählt, die nach ihrem Tod der Schweizerischen Stiftung für Photographie übergeben wurden. Seit 2014 befindet sich der Nachlass als Dauerleihgabe der Winterthurer Fotostiftung Schweiz beim Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) in Zürich.

Die Publikation «Augenzeugin der Moderne 1945-1975. Maria Netter, Kunstkritikerin und Fotografin» von Bettina von Meyenburg und Rudolf Koella ist im Verlag Schwabe in Basel erschienen, 276 Seiten CHF 48.00.

Eine Besprechung des Buches
folgt demnächst hier.

Illustration: Maria Netter fotografiert sich 1960 im Spiegel © Maria Netter/SIK-ISEA, Zürich/Courtesy Fotostiftung Schweiz

Ben Vautier im Museum Tinguely Basel

Bei seinen Landsleuten machte sich Ben Vautier (*1935) durch ein Missverständnis bekannt, als er 1992 am Eingang des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung in Sevilla das Schrift-Bild «La Suisse n’existe pas» anbrachte. Er wollte damit sagen, dass es DIE Schweiz, einen einheitlichen, stromlinienförmigen Schweiz-Eintopf nicht gebe, dass vielmehr die Diversität des Landes seine Existenz bestimmt. Damals, im Jahr nach dem Kulturboykott aus Anlass der mit künstlichem Patriotismus aufgeladenen 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft, nahm die Öffentlichkeit Vautiers Spruch als Nestbeschmutzung wahr. Heute können wohl auch jene, die sich damals empörten, die Sache entspannter sehen und Ben Vautier als vielseitigen, ernsthaften Künstler anerkennen. Die grosse Retrospektive, die das Museum Tinguely in Basel vom 21.10.2015 bis zum 22.1.2016 dem
La Mort est simple
80-jährigen ausrichtet, bietet Gelegenheit dazu. Die von Andres Pardey und Alice Wilke kuratierte Rückschau stellt den Fokus auf die ersten 20 Jahre von Vautiers Schaffen ein und der Künstler selbst, der den zweiten Teil einrichtete, weitet ihn in über 30 Kojen bis in die Gegenwart aus. Dabei wird deutlich, dass das Werk keineswegs auf witzige und träf formulierte Schrifttafeln reduziert werden darf. Er begann mit Malereien, wobei ihn, wie in der Ausstellung unübersehbar, besonders «Bananen» faszinierten, und als er seine ersten Schriftbilder malte, war noch lange nicht klar, dass dies sein bevorzugtes Medium würde. Denn als Mitglied der «École de Nice» und als Fluxus-Pionier, trat er ab 1959 vor allem mit typischen Happenings auf, die er «gestes» nannte. Die Nähe zu den Nouveaux Réalistes, denen er nicht zugehörig war, ist unübersehbar. Kein Zufall, dass er Daniel Spoerri und Jean Tinguely neben den Freunden aus Nizza, Arman, Yves Klein und Martial Raysse besonders schätzt. Die mit über 400 Exponaten fröhlich schrankenlose Ausstellung im Museum Tinguely darf für sich in Anspruch nehmen, das Publikum in umfassender Weise mit Ben Vautiers Universum bekannt zu machen, einem Universum, in dem es ebenso um Kunst wie um Freiheit und Mut geht – drei Begriffe, die für Ben wie kommunizierende Röhren funktionieren.

Zur Ausstellung erscheint – in deutscher und englischer Fassung – ein umfangreicher, reich illustrierter Katalog mit aktuellen Texten von Ben Vautier, Margret Schavemaker, Andres Pardey, Roland Wetzel und Alice Wilke, sowie von historischen Beiträgen verschiedener Wegbegleiter Ben Vautiers. Andres Pardey für das Museum Tinguely (Hrsg.): Ben Vautier – Ist alles Kunst? Basel (Museum Tinguely)/Heidelberg und Berlin (Kehrer Verlag) 2015. 256 Seiten, CHF 52.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs findet sich
hier.

Duft der Kunst im Museum Tinguely

36 Künstlerinnen und Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts und ein halbes Dutzend Kollegen aus der Zeit des Barock schufen das Material, das vom 11. Februar bis zum 17. Mai 2015 im Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «Belle Haleine», den «Duft der Kunst» verbreitet. Es sei die erste Ausstellung einer geplanten Reihe über die menschlichen Sinne, erklärte Museumsdirektor Roland Wetzel in seiner Einführung. Und der Start ist, wie ein erster Rundgang zeigt, trotz der Schwierigkeit, olfaktorische Reize und visuelle Effekte zu Kunstwerken zu vereinen, fulminant gelungen. Dies ist wohl in erster Linie dem Mut der Kuratorin Annja Müller-Alsbach zu verdanken, die Schau nicht künstlich einem Oberthema unterzuordnen, sondern die Kunstwerke lediglich
Nase
lose zu gruppieren. So gibt es eine Werkgruppe, die dem menschlichen Körper und seinen Ausdünstungen gewidmet ist, eine andere befasst sich mit der Kommerzialisierung der Düfte und eine dritte mit den Gerüchen der Natur. Die Fülle der Variationen ist überwältigend überraschend. Sie beginnt mit Duftbildern aus dem Barock, demonstriert an Beispielen – Duchamps Glasphiole mit «Air de Paris» oder Jean Tinguelys mit Abgas- und Maiglöckchenduft gefüllter Ballon, den er 1959 auf der ersten Pariser Biennale zum Getöse seiner «Méta-Matic Nr. 17» platzen liess – die lange Tradition olfaktorischer Kreativität. Wie man mit Düften manipulatorisch wirkt, zeigt etwa die gemeinsam von Carsten Höller und François Roche erfundene «Hypothèse de grue» – ein Spiel mit dem Wortfeld zwischen Kran und Schnepfe (Dirne): Eine Nebelmaschine stösst den Sexuallockstoff Pheromon aus und dazu weitere nicht deklarierte Neurostimulanzien und macht die ahnungslosen Betrachtenden zu Versuchskaninchen. Wie sich im Bereich der Gerüche Kunst und Wissenschaft, Inspiration und Rationalität verbinden, ist sehr eindrücklich in der Arbeit «The Fear of Smell – the Smell of Fear» der norwegischen Künstlerin Sessel Tolaas zu sehen. Die Arbeit basiert auf einer wissenschaftlichen Studie, welche die Ausdünstungen von Phobikern erforschte. Die Duftmoleküle wurden analysiert und anschliessend synthetisiert und mikroinkapsuliert, sodass die Künstlerin damit die Wände imprägnieren konnte, und die Betrachtenden nun da und dort eine Nase voll nehmen können.

Zur Ausstellung erschien an Stelle eines Katalogs eine 24-seitige Broschüre. Die Beiträge zu einem am 17. und 18. April geplanten Symposium werden später in einer separaten Publikation erscheinen.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung ist
hier zu finden.

Zehn Künstler und Tinguelys Geist

Als Jean Tinguely 1955 seine erste Zeichenmaschine baute, war er 30 Jahre alt. Die elf Künstlerinnen und Künstler, die 2009 auf eine Ausschreibung der Amsterdamer «Métamatic Research Initiative» (MRI) antworteten, sich aus heutiger Sicht mit Jean Tinguelys «Méta-Matics» zu beschäftigen, sind um einiges älter als der junge Basler damals und auch um einiges erfahrener. Die Beiträge, die Maria Abramović, Ranjit Bhatnagar, John Bock, Olaf Breuning, Thomas Hirschhorn, Aleksandra Hirszfeld, Jon Kessler, das Künstlerpaar Aparna Rao und Søren Pors, João Simões sowie Brigitte Zieger vom 23. Oktober 2013 bis 26. Januar 2014 im Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «METAMATIC Reloaded» (Kuratoren Andres Pardey und Siebe Tettero) zeigen, nehmen in unterschiedlicher Weise Bezug auf den Ansatz Tinguelys, Maschinen unter tätiger Mithilfe des Publikums Kunst produzieren zu lassen. Vier – allen voran die Performance-Meisterin Abramović, aber auch Ranjit Bhatnagar,
Jon Kessler sowie Aleksandra Hirszfeld – setzen auf die aktive Mitwirkung der Ausstellungsbesucher. Aber auch die Arbeiten der andern zielen darauf, die Betrachtenden einzubeziehen – sei es, dass sie das Geschehen beeinflussen, sei es, dass sie durch ihre Anwesenheit eine Installation erst vollständig machen, wie in Thomas Hirschhorns begehbarem «Diachronic-Pool». Andere spielen mit Zufälligkeiten und lassen aus raffinierten technischen Installationen Neues, Unerwartetes entstehen. Ein erster Durchgang durch die Schau ergibt den Eindruck grosser Diversität. Angesichts der heute jederzeit verfügbaren technischen Mittel ist das allerdings nicht überraschend. Es ist müssig zu behaupten, Tinguely und die andern Teilnehmenden der sagenhaften Präsentation «Le Mouvement» in der Galerie Denise René von 1955 seien die «echteren» Innovatoren gewesen. Denn damals war es bedeutend einfacher, das Publikum zu überraschen als heute, wo scheinbar alles möglich und alles schon dagewesen ist. Am meisten verblüfft hat uns Brigitte Zieglers «Shooting Wallpaper», eine biedermeierliche Tapeten-Projektion, die plötzlich lebendig wird. Mehr darüber und über alle andern Werke in einer ausführlichen Besprechung der Ausstellung und des Katalogs hier.

Katalog: Andres Pardey (Hrsg.). Métamatic Reloaded. (Beiträge von Michael Herer, Gianni Jetzer, Jitisdh Kallatr, Brian Kerstetter, Pamela M. Lee, Andres Pardey, Bénédicte Ramade, Julia Robinson, Andreas Schlaegel, Siebe Tettero, Ben Valentine, Roland Wetzel). Heidelberg 2013 (Kehrer Verlag), 240 Seiten, Deutsch-englische Ausgabe, CHF 42.00 im Museumsshop.
Illustration: Aleksandra Hirszfeld «Information Absorber» (Detail). © Aleksandra Hirszfeld, Foto Agata Kawecka

Tinguely@Tinguely: Ein schöner Moment

20 Jahre nach Jean Tinguelys Tod und 16 Jahre nach Eröffnung des Museums Tinguely in Basel erscheint ein neuer Sammlungskatalog, der die forschende, dokumentierende und restauratorische Museumsarbeit umfassend widerspiegelt und allen, die den grossen Innovator und Anreger des Kunstbetriebs schätzen, eine Fülle von Material zur Verfügung stelltn. Anders als gewöhnlich, wo ein Katalog eine Ausstellung begleitet und Auskunft über die Absichten der Kuratoren gibt, reflektiert jetzt fast ein Jahr lang, vom 6. November 2012 bis zum 30. September 2013, eine Ausstellung die Bestandsaufnahme der Autorinnen und Autoren. Zwar dominieren die spektakulären Maschinen-Skulpturen auch die Schau «Tinguely@Tinguely», doch die weniger grossformatigen Werke erhalten deutlich mehr Gewicht als gewöhnlich. Das Frühwerk mit seinen feinen, mobilen Reliefs findet auf der Galerie den Raum, der ihm als Beleg von Tinguelys ungestümer Innovationskraft zusteht. Und im zweiten Stock haben die tönenden Skulpturen einen fulminanten Auftritt. Im Untergeschoss findet Tinguelys Begeisterung für Autorennen seinen Ausdruck und seine vielfältigen Kollaborationen mit anderen Künstlern. Hier zeigt sich zudem, wie konsequent er den Zeichenstift einsetzte – nicht nur, um mit der gesamten Kunstszene zu kommunizieren, sondern auch um Ideen festzuhalten und sie planmässig umzusetzen. Auch die imposanten, wenn auch flüchtigen Happenings – von «Homage to New York» (1960) über «Study for an End of The World No.2» (1962) und «La Vittoria» (1970) bis zum «Mémorial Jo Siffert» (1981) – werden gebührend gefeiert. Der rote Qualm des Weltuntergangs in der Wüste von Nevada, dampft sogar über den Katalog-Umschlag, was die Autorinnen und Autoren als Statement verstanden wissen wollen: Man soll Jean Tinguely nicht als harmlosen Kunst-Gewerbler in Erinnerung behalten, als den er sich gegen Ende seines Lebens manchmal wohl selbst missverstand. Es sei «ein schöner Moment», sagte Direktor Roland Wetzel, Tinguely erstmals nach der Eröffnungsschau wieder die ganzen 3000 Quadratmeter des Museums zur Verfügung zu stellen. Damals, vor 16 Jahren, waren im Neubau drei Viertel der Exponate nur als Leihgaben präsent. Jetzt sind nur drei Werke nicht im Besitz der eigenen Sammlung! Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des neuen Katalogs steht hier.

Andres Pardey (Hg.): Museum Tinguely Basel. Die Sammlung. Basel/Heidelberg 2012 (Museum Tinguely/Verlag Kehrer) 552 Seiten CHF 58.00 (Deutsche Ausgabe). Im Januar 2013 folgen eine englische und eine französische Ausgabe.